Differentia

Text als Nicht-Ding

Hier ein Blogartikel von Rolf Todesco, bereits vom 19. August 2010.

Ich erkenne Bestrebungen, die „was-ist-das“-Frage zu suspendieren, wo sie auf die Erläuterung von Gegenständen oder Dingen hinzielt. Damit verbunden ist ein Artikulierungsproblem, das ich anhand von Text erläutern will.

Klaus Kusanowsky etwa unterscheidet in der Tradition Luhmanns Lesen und Hören und postuliert, dass Hören die Wahrnehmung von flüchtigen Signalen sei, während das Lesen mit permanenten Objekten stattfinde. Typischerweise lässt K. Kusanowsky aussen vor, was permante Objekte sind, weil er keine „was ist das-Fragen“ stellt. Damit verbunden ist auch sein unausgesprochenes Menschenbild in Form von Lesern und Hörern. In meiner Wahrnehmung kommen beim Hören wie beim Lesen Wellen in die Wahrnehmungsorgane, also flüchtige Signale.
In der objekt-orientierten Darstellung spreche ich beim  Text von Zeichenkörpern, die das Licht strukturieren. Text erscheint dann als objektives Artefakt in meiner Um-Welt, das einer Objektpermanez (J. Piaget) unterliegt. Ich „sehe“ den Text dort draussen, aber ich kann mir bewusst machen, dass ich das strukturierte Licht, das in meine Augen fällt, wahrnehme. Der Text springt nicht in meine Augen, sondern bleibt, wo er ist.
In einem konstruktiven Sinn habe ich meine Wahrnehmung, durch welche ich den Text im Sinne einer mechanistisch gedachten Verursachung als Objekte vor meinen Augen erschliesse. Indem ich meine Wahrnehmung in einem bestimmten Sinn permanent halte, halte ich das Objekt für permanent. Wenn ich objektiv denke, lasse ich meine Wahrnehmung ausser Betracht und sehe dann Objekte in der Welt.
Wenn ich meine Objekterfahrung reflektiere, verschwinden die Objekte dahingehend, dass ich mich selbst zu einem Objekt mache, das Wahrnehmungen hat, die „es“ als Signale aus der Umwelt rationalisiert. Dieses wahrnehmende Objekt bezeichne ich als Mensch und selbstbezüglich durch „ich“. Es ist ein Objekt in meiner Welt, das in derselben Art fiktiv ist, wie alle anderen Objekte auch.
Die objektive Sicht kann ich zeichnend und sprechend darstellen, während ich für meine Wahrnehmung keinen Ausdruck finde. Wenn ich also von Text spreche, spreche ich von einem Objekt, das ein materielles Ding ist, das ich konstruieren kann.
Wenn ich Text herstelle, also schreibe, koordiniere ich mein Verhalten so, dass ich den Text wahrnehmen kann, den ich herstelle. Ich forme dazu Material, ich stelle Zeichenkörper her. Mein Text-Begriff führt dazu, dass ich auch Texte im Computer oder im Internet keineswegs als flüchtig bezeichnen würde, während K. Kusanowsky – und mit ihm die ganze Luhmann-Schule) in wilde Spekulationen über „digitale“ Texte verfällt. Texte werden zu freischwebenden Medien, die sich beliebig verändern, und so jede Dokumentation unmöglich machen. Bei herkömmlichen Dokumenten, meint K. Kusanowsky würde sich im Diskurs belegen lassen, was im Original wirklich geschrieben steht, während bei digitalen Texten nicht nur die Leserinterpretationen, sondern eben auch die Texte selbst beliebig würden. In meiner Interpretation versucht K. Kusanowsky die Luhmanntheorie der Medien (als buch-orientierte Gutenberg-Theorie) aufzuheben und zu zeigen, dass damit eauch eine bestimmte Art der Wissenschaft obsolet wird, während die Luhmannschule diese „Nicht-Ding“-Auffassung konservativ verwendet, indem sie verhindert, über Text als Ding nachzudenken.

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Wenn Kommunikation, dann Performat

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Nach gründlichem Nachdenken kommt autopoiet zu folgenden Urteil: „Ich befürchte, dass es sich bei der Unterscheidung Dokument/Performat um keine theoretisch anschlussfähige, besser: ergiebige Unterscheidung handelt“ – sein höchst aufmerksamer Blog-Artikel beweist aber leider etwas anderes. Denn tatsächlich ist autopoiet einer der wenigen, die verstehen, worum es geht. Am besten hat mir diese Satz gefallen:

„Wenn Kommunikation, dann Performat.“

Genau. Entscheidend ist aber nicht mehr die Frage, ob das stimmt. Das wäre eine Frage trivialpositivistischer Hypothesen. Tatsächlich aber bekommen wir es, wenn wir Kommunikation unter völliger Vernachlässigung positivistischer Annahmen diskutierbar machen können, mit einem Beobachtungsschema zu tun, das die Frage erlaubt: Wie und wodurch ist die Annahme empirisch und sozial anschließbar zu machen, dass es Menschen sind, die kommunizieren, die handeln, die betrügen, manipulieren? Wie gelingt es einer Gesellschaft, die Behauptung evident zu machen, es könne Sinnestäuschungen geben? Wahrnehmungsstörungen? Geisteskrankheit? Wie kann die Zurechnung von Kommunikation auf Menschen deratige Evidenzverstärkungen hervorrufen, dass eben nur das und nichts anderes empirisch möglich scheint? Wie kann erkennbar werden, dass eine Kommunikationstheorie durch ein Sender-Empfänger-Modell höchste Akzeptanz erzeugt? Wie und woduch erklären wir die Strukturen der Reifizierbarkeit aller Realität in der Weise, dass sogar noch „Geistigkeit“ als Eigentum behandelt werden kann und eine entsprechende Grenzüberschreitung als „Diebstahl geistigen Eigentums“. Wie bringen es die Systeme fertig, Wissen zu haben, weitergeben, verheimlichen, vernichten zu können? Warum wird, wenn Konsens und Dissens gleichermaßen wahrscheinlich sind, nur der Dissens problematisiert? Warum Bemühungen um eine widerspruchsfreie Erkenntnistheorie, wenn nichts so wahrscheinlich ist wie Widerspruch? Woher kommt um alles in der Welt die Wertschätzung eines mit Würde begabten Menschentums? Wie, wodurch und warum werden Unterschiede von Identität und Alterität so dermaßen belastet, dass Massenmord als einzig möglicher Ausweg erscheint?

Wie und wodurch erklärt sich all dies, wenn man nicht einfach scholastisch behaupten möchte, die Systeme seien über sich selbst im Irrtum, im Unklaren? Wenn man nicht einfach sagen kann, die Systeme hätten über sich selbst eine falsche Theorie?
Also: Wie kann man in Erfahrung bringen, dass nur Kommunikation kommuniziert? Nicht, ob das interessant ist oder nicht, klug, irrig, weiterführend, sondern: wie kommt man darauf? Wenn die Antwort lautet: es seien selbstreferenziell operierende Sinnsysteme, die darauf kommen, dann will ich wissen unter welchen Bedingungen solche Überlegungen ernsthaft erwogen werden können. Und: unter welchen Bedingungen solche Überlegungen als abwegig in Erscheinung treten. Ich will also wissen: wie geht das vor sich in einem System, das sich über sich selbst in der Weise irritert, dass es sich mal sich selbst, mal als seine Umwelt mit den gleichen Differenzen und unter Berücksichtigung der gleichen Referenzen beschreiben kann.
Ich appelliere: bitte einmal weniger Luhmann lesen. Und einmal mehr die Frage stellen, ob das wirre Zeug, dass in diesen Büchern steht, nicht eigentlich höchst merkwürdig, ja verdächtig ist. Denn, es kommt ja nicht nur darauf an, was kommuniziert wird, sondern auch, was unter bestimmten Bedingungen nicht mehr oder noch nicht kommunizierbar ist.

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