Überlegungen zur Verschiebbarkeit von Selektionsroutinen

von Kusanowsky

Innerhalb einer gerade ablaufenden Diskussion bei hackr.de zum das Thema „Privatheit und Öffentlichkeit im Internet“ formulierte hackr folgenden bemerkenswerten Einwand: „Für das System stellt sich ja nicht die Frage privat/öffentlich, sondern nur die Frage, inwieweit es sich anderen Systemen als Umwelt zur Verfügung stellen soll. Mit dem Internet hat sich da grundsätzlich nichts verändert, es wurde nur das Metasystem der möglichen Umwelten komplexer.“
Dieser Überlegung kann man nicht uneingeschränkt zustimmen. Zustimmungsfähig scheint mir zunächst nur die Überlegung, dass das Internet Umweltkomplexitäten erhöht, was ja bedeutet, dass alle Systeme, sofern sie für einander als Umwelten in Betracht kommen, selbst an Komplexität hinzu gewinnen, was sich darüber hinaus deshalb steigert, da alle Anschlussfindung bereits auf Komplexitätssteigerung hin beobachtbar ist: man muss, will man der Diskussion folgen, mehr können als nur Erfahrungen in Umgang mit Literatur haben. Man muss vor allen Dingen Hardware und Software benutzen um leisten zu können, was vorher nur mit der Bedienung einer Schreibmaschine und eines Kopierers geleistet werden konnte. Und man muss den Möglichkeiten, was auch heißt: den Irrtümern, die daraus resultieren, wenigstens in der Weise gewachsen sein, dass man den Faden nicht verliert, was allerdings immer wahrscheinlicher wird ob einer unaufhörlich wachsenden Komplexität zuzüglich einer unaufhaltsamen Geschwindigkeitssteigerung der Komplexitätsreduzierungsoperationen.

Gerade die ablaufende Diskussion zeigt, wie knapp die Ressourcen bemessen sind, wenn Thesen wie „das radikale Recht des Anderen ist die Souveränität beim Filtern“ formuliert werden können: hier wird zwar Erfahrung im Umgang mit Hardware und Software mit eingerechnet, aber die Reduktion all dieser Komplexität scheint eher auf eine Umwelt angepasst zu sein, die nur den Umgang mit Dokumenten kennt, also eine Form, die zuerst nur Wahrheitskonstruktionen kontingent behandelt. Denn was besagt ein „Recht des Anderen“ – insofern es ja nur mein Recht ist, weil ich der Andere des Anderen bin – anderes als lediglich die Behauptung, man sei selber schuld, wenn ein anderer über einen selbst etwas heraus findet, das man eigentlich verheimlicht wissen wollte, man hätte ja seine privaten Daten nicht öffentlich preisgeben brauchen. An Naivität kaum zu überbieten. Wollten man eine analoge Betrachtungsweise für Routinen innerhalb der Gutenberg-Galaxy akzeptieren, könnte sie lauten: „Selbst schuld, wenn ein anderer dich einen Dummkopf nennt, nachdem er deinen Text gelesen hat; hättest ihn ja nicht zu publizieren brauchen.“ Gleich so als sein ein Recht auf Informationsselektion gemäß eigener Systemanforderungen als Alternative abwählbar; als müsse man ein Recht zuerkennen, wo empirisch schlechterdings nur eine Bedingung vorliegt: Systeme können nicht anders als Information nach eigenem Ermessen zu sortieren und nach selbstdeterminierten Voraussetzungen weiter zu verarbeiten. Darauf ein Recht zuerkennen hieße, der Sonne erlauben, scheinen zu dürfen, wenn sie es tut.
Interessant ist das deshalb, da solche Naivitäten, auch wenn sie wortreich und langatmig ausgearbeitet werden können, enorm viel Aufmerksamkeit auf sich ziehen, gleich so, als wären Ungeheurlichkeiten mitgeteilt worden, die ein bekanntes Fassungsvermögen übersteigen. Tatsächlich handelt es sich nur um ein Problem, das entsteht, wenn Systeme Dokumente produzieren, analysieren, verbreiten und auswerten; Dokumente, von welchen erwartet werden kann, dass sie über Identität und Kausalität Aukunft geben könnten. Versteht man aber, dass das Internet nicht bloß ein Verbreitungsmedium von Dokumenten ist, kann man erkennen, wie sich Selektionsroutinen verschieben, wenn sich der dokumentarische Charakter von Informationen in der Dauerbewegung von Simulationen verflüchtigt. Solange man meint, man habe es mit Dokumenten zu tun, wird jedes Foto, das man bei Facebook von sich hergibt, jede noch so banale Information über Wohnort, Familienstand, Firmenangehörigkeit zu einer höchst prekären Angelegenheit, weil einem Stalker leicht überwindbare Hindernisse hinterlassen werden; sei dieser Stalker ein Unternehmen, das auf Kundenfang aus ist, ein Polizist oder der Nachbar. Aber wie kommt man denn darauf, ein Foto, geschossen auf einer Party, sei nicht manipuliert worden? Es habe also dokumentarischen Charakter? Denn ob Zeugen das bestätigen könnten ändert im Prinzip nichts daran, dass Manipulationen niemals ausgeschlossen sind; wird dies aber dennoch glaubhaft, scheint das radikale Recht der Anderen zu filtern was er will eine höchst katastrophale Illusion zu sein. Denn hieße das nicht, es gäbe ein Recht auf Irrtum, ein Recht auf Vorurteil, ein Recht Missverständnis? Ja, vielleicht ein Recht zu schädigen, wie man will? Wer wollte all das abschaffen, wenn man entsprechende Rechte nicht zugesteht? Es war die Dokumentform, die diese Probleme erzeugte, weil sie als Lösung Erwartungen steuerbar machte, die aus Problemzusammenhängen stammen, die die moderne Gesellschaft vergessen hat. Die Dokumentform erzeugte ein Recht auf Abweichung unter der Bedingung, dass Wahrheit – wie differenziert und kontingent auch immer behandelt – unbedingt berücksichtigt wird. Damit wäre die Paraxodie beschrieben, auf die sich alle modernen Identitätskonstrukte (Person, Volk, Rasse oder Rocker) einlassen mussten: bedingte Unbedingheit der eigenen Existenzversicherung.

Und daran wird sich durch das Internet gar nichts ändern? Gerade diese Diskussion zeigt doch, was sich zu ändern beginnt: Ein Recht auf Irrtum hat zu Gutenbergszeiten noch keiner ernsthaft gefordert.