Die Verlusterfahrung der Transzendenz

Im Anschluss an den zurück liegenden Artikel Reaktanz und Vermeidungsverhalten hat sich eine hübsche Diskussion ereignet, in der es um die Anthropologie von René Girard ging. Oder vielleicht ging es weniger um diesen anthroplogischen Ansatz als mehr um die Frage der Erkenntnisvoraussetzungen für die Definition von Prämissen, die immer gebraucht werden, um innerhalb eines argumentativen Zirkels eine Anfangsposition zu finden. Es ging dabei um die Frage, wie man von der „menschlichen Natur“ wissen kann, wie sie beschaffen sei und welche Verwicklungen diese Kenntnis nach sich zieht. So kam zum Beispiel der Gedanke auf, ob die Offenbarungen der Religion ein Zeugnis geben für die Einsichtnahme in die menschliche Natur.

Das Interesse an dieser Diskussion, wie sie von @dasrettende angestoßen wurde, findet natürlich seinen Anfangspunkt im Prozess der Säkularisierung,  welcher eingebettet war in die Herausbildung einer funktionalen Differenzierunsform der Gesellschaft. Diese Differenzierungsform führte zu einem Verlust der Erfahrbarkeit von Transzendenz, da sich ein Wissen um soziale Realität nicht länger an einer Fremdreferenz der religiösen Welt orientieren konnte:
„Selbstreferentielle Autonomie auf der Ebene der einzelnen gesellschaftlichen Teilsystemen wird erst im 17./18. Jahrhundert eingerichtet. Vorher hatte die religiöse Weltsetzung diese Funktionsstelle besetzt. Vielleicht kann man sagen, daß der allem Erleben und Handeln zugedachte Bezug auf Gott als heimliche Selbstreferenz des Gesellschaftlichsystems fungierte. Man sagte etwa, ohne den Beistand Gottes könne keine Werk gelingen. Damit waren zugleich gesellschaftliche und moralische Anforderungen fixiert. Die religiöse Semantik war jedoch nicht als Selbstreferenz der Gesellschaft, sie war (und ist auch heute) als Fremdreferenz, als Transzendenz formuliert. “ (Luhmann, Niklas: Soziale Systeme, S. 624.).
Die Funktion der Religion in der vormodernen Gesellschaft war es, eine Lösung für das Problem der Beobachtung der unbestimmten Komplexität der Welt zu liefern. Demnach erschien die Welt als ein entropisches Chaos und als völlige Kontingenz. Mit dem binären Code von Immanenz und Transzendenz sorgte die Religion dafür, dass dieses Chaos neg-entropisch erschien: Die Welt existiere, man könne sie beobachten und ihr Sinn zuerkennen. Außerdem wurden Vorstellungen von Gott und von Heiligkeit dazu benutzt, um mit dem Paradox des Unbeobachtbaren umzugehen. Auf diese Weise verwandelte sich unbestimmbare in bestimmbare Kontingenz und so garantierte die Religion die Beobachtbarkeit transzendenten Bedingungen der Welt. Gott bot eine Garantie für die Welt als die Einheit ihres Seins. Sie war eine göttliche Heiligkeit, die eine vollständige Ganzheit all ihrer Möglichkeiten enthielt.
Schließlich wurde auch für das Problem des blinden Flecks von der Religion eine Erklärung geliefert. In den theologischen Begriffen wurde er von Gott besetzt. Gott spielte die Rolle eines Beobachters, der positionslos die Gesamtheit aller Beziehungen, einschließlich seiner eigenen Beobachtung beobachten konnte. So kam Gott selbst in der Welt vor und konnte sich zugleich von ihr unterscheiden.
Diese Beobachtungsmöglichkeit verschwindet jedoch in dem Maße, wie die Gesellschaft sich in eine Reihe von autonomen und operativ geschlossenes Teilysystemen ausdifferenziert.  Der Verlust entsteht dadurch, dass kein System einen übergeordneten Beobachtungsstandpunkt beanspruchen kann, wodurch die moderene Welt zugleich ihre Welterzählung verliert.

Die oben erwähnte Diskussion zeichnete sich dadurch aus, dass dieser Verlust gar nicht thematisiert wurde. Vielmehr konnte man den Eindruck gewinnen, dass der Verlust einer göttlichen Offenbarung gewissermaßen durch den Gewinn einer Offenbarung über die menschliche Natur ersetzt wurde; ein Gewinn freilich, der nirgendwo ungeteilt beansprucht wird, auch nicht in solchen Diskursen, die die menschliche Natur als Erkenntnisvoraussetzung, als unbeobachtete Beobachtung nicht mit gleicher Gewissheit akzeptieren, da auch eine entsprechende Ungewissheit nicht auf die zivilisatorischen Errungenschaften von Religion verzichten kann.