Differentia

Monat: Februar, 2013

Semantische Abschleifung

Erfolgreiche Formenbildungen erkennt man nicht nur an ihrem häufigen Gebrauch, sondern auch daran, dass man im Verhältnis zur Häufigkeit ihres Gebrauchs nicht die selbe Häufigkeit ihrer Haltbarkeitsprüfung findet. Daraus ergibt sich ein semantischer Abschleifungsprozess: aus der Häufigkeit der Formverwendung ergibt sich eine verstärkte Plausibilität, die im Laufe der Zeit dadurch fraglich wird, dass sie in verschiedenen Kontexten ungeprüft Eingang findet und ob ihrer inflationären Verbreitung an die Grenzen einer beliebigen Verwendbarkeit stößt. Diese semantischen Abschleifungen haben zur Folge, dass für einen Beobachter, dem diese Abschleifungen gar nicht auffallen, der Eindruck einer kontextunabhängigen Bedeutung entsteht, deren Evidenz gleichsam „selbstaufdringlich“ erscheint. Man könnte also glauben, dass gerade die inflationäre Kontextdifferenzierung beweist, dass in allen Fällen das selbe gemeint sei, was andersherum zur Abschneidung von Kontingenz führt mit dem Ergebnis, dass man das, was man versteht, gleichsam selbstverständlich versteht und dann nicht mehr darüber nachdenken kann, dass alles ja auch anders gemeint sein könnte; ein Eindruck, der als Ergebnis der Kontingenz aller so gekoppelten Operationen entsteht.

Solche semantischen Abschleifungsprozesse sind wohl der unverzichtbare evolutionäre Vorgang der Herausbildung von Generalisierungen, die sich für die symbolische Verwendung als Kommunikationsmedium eignen. Indem durch den Evolutionsprozess etwas höchst Unbestimmtes in Bestimmtes erfolgreich transformiert wird, wird zugleich durch diesen Transformationsprozess die Beobachtung vermieden, dass das so Bestimmte in seiner Treffsicherheit für die Anschlussfindung nur deshalb verknüpft werden kann, weil es sich ob des trivialen Gebrauchs und des semantischen Abschleifs eigentlich gar nicht mehr eignet; ein Effekt, der in der Evolution von Gesellschaft schon immer beobachtet wurde, wenn Gebräuche aus alter Zeit leer und hohl wirken, wenn Begriffe ihre Härte verlieren, wenn Zeichenverknüpfungen mitsamt ihrer Semantik nicht mehr geeignet erscheinen, einem parallel sich ändernden Realtitätsverständnis entsprechend zu können.
Am Beispiel von Subjektivität lässt sich so etwas verdeutlichen. Die Subjekt-Objekt-Unterscheidung war für die säkulare Gelehrsamkeit der ideale Ankerpunkt für eine Kristallisation von Erfahrung, die den Unterschied von Selbst- und Fremdreferenz neu und andersartig entfalten konnte, nachdem das Erkenntnisvermögen durch ratio nicht länger nur die zweite Geige spielen musste, sondern im Gegenteil die apriorische Voraussetzung dafür herstellte, dass zwischen Erkennen und Erkenntnis, zwischen Sein und Seiendem, zwischen Theorie und Gegenstand Kontingenzspielräume zur Erhärtung einer Weltauffassung auftauchten, mit welcher eine beispiellose Produktion sozialer Prosperität entstand.

Dieser Prozess vollzog über die Beobachtung des Objekts durch das Subjekt, bei Vermeidung subjektiver Willkür (Descartes, Newton), über die Emanzipation des Subjekts, bei anhaltender Vermeidung seiner Willkür (Kant), über die Analyse des subjektiven Vermögens der Willkür bei Vermeidung objektiver Letztaussagen (Schopenhauer, Nietzsche, Psychonalyse), bis zur Objektivierung des Subjekts (Soziologie, Biologie, Psychologie), bei gleichzeitiger Vermeidung von fast allem, was geeignet wäre, diese Unterscheidung durch eine andere zu ersetzen; und schließlich über die Trivialisierung durch ideenkritische Analyse dieses kulturhistorischen Erweiterungsprozesses. Am Ende ist alles nur noch subjektiv, egal, was auch immer damit gemeint sein kann, denn in dem Augenblick seiner vollständigen Trivialisierung bekommt die Anführung von Subjektivität einen funktionalen Charakter, der in der ideengeschichtlichen Herausbildung so nicht angelegt war.
Die erfolgreiche Formenbildung schafft nämlich irreversible Tatbestände, hinter die nicht mehr zurück gegangen werden kann, sobald diese Form symbolisch generalisiert wurde. Denn wenn dies gelingt, kann mit dieser Form immer etwas Bestimmtes als Unbestimmtes referenziert werden, gerade weil es überall und jederzeit referenzierbar ist. Dieser Vorgang erfolgt durch eine Art sozialer Alchemie, durch welche das, was ehedem als erklärungsbedürftig erschien, nunmehr in seiner, nicht selten durch Eifersucht geprägten Rechtfertigungsnotwendigkeit erscheint. Zuerst mussten Formen gebildet werden, mit denen das Subjekt und sein Vermögen überhaupt erst erklärt werden konnten; und nachdem diese Erklärungen ihre Grenzen erreicht haben und damit Gefahr laufen, als unhaltbar zu erscheinen, wird von Erklärung auf Rechtfertigung umgestellt.
Konnte das Vermögen des Subjekts wie etwa bei Kant noch Anlass zum Staunen liefern, so wird sein Vermögen gegenwärtig nur noch darin gesehen, dem Scheitern an unhaltbaren Ansprüchen der Urteilsgewissheit aus dem Wege zu gehen, indem das subjektive Vermögen als Rechtfertigung für all das erscheint, was subjektiv ohnehin niemand im Griff hat.

Man besteht auf Subjektivität, auf die persönliche, individuelle, willkürliche, ungeprüfte, nicht nachprüfbare, eigenwillige, komplexitätsreduzierte, indifferente, unmaßgebliche, kontextvernachlässigende, gefühlsmäßig Beurteilung eines Sachverhaltes und meint damit die Individualität, Authentizität, Eigenwilligkeit, Relativität, Inkongruenz, Beliebigkeit, Intransparenz, Inkonsistenz, Emotionalität, Nichtvergleichbarkeit, Irrelevanz oder die Parteilichkeit eines Beurteilungsstandpunktes, welcher sich von Objektivität, also von Allgemeingültigkeit, Eindeutigkeit, Überprüfbarkeit, Unbezweifelbarkeit, Wahrheit, höhere Priorität, Unparteilichkeit, Neutralität und übergeordnete Evidenz irgendwie unterscheidet.

Und sobald diese Sabbelei auch noch durch die Wissenschaft und mit staatlichem Prüfungsnachweis erlaubt werden muss, weil man sie ohnehin nicht verhindern kann, wird es Zeit, sich darüber zu wundern.

 

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Materie und Form bei Thomas von Aquin ##systemtheorie #mediumform

Ein schönes Beispiel dafür, dass es sehr fraglich ist, Menschen zu Urhebern von Theorien zu machen zeigen die Ausführungen von Tobias Kläden über das Verhältnis von Form und Materie in der Theologie von Thomas von Aquin. Es ist gar nicht viel Fantasie nötig um zu erkennen, dass wenigstens in den Gründzügen diese Darlegungen mit dem Verhältnis von Medium und Form bei Fritz Heider und Niklas Luhmann übereinstimmen.

Im Hintergrund der naturphilosophischen Argumentation steht der Theorierahmen des Hylemorphismus, wonach alles körperlich Seiende durch die beiden Seinsprinzipien von Form und Materie konstituiert ist. Die Materie ist dabei wiederum nicht in unserer heutigen alltagssprachlichen Verwendung im Sinne des dreidimensional Ausgedehnten und sinnlich Erfahrbaren zu verstehen: Materie ist vielmehr, genauso wie Form, ein Aspekt, kein quantitativer, sondern ein qualitativer, ein wesenskonstituierender Teil an einer Substanz, einer konkret existierenden Seinseinheit, auf die ich als ein hoc aliquid, ein „dieses da“, zeigen kann.
Dabei stehen im Verständnis des Thomas Form und Materie im Verhältnis von Akt und Potenz zueinander. Das bedeutet: Die Form ist das Prinzip der Bestimmung, welches einem nur in Möglichkeit Existierenden Aktualität oder Wirklichkeit verleiht. Entsprechend ist Materie das Prinzip der Bestimmbarkeit oder der Potentialität. Die Materie stellt das Substrat oder Subjekt, also das „Darunterliegende“ des Wandels von Potentialität zu Aktualität dar; sie ist somit die Voraussetzung dafür, dass es überhaupt Veränderung, Entstehen und Vergehen gibt. Die gesamte Welt des Seienden kann nun durch das jeweils unterschiedliche Mischungsverhältnis von Aktualität und Potentialität beschrieben werden: Die materia prima ist reine Potentialität und enthält gar keine Bestimmung, ist daher auch nicht sinnlich erfahrbar, sondern ein nur gedanklich vorstellbares Prinzip. Bei den Körperdingen steigt mit zunehmender Entwicklungsstufe der Grad der Aktualität an. Bei den geistigen Substanzen, den Engeln, ist keine Zusammensetzung aus Form und Materie mehr festzustellen.
Sie sind reine Formen. Jedes Individuum in der Gattung der Engel ist daher seine eigene Art. Aber: Es findet sich in ihnen eine Zusammensetzung aus Akt und Potenz, insofern sie ihrem Sein gegenüber in Potenz stehen, es also haben, aber nicht sind. Nur auf Gott selbst als den actus purus, die reine Aktualität, trifft es zu, dass er sein eigenes Sein ist; ihm kann nichts Zufälliges oder Mögliches inhärent sein.

http://www.kamp-erfurt.de/level9_cms/download_user/Gesellschaft/Anima%20forma%20corporis.pdf

Wichtig ist, dass es nicht auf den philologischen, textkritisch-positivistischen Identitäts- oder Ähnlichkeitsnachweis ankommt, sondern allein darauf, dass die Ähnlichkeiten sinnmäßig erschlossen werden können.

Das Beeindruckende der Luhmannschen Systemtheorie scheint daher eher durch einen Gedächtnisverlust zu entstehen. Weil die säkulare Philosophie ihre Erkenntnisgrenzen erreicht hat und ihre Aporien nur verwalten kann, erscheint plötzlich ganz Altes wieder weiterführend. Und skeptisch könnte man hinzufügen, dass dieses Beeindruckungsprogramm systemtheoretischer Analysen durch Nacherzählungen selbst wiederum nur verwaltet wird.

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