Wie ist Neues möglich? Ein Vortrag von Harry Lehmann #systemtheorie

von Kusanowsky

http://www.harrylehmann.net/

Dieses Video ist ein etwa halbstündiger Vortrag von Harry Lehmann, den er an der Akademie der Bildenden Künste in Nürnberg am 16. November 2012 auf dem Symposium „Die nervöse Ordnung gereizter Denkmodelle“ gehalten hat.

Die ersten zwanzig Minuten sind eine knappe Einführung in die Systemtheorie nach Luhmann. Wer sich damit schon näher befasst hat, kann sich ab Minute 22 in den Vortrag einschalten. Dort heißt es im Anschluss an die Funktion der Massenmedien:

(ab 22:04) Schwierig ist es nun – auch für die Massenmedien – Ereignisse, Prozesse und Phänomene zu beobachten, sie selbst noch nicht beschrieben wurden, die gewissermaßen noch radikal neu sind, also Umbruchprozesse, die gerade durch die Evolution der Gesellschaft ausgelöst werden. Denn hierfür müsste sie ja Schemata benutzen, mit denen sie die alte Gesellschaft beschrieben hat. Dieses Problem können die Massenmedien nicht aus eigner Kraft lösen, sondern an dieser Stelle kommen Geisteswissenschaften, Künste, die Philosophie in Spiel, die vielmehr darauf spezialisiert sind, solche Umbruchprozesse zu reflektieren.

Ich sehe die gesellschaftliche Funktion des Kunstsystems in einer Provokation neuer Selbstbeschreibungen, und zwar insofern als die Kunst mit Wahrnehmungskategorien und Schemata der Wahrnehmung experimentiert und diese bereit stellt für mögliche Neubeschreibungen der Gesellschaft, was gewissermaßen der Journalismus nicht aus eigener Kraft leisten kann.
Die Kunst stellt gewissermaßen ein varibles Programm (?) von abweichender Kommunikation und abweichenden Beobachtungsperspektiven bereit, das dann wieder in die Gesellschaft durchsickert … Diese unruhige, nervöse Kommunikation, die von dem Kunstsystem bereit gestellt wird, ist die Voraussetzung dafür, damit die Gesellschaft tatsächlich auf ihre eigene Evolution reagieren kann.

Das theoretische Problem, das an dieser Stelle behandelt wird, besteht in der Frage, wie Neues möglich ist. Die Antwort, die Harry Lehmann liefert, kann zwar einerseits sehr gut erklären, wie sehr die Funktionssysteme aufeinander angewiesen sind, um sich gegenseitig die Voraussetzungen bereit zu stellen, die erfüllt sein müssen, damit trotz autopoietischer Selbstdeterminierung Abweichung, bw. Neues möglich ist; es fehlt aber der Hinweis auf die zirkuläre Geschlossenheit der Gesellschaft. Das bedeutet, dass auch die Kunst nicht den Vorraussetzungsreichtum erfüllen kann, der für neue Selbstbeschreibungen immer schon zur Verfügung stehen müsste. Denn wenn auch die Kunst ein Funktionssystem ist, so gilt für sie das selbe wie für alle anderen Funktionssysteme.

Geht man davon aus, dass die Kunst in einer funktional ausdifferenzierten Gesellschaft ein eigenes Funktionssystem ausgebildet hat, dann stellt sich die Frage, welche gesellschaftliche Funktion das Kunstsystem in einer solchen Gesellschaft erfüllt. Luhmanns Antwort lautet, dass die Kunst zeigen würde, »dass Ordnung im Bereich des Möglichen möglich ist«. Damit bleibt offen, was das »Bezugsproblem« der Gesellschaft sein könnte, auf das das Kunstsystem hier reagiert. Im Gegensatz dazu könnte man ein zentrales Bezugsproblem der modernen, evolutionierenden Gesellschaft in der Umschreibung ihrer herrschenden Selbstbeschreibung sehen. Die gesellschaftliche Funktion der Kunst ließe sich dann als eine Provokation neuer Selbstbeschreibungen der Gesellschaft bestimmen, wobei diese ›Herausforderung‹ primär im Medium der ästhetischen Erfahrung stattfindet (und nicht im Medium der Argumentation wie in der Philosophie). Avancierte Kunst generiert welthaltige Schemata der ästhetischen Erfahrung, die punktuell eine Umschreibung der herrschenden gesellschaftlichen Selbstbeschreibung provozieren. (Provokation neuer Selbstbeschreibungen)

Harry Lehmann weist nun in diesem Vortrag darauf hin, dass die Kunst, anders als alle anderen Funktionssysteme, nicht nur die Möglichkeit hat, ihr eigenes Reflexionsprogramm zu entwickeln, sondern auch die Möglichkeit, die so entstehenden Reflexionstheorien selbst zur Kunst zu erheben:

Überall dort, wo wie im Kunstsystem die Reflexion über Kunst jederzeit zu einer Operation der Kunst werden kann, hat man es nicht mit Funktionssystemen im orthodoxen systemtheoretischen Sinne zu tun, sondern mit einem Reflexionssystem. (Reflexionssysteme)

Keine Frage, dass aus diesen Überlegungen eine Vielzahl von weiterführenden theoretischen Komplikationen entstehen. Interessant ist jedoch, dass dem Internet in dem Vortrag keinerlei prominente Bedeutung gegeben wird.

Die Provokationsprobleme, die sich aus dem Internet ergeben, erscheinen mir nämlich nicht allein darin zu liegen, dass durch diese Provokationen nur die strukturelle Integrität aller Funktionssysteme erfasst und zerrüttet wird. Vielmehr scheint sich die Kommunikation durch das Internet auch auf der operativen Ebene selbst zu desintegrieren. Gewiss kann man annehmen, dass die Kunst durch das freigesetzte Kunstwerk darauf besser vorbereitet ist. Wenn aber jedes System auf strukturelle Koppelung angewiesen ist, was für alle Funktionssysteme gilt, so dürfte nicht so leicht erklärbar sein, warum ausgerechnet die Kunst eine gewisse Vorzüglichkeit für den evolutionären Prozess haben sollte.

Oder man nimmt an, dass Reflexionssysteme sich dadurch operativ stabilisieren, dass sie gerade durch Entkoppelung und durch Dissoziation stabil bleiben. Aber müsste man dann die Unterscheidung zwischen Funktions- und Reflexionssystemen nicht diskriminatorisch vornehmen und sagen, dass man es entweder nur mit dem einen oder dem anderen zu tun haben kann? Insofern wären Reflexionssysteme Sinnformationen, die man mit dem Jesus-Wort beschreiben könnte: „nicht von dieser Welt“, was heißen könnte: die Beoachtungsschemata solcher Reflexionssysteme sind unbekannt und beziehen sich auf eine unbekannte, anonyme Ordnung. Weshalb die Provokation überhaupt erst als solche erkennbar wird: Sie ist durch keine bekannte Unterscheidungsroutine gedeckt und darum nicht oder nur sehr schwer nachvollziehbar. (Hier meine Unterscheidung zwischen Provokation und Rechtfertigung und die Überlegung, dass die „Provokationskunst“ der Moderne selbst eine Rechtfertigungsstrategie ist um die Autonomie der Kunst zu garantieren.)

Die Unterscheidung bekannt/unbekannt findet entsprechend ihr re-entry auf der Seite der Unbekanntheit. Diese Unterscheidung verweist dann nicht nur auf Unbekanntes, sondern auf sich selbst als etwas Unbekanntes.

Was spricht für die Annahme, dass solche Reflexionssysteme hauptsächlich oder vorzuüglich von der Kunst ausgebildet werden? Warum nicht von jedem anderen Funktionssystem auch, sofern Entkopplung durch Zerrüttung der operativen Integrität der Kommunikation zustande kommt, die dann Neues erbringen kann?