Luhmanns moralische Moral #systemtheorie
von Kusanowsky
Immer wieder gibt es Versuche, sich in systemtheoretischer Hinsicht mit Ethik und Moral zu befassen. Dabei hat man nicht selten den Eindruck, dass diese Befassung, auch dort, wo versucht wird, direkt an Luhmann anzuschließen, immer wieder in Aporien führt ohne irgendwelche Auswege zu finden. Diese Ausweglosigkeit findet man auch bei Luhmann selbst, dem es nie gelungen ist, eine Möglichkeit zu finden, über Ethik und Moral unmoralisch oder unethisch zu schreiben. Bekannt ist besonders „Paradigm lost: Über die ethische Reflexion der Moral„. Darin beschreibt Luhmann Moral als Regelsystem der Kommunikation, das sich an Kriterien gesellschaftlicher Achtung und Missachtung orientiert. Für die moderne Gesellschaft würde gelten, dass Moral faktisch keine integrierende, keine zentral dirigierende oder normierende Funktion habe. Die Regelsysteme der Moral und aller anderen Funktionssysteme seien voneinander unabhängig und folgten jeweils ihrer eigenen immanenten Logik. Wollte man dennoch den Versuch unternehmen, zum Beispiel wirtschaftliche Entscheidungen an moralische Kriterien zu binden, komme es leicht zu einem „Überengagement der Beteiligten“ mit einem rein emotionalen, moralisierenden Austausch von Achtung oder Missachtung bei Vernachlässigung derjenigen Aspekte, durch die eine Entscheidung überhaupt gefunden werden könnte. Das heißt, dass das Wirtschaftsystem eben nicht moralischen Kriterien folgen kann, sondern sich ausschließlich an seinen eigenen Regeln orientiert. „Muss denn“, so fragt Luhmann, „eine vorsorgliche rechtliche Einschränkung riskanter Produktionstechnologien als moralisches oder sogar ethisches Gebot lanciert werden, wo wir doch nächstes Jahr bei besserer Information eine noch schärfere oder eine weniger scharfe Regulierung bevorzugen werden?“ Wegen der behaupteten Systemneutralität oder sogar Systemschädlichkeit von Moral gegenüber der Wirtschaft kommt Luhmann daher zu dem Ergebnis, dass es angesichts dieser Sachlage die vielleicht vordringlichste Aufgabe der Ethik wäre, vor Moral zu warnen und den Anwendungsbereich der Moral zu zu beschränken.
Diese Warnung überrascht, und zwar deshalb, da es nicht selten die Angelegenheit der Moral ist, vor Moral zu warnen, nämlich vor einer anderen, einer womöglich schlechten, falschen oder auch nur unzureichenden Moral. So erscheint gerade des Regelsystem der Moral als eine höchst unmoralische Angelegenheit, da jede Moral gleichsam die Bedingungen ihrer Möglichkeit darauf beschränkt, nur in einem Fall gültig zu sein, nämlich nur in einem solchen, der durch diese Moral selbst festgestellt würde, gleich so, als könne damit irgendetwas geklärt, korrigiert oder auf dieser Basis entschieden werden. Dass dies empirisch unmöglich ist, erweist sich dadurch, dass alle Moral, wo immer sie ihre Priorität behauptet, genau die gegenteilige Möglichkeit als Obszönität verhandelt, und damit dazu beiträgt, diese Obszönität kommunikativ zu strukturieren. Beispiel: ist es moralisch Gewinne zu maximieren oder Arbeitschutzmaßnahmen zu finanzieren? Jede der beiden Optionen ist moralisch infiziert und bestreitet die Akzeptanz der jeweils anderen Option. Dass also in der Wirtschaft keine Moral gelte, ist völlig unzutreffend. Es geht dort um die Moral der Gewinnmaximierung, die – wie jede andere – alles andere disqualifiziert und damit sich selbst wie alles andere kommunikativ verlängert, Probleme erzeugt, verdichtet, verkompliziert und sich dann gegen die Möglichkeit der Lösung indifferent verhält.
Eine jede Moral trägt dazu bei, das Problem in der Welt zu halten, welches sie ihrer Selbstauskunft nach gelöst wissen will. Und da keine Moral jemals allein kommt, jede Moral sich aus einer anderen ergibt, kommt es schließlich dazu, dass der Dauerkonflikt moralischer Kommunikationen, aufgrund der Unentscheidbarkeit der je eigenen Kriterien, eigentlich eine Problemproduktionfunktion hat, indem durch Moral immer mehr Probleme erzeugt als gelöst werden.
Das macht Moral so ungeheuer unmoralisch. Sie dient der Erzeugung und Verwaltung von Problemen und ist gut dazu geeignet, die Unlösbarkeit von Konflikten dadurch zusteigern, dass eine jede Moral ihren Anwendungsbereich jeweils immer nur auf sich selbst beschränkt und alles andere als Möglichkeit ausschließt. Moral heißt immer: ich will nur das (und nichts anderes), ohne gleichwohl anzugeben zu können, wie der Unterschied der Kontingenz, der durch den eigenwilligen Ausschluss eingeschlossen ist, durch diese Moral selbst behandelt werden könnte. So verhält sich jede Moral irreflexiv gegen ihre Möglichkeit und kann deshalb ihr Scheitern nicht selten sogar mit Gewalt beantworten, weil die Rechtfertigungsmöglichkeiten von Gewalt in einem jeden moralischen Regelschema immer schon enthalten sind. Gemeint ist damit die polemogene Struktur der Moral.
Warum also Luhmanns Vorschlag, den Anwendungsbereich der Moral zu limitieren? Warum nicht beobachten, wie die empirische Selbstlimitierung einer jeden Moral in Ideologie transformiert wird und damit zur Abschneidung von Kontingenz führt.
Eigentlich scheint Luhmanns Warnung vor Moral selbst moralischen Ursprungs zu sein. Daran könnte man die Frage anschließen, wie man stattdessen den Unterschied von moralisch und unmoralisch operationalisieren könnte.
Die Überlegung könnte sein, Ethik nicht nur als gescheitert zu betrachten, sondern auch, sie als Reflexionstheorie durch eine Diabolik zu ersetzen, die die Vermeidungsstrukturen der Moral vermeidet.
@Kusanowsky – Moral erzeugt also Probleme, indem sie – Probleme lösend – welche erzeugt. Wenn solche monokausale Moral institutionalisiert und an der Macht ist, dann droht sie den Abweichlern, (wenn diese Macht legal legitimiert ist: mit Gesetzen und den daraus folgenden Sanktionen).
Nun sagt aber Luhmann auch, alles Gesagte könne allemal auch anders gesagt werden. Die Evolution des gesellschaftlichen Denkens als Kommunikation zeigt, dass dies nicht nur auf der pragmatischen Ebene Ebene empfehlender Sätze gelten soll und kann, sondern auch schon – tiefer liegend, weil tiefer gelegt – auf der kontingenten Ebene der Semantik der einzelnen (wählbaren, deshalb auch immer schon gewählten) Worte.
Sagen wir statt Probleme einmal – versuchsweise und (wie ein Fuchs sagen würde) vollkommen ungeschützt: Ereignis. Carl Schmitt, der verteufelte, hat bekanntlich den skandalierenden (aber unabweisbar wahren) Satz gesagt: Macht hat, wer über den Ausnahmezustand entscheidet. Genau an diese Stelle möchte sich der Moralist setzen: er entscheidet durch seine einseitige Beschreibung eine konkrete Situation so, dass seine Beschreibung den Anstrich der Moral bekommt und damit automatisch schon alle davon Abweichenden den Ruch der Unmoral mit all ihren im Persönlichen so abträglichen Folgen auf sich ziehen.
Alain Badiou kennt vier Handlungsfelder, die bei ihm dann auch vier Felder Möglicher Ereignisse sind: Wissenschaft, Kunst, Politik und Liebe. Auf allen vier Feldern kann es konstistente und inkonsistente Situationen geben. Die konsistenten Situationen sind die Regel: es läuft. Tritt irgendwo Inkonsistenz auf (sagen wir: ungleiche Verteilung von Reichtum oder Bildungschanchen), dann wird der Mächtige, derjenige also, der entscheiden kann, diese Situation so schildern, dass seine eigene Lage zumindest nicht verschlechtert wird. Die Opfer werden dies dann mehr oder weniger bis auch vollkommen anders sehen. Moralisiert wird also immer auf beiden Seiten. Hieraus entstehen dann Probleme, die wieder Probleme erzeugen und die – als Situation – die Unklärbarkeit der Situation im ethischen Sinne perpetuieren.
Sagt man nun statt Problem Ereignis, dann kann man erkennen: ein Ereignis ist eine abrupte Veränderung der Situation. Wer entscheiden muss, (weil er entscheiden kann), der wird also danach trachten. Herr des Ereignisses zu werden. Wer das Ereignis schaffen (oder beschaffen) kann, der verändert die allgemeine Situation. Er ist dann – skatspieltechnisch formuliert – in der Vorhand und alle anderen müssen seiner Ansage folgen. Das Ereignis (im Gegensatz zum Problem) hat nun die schöne Eigenschaft, das es nicht von vornherein als Moral erscheint. Das Ereignis verändert nur schlagartig die Gesamtlage, die Situation. Wer für das Ereignis sorgen kann, der versetzt die anderen in die zunächst einmal neutrale Lage, sagen zu müssen: es ist, wie es ist. Man kann das Ereignis nicht moralisierend abqualifizieren. Am Ereignis kann man nur arbeiten, man muss es abarbeiten. Wer als Entscheider durch ein Ereignis die von diesem Ereignis Betroffenen dazu bringen kann, dieses Ereignis als gegeben anzusehen und hinzunehmen, der hat (fast) schon gewonnen. Und: man kann ihn, als den Ereignismacher, nicht moralisch abqualifizieren.
Ob dies alles schon vollkommen schlüssig ist, weiss ich noch selber nicht. Meine Badiou-Lektüre ist erst bei der elften Meditation angelangt (von 37). DEshalb lasse ich dies hier einfach mal so stehen.
Rudi K. Sander als dieterboher alias @rudolfanders
Sehr schön und nachvollziehbar: Moral ist ein Problem. Das ist ihr eigen, weil sie für Systemtheoretiker (ich kenne mich da nicht gut aus, muss ich sagen) vermutlich so etwas wie eine Anti-Systemregel darstellt. Die moralische Reflexion beginnt ja damit, dass ich von mir selbst absehe und die Rechte anderer bedenke. „Darf ich das?“ „Wem füge ich damit Schaden zu?“ „Hat X nicht das gleiche Recht zu leben wie ich?“ etc. Moral ruft auf, die eigenen Interessen mit den Interessen anderer abzuwägen. Was soll das geben außer Dilemmata und Streit? Vielleicht doch mehr Freidlichkeit und Kooperation? „Unmoralisch“ ist nicht unbedingt, hinter dem moralischen Optimum, der bedingungslosen Moral, zurückzubleiben – unmoralisch ist es, die moralische Reflexion komplett zu überspringen und sich um nichts zu scheren. Insofern hat Luhmann keinen Millimeter Recht, meine ich. Eine moralische Entscheidung ist nicht eine, die eine bestimmte Moral ohne Rest und Widerspruch erfüllt, sondern die zwischen den verschiedenen als berechtigt zu erkennenden Belangen der verschiedenen „stakeholder“ (für die Unternehmen zählt dazu inzwischen durchaus auch die Allgemeinheit) abwägt. Sie hat eher etwas mit der Waage der Justizia zu tun als mit dem Schwert der Erzengel. Und in der geforderten abwägenden Reflexion liegt ihre Schwierigkeit. Moral lässt sich schlecht fordern, da man mit der Forderung nach Moral das Eigeninteresse über das Fremdinteresse stellt. Fordern lässt sich aber eben sehr wohl die moralische Überlegung als solche: „Wir verlangen, dass alle Interessen berücksichtigt werden, so gut das geht.“ Insbesondere gegenüber Institutionen ist das die auch fürs System durchaus sinnvolle moralische Urforderung, weil das System damit ein Korrekturmoment erhält, das – idealerweise – die Gesellschaft optimiert und dabei reale Machtverhältnisse aufweicht. Ein Unternehmen, das von seiner Macht her „alle Möglichkeiten“ hätte, kurzfristigen Mumpitz zu seinem eigenen Vorteil zu veranstalten, würde eine Art moralische Schuldenbremse akzeptieren und lässt es sich beispielsweise Millionen kosten, die Abwässer zu klären. Moral ist so gesehen ein diskret wirkender System-Korrektor.
„Die Überlegung könnte sein, Ethik nicht nur als gescheitert zu betrachten, sondern auch, sie als Reflexionstheorie durch eine Diabolik zu ersetzen, die die Vermeidungsstrukturen der Moral vermeidet.“
Mich würde interessieren, was Sie konkret unter „Diabolik“ verstehen. Und auf welche Weise, wenn nicht mehr „Ethik“ und „Moral“ das Handeln der Menschen leiten, eine solche „Diabolik“ dies tun würde.
To me the problem of morality (ethics) in L’s theory stems from
(1) A tendency with L and maybe more so with his followers to discern (functional) systems wherever and whenever possible.
(2) The fundamental problem that L sees religious systems (believe/non believe) as separate from ideological systems which he does not describe at all (to my limited knowledge). For me there are only ideological systems (believe/non believe). Religions are special cases thereof.
For me moral/ethics are an integral part of the ideological system. As long as one believes in ideology X one has to measure actions against the moral values that come with it. As long as I am a (ultra)liberal of Libertarian I have to say that „greed is good“. As long as I am a Christian I’ll have to say that „I love my enemies“. Of course there is the possibility that an individual changes from one ideology to another. Or maybe he can concoct his own by shopping around. The „choice“ of ideology is mainly governed by the „truth-function“ of the ideology: the measure wherein the story does a better job in „explaining“ past, present and future of the subject and the way wherein its morals are working, can be upheld in daily life. So there should be a tendency that fosters ideologies that are more in accordance with science.
„Moral ist so gesehen ein diskret wirkender System-Korrektor“
Geanu das steht in Frage. Interessant ist der Kommentar von dieterbohrer zu diesem Punkt. Er hat versucht zu zeigen, dass es verschiedene Möglichkeiten gibt, die Sache zu behandeln, erste Möglichkeit: Wie lautet die Lösung des Problems? Zweite: Wie kann man die Herkunft des Problems verstehen lernen? Diese zweite Möglichkeit ist nicht zu verwechseln mit der Frage, wer schuld ist, wer das Problem verursacht hat, wer gefehlt hat, sondern nur: wie könnte man sich die Herkunft, das Zustandekommen, die soziale Entwicklung der Problemsituation erklären; und man könnte die methodische Regel aufstellen, dass kein Erklärungsangebot grundsätzlich ausreicht. Dies führt dazu, den Problemerfahrungsprozess selbst zu reflektieren, was allerdings nur dann geht, wenn man ein Beobachtungsschema findet, das nicht selbst den Problemerfahrungsprozess determinert, sondern ein Schema, durch den dieser Problemerfahrungsprozess „als etwas anderes“ verstehbar wird. Die Analyse des Problemerfahrungsprozesses müsste also mutwillig eine, durch keine Quelle gedeckte, durch keine Wahrheit legitmierte, durch keinen Beweis erbrachte Unterstellung einführen, von welcher man behaupten könnte, eben dieser dann sich zeigende Unterschied zwischen dem Prozess und seiner Beurteilung habe diesen Prozess geregelt und habe schließlich auch dazu geführt, dass man ihn verstehen lernen kann. Also eine Art ahistorische Geschichtschreibung; ahistorische Geschichtsschreibung insofern etwas im Geschichtsverlauf benannt wird, das sich keineswegs aus ihm ergeben müsste. Man unterstellt irgend einen fiktiven Faktor, der gleichsam als blinder Fleck die Operativität kontrollierte.
In diesem Fall könnte die Frage lauten: wie ist eigentlich das Problem mit der modernen Moral entstanden? Dazu gehört auch die Überlegung, warum moralische Angelegenheiten so virulent sind, wenn doch empirisch leicht erkennbar wird, dass keiner so einfach eine Lösung herbeifordern könnte, was trotzdem keinen davon abhält, es zu versuchen. Warum ist Moral so beliebt? Warum so hartnäckig? Denn es reicht ja nicht, vor Moral zu warnen, weil sich schnell die Aporie zeigt, dass die Warnung selbst moralischen Charakter hat. Ich stelle mir vor, wie systemtheoretische Scholastiker eine Moral der Moralverwarnung entwickeln und diese bald gegen einander richten, sobald sie im konkurrenten Geschehen des Erlangens von gesellschaftlicher Achtung hilflos aneinander geraten und sich dann – wie alle anderen auch – mit Missachtung begegnen müssen, weil sie nicht wissen, was sie sonst tun sollten.
Meine Überlegung lautet also: finde ein geeignetes Beobachtungsschema und damit verküpft ein Unterscheidungsverfahren, das man dem Problemerfahrungsprozess unterschieben, andichten oder nur zuordnen kann um erstens diesen Problemerfahrungsprozess verstehen lernen zu können und um zweitens verstehbar zu machen, wie dieses Verständnis selbst sich aus dem Problemerfahrungsprozess entwickeln konnte. So komme ich auf die Vermutung, dass wir es mit dem Zustandekommen der modernen Moral mit einem Problem zu tun haben, dass sich entwickeln musste, sobald man anfing zu entdecken, dass Menschen unschuldig sein können. Diese Entdeckung war nicht moralischer Art, ja mehr, eine Freveltat, ein Hochmut, eine ganz unschuldig-arrogante Behauptung, eine Frechheit ohne gleichen. Menschen können unschuldig sein! Und damit ist eine Hypothese aufgekommen, die ihm Prozess der Problementwicklung ihrer eigene Empirie erzeugte, welche dadurch möglich wurde, dass die Unhaltbarkeit moralischer Forderungen ideal dazu geeignet sind, Konflikte zu provozieren, welche es nach sich ziehen, dass jeder Beteiligten ob des empirischen Unrechts, das durch die Konflikte in die Welt kommt, sich seiner Unschuld vergewissert und sich der Verhaftung entzieht. Moral wäre eine Kampftechnik zur Rettung der eignen Unschuld.
Denn wichtig ist die Frage, warum Moral so beliebt, so hartnäckig, so widersinnig, so irrational in Anspruch genommen wird.
Die Frage ist sehr wichtig. Ich werde in nächster Zeit darüber schreiben. Ich bitte um etwas Geduld.
Der Versuch, Ethik als Reflexionstheorie von Moral derart von letzter zu scheiden, dass sie als eine Art unablässig auf der Lauer liegende, all meine Beobachtungen begleiten und verfolgen müssende hyper- oder Post-Moral die Unmoralischkeit aller Moralen aufzuspüren, entlarven, diskreditieren, dagegen immunisieren hilft, hat für sich genommen ja bereits die Anlage für einen paranoiden Spionage-Thriller?
„Moralisiert wird also immer auf beiden Seiten.“ Mag ja sein, aber Moralisieren ist exakt das Gegenteil des moralischen Abwägens. So wie der Begriff „moralische Forderung“ ein Nonsense ist. Moralisch lässt sich eben nichts fordern, es sei denn an sich selbst gerichtet. Da hat Luhmann ja Recht, dass Funktionssysteme wie ein Unternehmen oder „die Politik“ zunächst jenseits aller moralischen Erwägungen handeln müssen.
Politik ist konträr zu Moral. In der Politik werden Interessen vertreten GEGEN Interessen anderer; der Kompromiss ist ein Kampfergebnis. Die Machtlosen erheben Forderungen – es geht um Durchsetzung von Ansprüchen. „Moralische Argumente“ werden dabei gerne genutzt – appelativ, rhetorisch.
Moral denkt andersherum. Moral dringt nicht auf die Durchsetzung der eigenen Vorteile, sondern fragt zuvor: Muss ich die Interessen anderer, die für mich eigentlich ungünstig sind, als berechtigt anerkennen? Z.B. Klose, der auf ein Tor verzichtet, weil er den Ball mit der Hand über die Torlinie gedrückt hat. Er hat dabei den Standpunkt des Gegners innerlich akzeptiert. Klose, der Kantianer. Denn eine moralische Erwägung liegt überhaupt nur vor, wenn man zu den eigenen Interessen auf Distanz geht, die Positionen nebeneinander legt und vergleicht, sich selbst „neutralisiert“. Dadurch wird eine vernünftige Betrachtung möglich. „Wie lautet die Lösung des Problems?“ enthält insofern schon Moral, wenn als Problem die entgegengesetzten Interessenslagen anerkannt werden.
Es ist evident, dass sich moralisch außer in sehr einfachen Lebenssituationen wenig logisch einwandfrei entscheiden lässt. Moralische Entscheidungen können immer „suboptimal“ sein und trotzdem moralisch.
„Wichtig ist die Frage, warum Moral so beliebt, so hartnäckig, so widersinnig, so irrational in Anspruch genommen wird.“ Das ist eigentlich logisch. Menschen wollen ihre Interessen durchsetzen. Automatisch führt das dazu, dass man verlangt, der Kontrahent solle doch die Berechtigung „meiner“ Interessen einsehen. Man wendet sich im Streit an eine imaginäre „neutrale“ Instanz, um dort Hilfe für sich zu finden. Man fordert Moral, praktiziert aber Politik. Auch die 10 Gebote sind bspw. nicht Moral, sondern Politik. Es sind Forderungen.
Der ursprüngliche Handlungsmodus von Moral ist aber „geben“. Gehör geben, Recht geben, etwas von mir abgeben. Deshalb stimmt es auch nicht, dass Moral beliebt sei. Sie ist in Wahrheit unbeliebter als dreimal aufgewärmtes Essen. In der Moralischen Erwägung wendet sich ja die eigene Vernunft gegen uns selbst. Beliebt ist nur die moralische Rhetorik zum eigenen Vorteil. Das Bigotte ist ja an allen Ecken und Enden zu spüren.
Da wo Menschen Moral haben müssten, klafft meistens nur ein schwarzes Loch in ihrem Kopf. Wer handelt gerne gegen seine eigenen Interessen? Selbst von 100 Christen schaffen das kaum 10, würde ich schätzen. ;oral ist das, was alle fordern und wo sich alle drumherum pissen wollen 😉
Ich hatte schon immer den Eindruck, dass Moral und Vernunft sehr gut zusammenpassen.
Ja, deucht mir auch. Die berühmte „Stimme des Gewissens“ wird fälschlicherweise im Herzen verortet. Ich halte das für einen populären Irrtum. Und: „Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer“ …
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@Ricardo I couldn’t agree more and was about to write the same thing. In fact I have mailed Kusanowsky about a year ago on this matter. He and other diehard Luhmann followers ignore this critisism on Luhmann. This is nog very productive.
Moral wäre eine Kampftechnik zur Rettung der eignen Unschuld.