Folge deinen Interessen – Das Enteignungsverfahren von Twitter, Facebook

von Kusanowsky

Ruft man die Startseit von Twitter auf, so wird man mit einer bemerkenswerten Aufforderung konfrontiert: „Folge deinen Interessen“ (Stand: Mai 2011). Noch interessanter ist aber, dass dieser Imperativ nirgendwo auf Skepsis stößt. Denn wenigstens dürfte man damit Anlass zum Nachdenken darüber finden, dass sich in dem Augenblick, wo man aufgefordert wird Dinge zu tun, die man bislang ohnehin nicht lassen konnte, die Welt ändert. Denken wir zum Vergleich an die Auffoderung: Fang an zu atmen! Beginne mit Stoffwechsel! Oder: Mache die Augen auf! Denn wie könnte ich diesen Satz mit geschlossenen Augen lesen? Wird man aber dazu aufgefordert, die unverzichtbare Bedingung jeder Anschlussoperation als zu entdeckendes Resultat dieser Anschlussoperation zu betrachten, dann sollte man, wenn nicht schon Alarmstufe Rot, so doch zumindest wachsam aufmerken und fragen, auf welche Verkehrung eines Beobachtungsverhältnisses man sich einlässt, wenn man diesem Imperativ folgen möchte. Man könnte dies als Gedankenexperiment auch umkehren und versuchen der gegenteiligen Aufforderung zu folgen: Ignoriere deine Interessen! Und die Frage wäre in beidenFällen: geht das überhaupt?

If you’re not paying for something, you’re not the customer; you’re the product being sold (*)

Keiner glaubt daran, dass Twitter und Facebook von Selbstlosigkeit angetrieben werden, auch ist das Geschäftskonzept von Mark Zuckerberg weltweit bekannt, wenngleich seine Auswirkungen erst noch in Erfahrung gebracht werden müssen, aber dennoch scheint eine vordergründig banale Weisheit nicht mit gleicher Selbstverständlichkeit auf Akzeptanz zu stößen, welche lauten könnte: ein Algorithmus ist keine Hexerei. Denn wer hätte je des Hexenwerk der Kommunikation vollständig durchschaut?
Fangen wir, um die Funktionsweise des Hexenwerkes grob zu umzirkeln, mit dieser Überlegung an: alle deine Klicks und Postings, also alle Spuren, die du bei der Verfolgung „deiner Interessen“ bei Twitter und Facebook hinterlässt, werden von einem Orwellschen Beobachter aufgezeichnet und von einem Algorithmus ausgewertet um dir punktgenau durch Werbung, aber auch durch Seiten- und Kontaktvorschläge solche Interessensangebote zu unterbreiten, die durch die Verfolgung „deiner Interessen“ entstehen. Soweit ist das alles wenig bemerkenswert, solange die Ausgangsbedingungen für die Herkunft und Ausgestaltung „deiner Interessen“ nicht allein von der Benutzung von Twitter und Facebook abängig ist, sondern hauptsächlich von der Welt da draußen, in deren Mannigfaltigkeit Facebook und Twitter nur einzelne Elemente darstellen. Wir schauen Fernsehen, lesen Bücher, reden mit Leuten im Büro, zuhause, in der Kneipe und zur Abwechslung loggen wir uns ein (oder aus). Und man ahnt schon, was passieren könnte, wenn der Lebensvollzug davon abhängig wird, eingeloggt zu bleiben. Telefon, Navigation, Einkaufen, Freizeit, Anstrengung und Müßgiggang – alles erfordert ein mobiles Gerät zur Anschlussfindung, weil es bald anders nicht mehr geht. Das ist weder eine Hoffnung noch eine Furcht, sondern der wahrscheinliche Fortgang aller auf Technikgebrauch sich stützenden Kommunikation seit der Erfindung des Buchdrucks; und also auch nicht weiter problematisch.
Das Problem ist die Frage nach der Entwicklung einer sozialen Urteilsbildung. Der gegenwärtige Ausgangspunkt für die Beurteilung sozialer Zusammenhänge besagt – einfach zusammengefasst – dass ein jeder Mensch seine Interesse durch Bildung und Information, durch Reflexion und Orientierung bildet und welche damit, da dieser Interessensbildungsprozess auf Rechten basiert, die jeder Mensch legitim in Anspruch nehmen darf, gegen andere Interessen gestellt werden können. So erklärt sich gemeinhin die Fortsetzung aller Kommunikation: es seien menschliche Interessen die ursächlichen Gründe dafür, weshalb die Kommunikation weiter geht, weshalb, wenn Interessen prinzipiell als menschengemachte Antriebsmuster legitim sind, die Folgewirkungen von Menschen verantwortet werden müssen. Was wir so selbstverständlich an- und hinnehmen ist das Ergebnis eines langen sozialen Erfahrungsbildungsprozesses, der sich zuerst ablöste von der Vorstellung, alles sei auf Gottes Willen zurechenbar und schließlich auch, nachdem die bürgerliche Gelehrsamkeit eine Monopol auf Weltverstehen durchsetzen konnte, alles läge irgendwie in der menschlichen Natur begründet. Beides hat sich abgenutzt und sich schließlich auf die Verfolgung von Interessen verlegt, die man seit Habermas als das Ergebnis eines kausalen, aber nicht determinierten Wechselververhältnisses zwischen Individuum und Gesellschaft beschreibt. Insbesondere die Anerkennung von Interessen als Fortsetzungsbedingung lässt ja zu, dass sie sich ändern könnten, womit der Hoffnung Ausdruck verliehen werden konnte, dass bessere, aufgeklärte, vernünftigere Sichtweisen es möglich machen, dass Menschen sich ändern und damit auch die Fortsetzungsbedingungen von Gesellschaft. Auf die Anerkennnung von Interessen richtete sich fortan eine Fortschrittshoffnung, die immer schon an Welt- und Menschenverbesserung interessiert war. Es gibt keine ernstzunehmende Weltdeutungsphilosophie, die die Legitimität von Interessen leugnen würde oder könnte. Umso erstaunlicher erscheint der eingangs erwähnte Imperativ: Folge deinen Interessen! Wird hier nicht ein Recht in einen Befehl umgewandelt? Und warum? Was will der Hexenmeister damit sagen? Worauf könnte es hinaus laufen?
Womöglich geht es um eine, auch zukünftig nicht uninteressant werdende Diskussion, die die Frage nach der Willensfreiheit stellt. Die einen behaupten diese Willensfreiheit, die anderen bestreiten sie, aber keine Seite kann erklären, woher die Irrtumsmöglichkeit der jeweils anderen Seite kommt. Denn gibt es eine Willensfreiheit, dann auch die Freiheit, diese Freiheit zu leugnen, gibt es keine, so käme mindestens noch die Frage nach der Herkunft des Entscheidungsproblems auf. Wie immer so dürfte auch diese Frage – wie etwa auch die Frage nach der Beweisbarkeit Gottes – nicht kommunikativ geklärt werden, sondern wird durch Veränderung der Kommunikationsbedingungen verdrängt oder auf andere Felder verschoben.
Welcher Urteilsbildungsprozess müsste durchlaufen werden, um zu verstehen, dass Interessen, deren Herkunft und Legitimität durch ein Wechselverhältnis von Indviduum und Gesellschaft begründet wird, keineswegs der Antriebsmotor für Kommunikation sind? Denn tatsächlich könnten meine Interessen unmöglich der Antrieb für meine Interaktionen sein, da ich nicht sicher stellen kann, dass sich irgendjemand für meine Interessen interessiert. Wer das leugnet war noch nie unglücklich verliebt. Ich kann nämlich nicht machen, dass sie macht, was sie können müsste, damit sie macht, was ich will. Und sie auch nicht. Man könnte vielleicht noch behaupten, dass Gewalt, wie strukturell vermittelt auch immer, noch sicherstellt, dass man Interessen interessierbar machen kann; und es muss dabei ja nicht immer zum Schlimmsten kommen. Aber was wird, wenn auch diese Möglichkeit in einer sozialen Diabolik verschwindet, die nicht mehr zulässt, dass man noch an den Folgewirkungen schuld sein könnte? Man denke hier an das Datenschutzproblem wie es sich durch das Internet ergibt. Es reicht ja nicht zu sagen, man sei selber Schuld daran, dass man seine Daten preisgibt, wenn eben dies zum Beispiel bei der Auswahl zu Vorstellungsprächen schon zur Voraussetzung gemacht wird. Wer kann sich denn der Kommunikation entziehen, wenn dieser Entzug ein nicht mehr zu bewältigendes Lebensrisiko darstellt? Und weil letztlich die Frage nach der Schuld für die unvorhersehbaren Folgen aller Kommunikation ohnehin keine Komplexität verträgt, weil man dieses Frage dann nicht beantworten könnte, müsste der Hexenmeister einen Ausweg finden, um die Verwicklung in Kommunikation und ihren Folgen zu legtimieren ohne für mögliche Irrtümer haftbar gemacht zu werden. Ein Weg wäre, den Beteiligten, die ja immer Involvierte sind, ihre vermeintlichen Interessen zu rauben ohne sich dabei erwischen zu lassen.
Der Imperativ wäre damit ein diabolisches Angebot jenes Hexenmeisters: Mein Interesse ist, dass du deinen Interessen folgst, damit ich deinen Interessen folgen kann. Und sobald dieser Zirkel sich schließt, weil alle Komplexität der Welt erst durch Einloggen behandelbar wird, dann dürfte die Fragen, welche Interessen noch legitim sind und welche nicht, ein Fall für Archäologen werden.