Die Empirieform der Netzwerkstruktur #netzwerktheorie #systemtheorie

von Kusanowsky

Wenn wie gegenwärtig die Frage gestellt wird, was aus der modernen, funktional differenzierten Gesellschaft werden könnte, so wäre es vielleicht hilfreich, statt aussichtslose Astrologie zu betreiben, die ohnehin nur zu Archivierungszwecken interessant sein kann, danach zu fragen, was aus der Gesellschaft im Laufe ihrer Evolution geworden ist. Denn tatsächlich löst eine neue Gesellschaftsform die alte nicht ab, sie überlagert sie nur. Dabei benutzt sie die überlieferten Formen als Elemente eines Mediums, in das sie sich als neue Form durch Überlagerung einprägt und sich imperial durchsetzt. Die so überlagerte Gesellschaftsform verschwindet dabei nicht, sonden erzeugt ihre Formen nach wie vor, dann allerdings unter veränderten Bedingungen: Ohne tribale Elemente, keine stratifikatorischen Formen, ohne stratifikatorische Elemente keine funktionale Formen. Und diese Beziehung düfte sich insbesondere in der Ausgestaltung eines Verbreitungsmediums niederschlagen, das bei seiner Herausbildung alles bereits Entwickelte und Erprobte übernimmt.
Wenn man dies zum Ausgangspunkt für eine Theorie nimmt, so kann mit einer Theorie der funktionalen Differenzierung dieser Zusammenhang nur erklärt werden, wenn dabei berücksichtig wird, was sie überhaupt erst ermöglicht hat, nämlich die überlagerte Gesellschaftsform des alten Typs. Und wie hartnäckig die Gesellschaft alten Typs ihre Formen als Elemente zur Verfügung stellt, konnte man an der Plagiatsaffäre um zu Guttenberg beobachten. Siehe dazu: Guttenberg soziologisch verstehen (und dann vergessen). Denn diese Affäre machte ja deutlich, dass die alte Strafizierung, die auch die Form des Adels hervorgebracht hat, keineswegs verschwunden ist und durch solche Affären weiterhin einen sozialen Erwartungshorizont reproduziert, der solche Formbildungen auf Dauer stellt.
Für die Herausbildung einer Netzwerkstruktur dürfte sich, wenn sich eine solche Theorie erhärten sollte, ähnliches beobachten lassen. Denn die Netzwerke überlagern die modernen Funktionssysteme, und sie benutzen dafür die Elemente, die die Funktionssysteme als Formen hervorbringen.
Die nächste Gesellschaft, sprich: der aktuelle Stand der Entwicklung, schafft die funktionale Differenzierung nicht ab ebensowenig wie die Moderne die soziale Schichtung und die Stratifizierung die Familie abgeschafft hatte. Im Gegenteil: die Überlagerung macht die zugrunde liegende Struktur erkennbar, beobachtbar, erforschbar und damit nützlich und anschließbar. Und dies führt dazu, dass diese Formen dann als Elemente umgewidmet werden können, die neue Formbildungen erzeugen. Ganz aktuell konnte man dies in der Diskussion um den Vortrag von Martin Oetting erkennen. Denn der Vortrag zeigt ja, wie einfach und wie plaubsibel plötzlich etwas erklärt werden kann, was noch wenige Jahre zuvor Anlass gab zu höchst empfindlichen und mit Verdächtigungen angereicherten Diskussionen. Alle Entwicklung einer Netzwerkform bleibt deshalb an der funktionalen Differenzierung interessiert und könnte sich ohne sie gar nicht entfalten.
Interessant wäre in diesem Zusammenhang dann aber, wie sich der Umbauprozess auf die strukturelle Koppelung der Systeme, die ja als Elemente verwendet werden, auswirkt. Denn die Funktion von Elementen kann durch ihre Relationierung im Selektionsprozess nur sicher gestellt werden, wenn ein Ereignis in einem System mit einem Ereignis in einem anderen, in einem Umweltsystem korreliert. Dafür ist aber wieder ein spezifisches Funktionssystem nötig, dass diese Simultanität von Ereignissen garantiert, für welches wiederum die selben Voraussetzungen und Resultate gelten muss, da ja auch dieses Funktionsystem strukturell mit seinen Umweltsystemen gekoppelt ist, damit es sicherstellen kann, was „irgendwie“ schon voher funktionieren muss. Daraus folgt einer infiniter Prozess einer Annahmenerweiterung von immer weiteren Funktionssystemen, die garantieren, was bereits garantiert sein muss – dass nämlich nur durch strukturelle Koppelung die autopoietische Operativität sicher gestellt wird. Wir hätten es praktisch mit der Neuformulierung des Apriori-Problems zu tun, dessen Lösung hier in der unwahrscheinlichen Emergenz besteht, die aus der Gleichzeitigkeit aller Ereignisse resultiert. Dieses oben angedeutete „irgendwie“ scheint in den Bedingungen der Evolution der Systeme und ihrer Geschichte zu liegen, als historisches Apriori.
„Irgendwie“ ist Sprache notwendig, damit strukturelle Koppelung zwischen selbstreferenziellen Sinnsystemen funktioniert. Das gilt gewiss für die Koppelung von Kommunikation und Bewusstsein. Für die Koppelung von Funktionssystemen reicht Sprache, wenn auch unverzichtbar, allerdings nicht aus. Es muss eine Form der Erfahrung geben, deren Spezifik die Koppelung von Sprache ausmacht. Diese Form der Erfahrung hat sich in der modernen Gesellschaft in der Dokumentform niedergeschlagen und hatte in einem Umbauprozess die ganze Gesellschaft überzogen, so dass sich die Verkoppelung ergeben konnte, die notwendig war, um gemeinsame Annahmen über den Kommunikationsprozess bilden zu können. Beispielsweise kann das Rechtssystem nur solche Art von wissenschaftllichen Gutachten benutzen, die einer Erfahrungsform entsprechen, die auch dem Rechtsssystem geläufig ist. Schamanen-Tänze zur Verdeutlichung einer wissenschaftlichen Einschätzung wären nicht zu gebrauchen. Das Wissenschaftssystem kann wiederum nur dann Gutachten verfassen, wenn sich das empirische Material wiederum aus der Benutzung der Dokumentform in anderen Funktionssystemen ergibt. Der jüngst abgelaufene „Kachelmann-Prozess“ machte sehr deutlich, wie schwierig dann die Benutzung dieser Dokumentform ist, wenn die Aufmerksamkeit, die ja wiederum durch Nutzung der selben Dokumentform erzeugt wird, so komplex geworden ist, dass sie praktisch ihre Überzeugungskraft durch Inflationierung verliert und dadurch beinahe vollständig in ihre Kontingenz zerfällt.
Infofern dürfte man empirisch mit einem Prozess der ungleichzeitigen Entwicklung rechnen. Einerseits verbleiben die bislang herausgebildeten Formen konservativ, weil es keine anderen Möglichkeiten gibt sie als Elemente für etwas anderes zu benutzen, andererseits ist die Neuformierung von Elementen zwar schon bemerkbar, aber sie sind, weil wenig differenziert, nur eine szenetypische Form, deren Bedeutung marginal bleibt.