Technik frisst Ersthirn

von Kusanowsky

Schon vor paar Tagen ist bei der Spackeria unter dem Titel „Technik frisst Privatsphäre“ eine Argumentation aufgetaucht, die nach der Verfahrensweise eines Gesellschaftsspiel unter Intellektuellen ein „was-wäre-wenn“-Problem konstruiert, aus dem sich Rechtfertigungen für oder gegen dieses oder jenes ableiten lassen. Die dort angeführte hypothetische Ausgangssituation lässt sich wie folgt zusammenfassen: Angenommen, alle Menschen würden mit einem vollständigen, durch ein technisches Dokumentationsverfahren unterstützten Zweithirn ihren Alltag absolvieren. Wenn dieses Zweithirn als prothesenmäßige Verlängerung des Auges und Ohres und der automatischen Protokollierung aller Geo-Koordinaten in einer Datencloud mit Zugriff auf alle Daten, die alle anderen Zweithirne in der selben Datencloud abspeichern, zum alltäglichen Normalfall würde, so könnte man daraus folgern, dass im Prinzip nichts mehr geheim halten werden könnte. Alle Ereignisse wären dokumentierbar und damit auch abrufbar, überprüfbar und transparent. Privatssphäre gäb es dann nicht mehr.

Soweit stimmt das auch, wenn man nicht beim Nachdenken darüber den Gedanken unterschlagen würde, dass diese Möglichkeit des Dokumentierens, Protokollierens, Abspeicherns und Abrufens nicht nur einem Menschen und seinem Zweithirn zu Verfügung stünde, sondern allen anderen auch. Wäre dies der Fall, so käme man in die Situation, dass alle Kommunikation, auch solche, die sich auf diese Technik stützt, nicht auf die Selektion von Information verzichten könnte. Selektion heißt: Auswahl der einen und nicht der anderen Möglichkeit, wodurch immer wieder neue Situationen entstehen, die ihrerseits, unterstützt durch dieses Zweithirn, abgespeichert und abgerufen werden können und auch dann wieder beim Abrufen auf Selektion angewiesen sind.
Das geschieht aber nicht nur von einer Stelle aus, sondern auch von einer zweiten, denn wie anders könnte die Kommunikation sich entfalten? In allen Fällen geht die Fortsetzung der Kommunikation nur durch die Selektion von Information, wodurch neue Kommunikationssituationen entstehen, die neue Selektionen erfordern, die neue Situationen schaffen, die neue Informationen erzeugen, die neue Selektionen erfordern usw.

Also zum Mitschreiben: Kommunikation ist das, was geschieht, wenn Kommunikaton weiter geht. Es gibt keine Möglichkeit (egal ob mit oder ohne Zweithirn) über Kommunikation irgendetwas zu sagen, zu schreiben, zu dokumentieren, abzuspeichern und abzurufen, wenn Kommunikation nicht weiter geht. Kommunikation findet niemals woanders und zu keinem andern Zeitpunkt statt, sondern immer nur dann und dort, wenn und wo sie geschieht. Nicht früher, nicht später, nicht besser, nicht schlechter. Kommunikation funktioniert oder funktioniert nicht. Und alle Kommunikation ist auf Selektion von Information angewiesen. Und alle soziale Selektivität lässt immer auch Anpassungsleistungen zu, Ordnung genauso wie Unordnung, Realität genauso wie Fiktion, Wahrheit genauso wie Irrtum oder Lüge zu. All das wird durch kein Zweithirn abgeschafft. Es wird weder die Bereitschaft abgeschafft, sich friedlich zu verständigen, noch wird durch diese Technik die Wahrscheinlichkeit zur Konfliktualität erhöht. Ja, auch Niedertracht und Hass werden genauso wenig abgeschafft wie Freundlichkeit, Fairness und Hilfsbereitschaft.

Denken wir uns eine Situation, in der alle Beteiligten vollständig über alles informiert wären (wie könnten sie das sein?), wenn also keine Auswahl von Information möglich wäre, dann könnte man nicht sagen, was noch zu sagen wäre, weil nämlich alles gesagt wäre. Was sollte man denn sagen, wenn jeder alles weiß? Was ja heisst, dass jeder von jedem weiß, dass jeder alles weiß.
Kommunikation muss also, damit sie weiter gehen kann, immer irgendwelche Lücken, irgendein Nichtwissen, irgendwelche Informationsdefizite erzeugen. Und nur wenn genügend Defizite entstehen können, können auch Selektionen vorgenommen werden. Denn immer, wenn man etwas sagt, kann man nur sehr wenig sagen, weil nämlich immer, wenn etwas gesagt werden kann, immer schon etwas gesagt wurde, womit immer mehr als nur eine Möglichkeit des Weitermachens entsteht. Das bedeutet, dass man immer mehr sagt als man sagen kann, weil die Kommunikation ja weiter geht, wenn sie weiter geht. Sonst nicht. Alle Selektion von Information erzeugt und löscht diese sofort. Und wenn irgendwo die Information auftaucht, dass woanders etwas gespeichert sei, dann taucht diese Information dort selbst auf, nicht woanders.

Das führt in die Kommunikationstheorie, die zu erläutern hier nicht interessant ist. Die interessante Frage ist eine andere.

An welchem Problem scheitert eigentlich dieser Streit zwischen Datenspießern und Datenhippies? Mir scheint, sie verlassen sich gegenseitig darauf, über Kommunikation eine Meinung zu haben, welche zulässig macht, dass jeder auf der anderen Seite über eine bestimmte Vernunft verfügt, die irgendwie über der Kommunkation schwebt und sich in ihr verwirklicht, gleich so als gäbe es noch eine zweite Wirklicheit: eine Wirklichkeit (möglicherweise vermittelt durch Ersthirntätigkeit), die ist wie sie ist, nämlich ideal und vernünftig und eine zweite Wirklichkeit, die davon abweichend, durch Kommunikation Irrtümer erzeugt, die durch weitere Kommunikation einer beständigen Korrektur unterzogen würde, wodurch sich ergibt, dass die falsche Meinung der anderen Seite aus der Welt geschafft werden müsste.

Man könnte das „was-wäre-wenn“-Spiel ja auch mal anders spielen: was wäre denn, wenn sich die Beteiligten einmal ihres Ersthirnes bedienten? Bei diesem Gedankenexperiment käme man auf die Erkenntnis, dass sich dann genau solche Diskussionen zeigen, um die es hier bereits geht. Es geht nämlich nicht ohne Ersthirn, und ein Zweithirn macht diese Sache deshalb noch nicht problematischer.
Es könnte dann einmal der Gedanke aufkommen, dass es vielleicht nicht an den Gehirnen liegen könnte, und dass unter diesen Bedingungen Zweithirne keine anderen Probleme machen als solche, um die es längst schon geht.