Die Banalität des Massenmediums

von Kusanowsky

Auf dem Blog eines engagierten Verschwörungstheoretikers kann man eine bemerkenswerte Aussage finden: „Die gefährlichsten Massenvernichtungswaffen sind die Massenmedien. Denn sie zerstören den Geist, die Kreativität und den Mut der Menschen, und ersetzen diese mit Angst, Misstrauen, Schuld und Selbstzweifel.“

Noch sind wir nicht so weit, uns mit den Hinterlassenschaften von Verschwörungstheorien unter diabolischen Gesichtspunkten befassen zu können, weil noch immer ein „für und wider“ von Verschwörungstheorien heißer diskutiert werden kann als die Bedingungen ihrer Möglichkeit. Achtet man aber darauf, wie lau die Flamme der Geringschätzung inzwischen geworden ist, so dürfte es nicht mehr allzu lange dauern, bis das Gespräch um Verschwörungstheorien wieder interessant werden kann. Dies dürfte dann der Fall sein, wenn man versteht, dass Verschwörungstheorien als Ergebnis der sogenannten „Europäischen Aufklärung“ entstanden sind, das heißt, dass sie unter den selben Bedingungen anschlussfähig werden konnten wie die Newtonsche Physik, die Kantische Transzendentalphilosophie oder die Schleiermachersche Theologie. Verschwörungstheorien sind nicht etwa die Kehrseite der Aufklärung, nicht etwa nur ihr unerwünschtes, falsches Gegenstück, sondern sie fungieren als diabolisch komplementäre Vervollständigung einer Weltbetrachtung, die Beweisbarkeit, Erklärbarkeit, Durchschaubarkeit und Beherrschbarkeit utopisch in Aussicht stellen konnte, ohne an dem beständigen Scheitern solcher Ansprüche zu scheitern.
Verbreitungsmedien, die durch ihre Mechanismen die Empirieform der Gesellschaft erzeugen, erzeugen zugleich immer die Reproduktion der Strukturen dieser Gesellschaft, indem sie nämlich eine diabolische Doppelgesichtigkeit annehmen müssen, die im Laufe des Aufklärungsprozesses niemals unerkannt blieb. Gemeint ist die Fähigkeit, Strukturen zu enthüllen und zu verheimlichen, Rationalität und Fantasie gleichermaßen sanktionieren zu können; Realität durchschaubar und unberechenbar zu machen. Bemerken kann man dies nicht erst in den Schriften Schlegels zur Kritik an der Aufklärung, die deutlich zeigten, dass schon im 18. Jahrundert die Empirieform nicht mehr nur einseitig verwendet werden konnte. Die Empirieform lässt immer beides zu, Wahrheit wie Irrtum, einer der entscheidenden Einwände Kants gegen den kontinentalen Dogmatismus des 17. Jahrunderts, der das „Licht der der Erkenntnis“ wie bei Descartes immer nur auf einen göttlichen Ursprung, allen Irrtum aber auf menschliches Unvermögen zurechnete.
Wahrheit und Irrtum – beide sind das Vermögen derjenigen Form der Empirie, durch die sich die moderne Gesellschaft beschreibbar machte. Es beginnt die Zeit, dass sich daran etwas ändert, dies aber nicht eher, als bis alles zu diesen Thema gesagte nicht nur von allen gesagt wurde, sondern auf denkbar einfachste Weise durch Wiederholung erfasst werden kann. Der Weg dahin geht über die Trivialisierung.
Etwas Neues kann erst ernsthaft argumentierbar, besser: empirisch gemacht werden, wenn kaum noch einer glauben kann, dass Beweise etwas beweisen, dass Bilder Realität abbilden, dass Argumente überzeugen können. Solange aber die Dokumentform, die das Skandalon der Manipulation niemals abwerfen kann, immer noch als Einseitenform anschließbar ist, solange muss der Trivialisierungsprozess, wenn auch nicht mehr als ernstzunehmendes, aber immerhin als empirisches Hindernis mit Geduld ertragen werden. Daher das höchst Bemerkenswerte des Eingangszitats: Verschwörungstheorien müssen, um anschlussfähig zu sein, sich durch Massenmedien verbreiten können, auch dann, wenn ihnen der teuflische Charakter dieser Medien auffällt. Denn das zeigt ja, was man von Verschwörungstheorien halten kann: sie sind diabolisch bedingt wie die ganze moderne Gesellschaft überhaupt.
Mut machen kann daher die Beobachtung, dass das Internet als Massenmedium betrachtet, diesen Trivialisierungsprozess enorm beschleunigt. Aber auch die Funktionsbedingungen der Beschleunigung müssen beschleunigt reproduziert werden können, was andersherum nur heißt, dass alle Beschleunigungen im System immer von gleichzeitigen Prozessen in der verkoppelten Umwelt miterfasst werden müssen, wodurch sich eine synchronisierende Bremswirkung durch die Simultanität der Prozesse entfaltet. Das heißt: Schneller als es geht, geht es nicht. Aber wir bekommen es mit einem anderen Phänomen zu tun, das in der Vor-Internet-Zeit nur selten beobachtet werden konnte, nämlich das massenhafte Interesse an Banalitäten, die enorme Aufmerksamkeit für Argumente mit Popanz-Charakter.
Mspro hat uns in seinem Blog den Sachverhalt sozialer Realität als Entdeckung angepriesen, womit wir, wenn wir eine Empirieform der Zweiseitig ernstnehmen, festellen können, dass dieser Sachverhalt damit zugleich vernebelt wurde. Es gibt, so verkündet uns mspro, ein Verhältnis zwischen zwischen mir und dir, zwischen dem, was ich weiß und dem, was ich nicht weiß; es gibt ein Verhältnis zwischen Transparenz und Intransparenz, zwischen Latenz und Kontingenz, zwischen System und Umwelt; Verhältnisse, die auch in der Unterscheidung von Identität und Alterität als das Wissen um eine Differenz Niederschlag finden. Na sowas! Landläufig bekannt sind solche Überlegungen in dem Kinderreim: „Ich und du, Müllers Kuh, Müllers Esel, der bist du.“ Leider aber kann nach Lektüre des Blogartikels immer noch nicht behauptet werden, dass der Sachverhalt sozialer Realität nun endgültig in der Runde zur Kenntnis genommen wurde.

Woran bisher alle Soziologie gescheitert ist („Unseren Debatten fehlt es an Soziologie„), kann nicht einfach durch einen Blog-Artikel überwunden werden. Wer wollte nicht spotten, wenn man bemerkt, wie da ein Luftballon aufgeblasen wird? Es gibt soziale Realität! Der Andere ist auch dann real – und in seinen realen Möglichkeiten empirisch wirkmächtig – wenn ich von ihm nichts weiß!
Wenn auch Spott naheliegen mag, so muss man aber genauso ernsthaft in Erwägung ziehen, wie es nur kommen kann, dass solche Einsichten aufmerksamkeitssteigernd anschlussfähig sind. Und die Vermutung liegt nahe, dass dies mit dem Transaktionskosteneinsparungspotenzial zu tun hat, das durch das Internet eine Aufmerksamkeitsökonomie erzeugt, die in der Gutenberg-Galaxy so nicht beobachtet werden konnte. Das Internet ist ein Massenmedium, dessen erste Effektivitätssteigerung darin besteht, den Zugang zu Massenmedien zu vereinfachen. Es ist ein Massenmedium zweiter Ordnung: ein Simulationsmedium für Massenmedien. Das hat für die Aufmerksamkeitsökonomie eine entscheidende Auswirkung. Die Strukturen der Reproduktion von Aufmerksamkeitsstrukturen werden auf eine horizontale Ebene der Ewartbarkeit herunter gebrochen. Das konventionelle Sender-Empfänger-Modell der Massenmedien war nach seinen Selbstbeschreibungsmöglichkeiten auf eine vertikale Unterscheidung angewiesen, durch die, sagen wir, ein einzelner Anbieter von Schriften mehr Aufmerksamkeit auf sich ziehen konnte als jeder einzelne Nachfrager. Diese Asymmetrie konnte empirisch wiederum durch das selbe Massenverteilungsverfahren von Dokumenten überprüft werden. Es erschienen Experten auf einer Bühne, die besser informiert schienen als Laien, weil Agenturen, verstanden als Referenzadressen der Kapitalbindung und damit des Vertrauensgenusses, Legitimationsverfahren zur Besetzung von öffentlichen Aufmerksamkeitspotenzialen durch ihre eigenen Strukturen gegenüber Kapitalgebern nachweisbar machen konnten. Durch Nachweis von Bestsellerlisten, Hitparaden, Einschaltquoten, Auflagen, Besucherzahlen, Umsätzen konnte dasjenige Kapial reaktualisiert werden, das potenziell erwartet wurde, weil eine vertikale Unterscheidung von „besser-schlechter-informiert“ genau diejenige Aufmerksamkeit steuerte, die gebraucht wurde, um diese Aufmerksamkeit zu messen. Alles andere gab es irgendwie nicht, war Subkultur, Außenseitertum, marginal, ein Laientum von Selbstverlegern, Bürgermedien usw.
Das Internet bricht diese Struktur nun horizontal herunter und mehr noch: die Prozesse zur Herstellung von Unterscheidungsroutinen, die Grade des Informiertseins beobachtbar machen, werden invisibilisiert. So kommt es mit der Zeit zu einer wahrscheinlichen Kulmination von Aufmerksamkeit, da die Dynamik nichtlinearer Systeme im horizontalen Verteilungsverfahren ihre eigenen Referenzstellen erzeugt, die nirgendwo bekannt sind, weil alles, was bekannt ist, nur horizontal verteilt referenzierbar wird und damit für jeden einzelnen als „referenzlos“, als Referenz mit geringer Relevanz.  (Man beachte als Beleg einmal diesen Fall und versuche, sich zu erklären, woher so etwas kommt: „Angriff der Porno-Krieger„.)

Für Peter Kruse sind solche Phänomene nur Erregungsmuster, aber den entscheidenden Ordnungsunterschied kann er nicht erklären. Dieser Unterschied ist im chaotischen Verfahren eben nur simulierbar, nicht dokumentierbar. Die ermergenten Ordnungsmuster haben in dieser Hinsicht keine referenzierbare Realität. So kann es kommen, dass mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit ein gewisser mspro massenhaft Aufmerksamkeit für etwas entgegen gebracht bekommt, über das etwa an der Uni in jeder Cafeteria gesprochen werden kann, bei jeder Diskussion nach einer Buch-Lesung, auf jeder Podiums-Diskussion oder Radio-Gespräch mit Hörerbeteiligung, ohne, dass damit die Aufmerksamkeit massenhaft beobachtbar gemacht werden könnte, weil die Banalität solcher Thesen nicht weiter auffallen kann, ist doch die Beobachtung des Massenmediums auf der ersten Ordnungsebene an vertikale Verteilung von Aufmerksamkeitsroutinen gebunden. Der Leserbriefschreiber bleibt nur marginal relevant, egal, was er schreibt.
Kann also nun durch das Internet massenhaft aufmerksam gemacht werden auf die These, mspros Philosophie sei irgend wie radikal, so liegt die Radikalität weniger in dem, was da kommuniziert werden kann, sondern in dem, wie die Kommunikation ihre eigenen Möglichkeiten unterläuft. Sie bleibt radikal trivial, indem jeder Lesebriefschreiber, jeder aus dem Publikum für ein Publikum, wenn auch unwahrscheihnlich, wichtig werden kann. Die allermeisten bleiben unwichtig, was nur an der Dynamik der Systeme liegt und wohl niemals an  einem Mangel an Humanvermögen.