Reflexivität statt Rationalität
von Kusanowsky
Autopoiet hat einen sehr schönen Artikel geschrieben über eine neue Kunst für eine neue Gesellschaft, den zu lesen ich sehr empfehlen möchte.
Wenn man dem, was in dem Artikel unter „Emanzipation der Kontingenz“ geschrieben steht zustimmen will, weil man allen Grund zu der Annahme hat, dass die virulenten Dämonien, die das Internet herbeizaubert, wohl doch nicht anders reguliert werden als durch einen „Prozess der Zivilisation“, der maßgeblich durch Vernetzung selbst vonstatten geht, so kann man jederzeit sagen, dass an einer „Emanzipation der Kontingenz“ kein Weg vorbei führt. Denn wie man weiß stellen Systeme nicht nur Probleme her, sondern auch Lösungen und dies auf der Basis derselben Operativität. Daher mag sich, wenn man eine prinzipielle Unerfahrenheit die Zukunft betreffend berücksichtigt, etwas Skepsis bemerkbar machen. Man könnte diese Skepsis so formulieren: sollte sich eine „Emanzipation der Kontingenz“ einspielen, dann wird es niemanden geben, der davon etwas merkt, weil das Wissen um die Problemsituation am Ende der funktionalen Differenzierung selbst in Kontingenz zerfällt.
Diese Problemsituation wäre historisch geworden, wräe dann ein Fall für eine „nächste Archäologie“, die bald damit auffällt, dass sie Datenspuren auf irgendwelchen liegen geblieben Servern birgt und sich zweifelnd fragen wird, worum es sich bei alldem handeln könnte.
Und wenn man annimmt, dass Informatiker bald damit anfangen, Archäologie zu betreiben, dann dürfte man auch in dieser Hinsicht annehmen, dass nicht mehr viel von dem, was wir noch Archäologie (oder auch Philologie) nennen möchten, übrig bleiben kann.
Deshalb frage ich mich, wie unter den veränderten Bedingungen einer Netzwerkdifferenzierung Kontingenz erfahr werden könnte; und wichtig: wie die Abschneidung von Kontingenz funktionieren wird. Diese Fragen sind keineswegs eine esoterisch-futuristische Spielerei, sondern scheinen mir ganz im Gegenteil der alltägliche und sehr nützliche Ausgangspunkt für einen „Prozess der Vernetzung“ zu sein, wenn wir annehmen wollen, dass er längst im Gang ist. Ich vermute daher, dass sich vielleicht und ganz anders als Systemtheoretiker meinen, sehr wohl eine integrationsfähige Theorie ausbilden kann, durch welche die ehemaligen Funktionssysteme evolutionär aufgehoben werden könnten. Das geht vermutlich durch Herausbildung einer Form von Erfahrung, die nicht mehr Rationalität in Aussicht stellt, sondern Reflexivität permanent überprüft. Es wäre dann Reflexivität, die Anschlussfähigkeit integriert. Das bedeutet, dass nicht mehr danach gefragt wird, von welchem Fach man ist, welchen Beruf man hat, welche Methoden man bevorzugt; und schon gar nicht, dass Bekenntnisfragen abgeprüft werden müssten.
Stattdessen dürfte die Paradoxiehaltigkeit von Sinnangeboten von Erwartbarkeit in performative Indifferenz überführt werden. Und wer da nicht mithalten kann, wer sich als reflexiv untauglich erweist, den daraus resultierenden „Schwachsinn“ auszuhalten, scheidet aus durch Verlust von Anschlussfähigkeit. (Vorüberlegungen für eine Paranoik).
Funktionieren könnte dies gerade dann, wenn die technikintensiven Voraussetzungen für die Kommunikation durch Technik selbst erweitert und eingeschränkt werden, dass für Rationalität allein Roboter und Software zuständig wären, weil diese Verfahrensweisen die einzigen sind, auf die man sich tatsächlich verlassen kann. Ob das dann immer zum Vorteil einzelner Menschen ist, sei dahin gestellt.
Hinzu kommt die Überlegung, dass alle Selbstbeschreibungen – das dürfte für die Kunst genauso gelten wie für alle anderen Systeme – sich als vernetzungstauglich erweisen müssten und nur dadurch erhielten sie ihre Reflexivität. Alle Theoriekohärenz, gleichviel welcher Art von Theoriebildung bevorzugt würde, müsste sich dadurch ergeben, dass sie die fraktale Ordnung des Netzes, durch das sie ermittelt werden kann, vermitteln müsste. Und vielleicht wäre für eine Grenze der Reichweite von Netzwerken der Unterschied von Transparenz und Intransparenz die einzig zu überwindende Hürde, an welcher zu scheitern der gleiche Normalfall wäre wie der, den Raum und den Grad der Vernetzung zu erweitern oder zu verringern.
In dieser Hinsicht dürfte für einen „Emanzipationsprozess der Kontingenz“ an jedem Tag ein neuer Anfang gefunden werden.
Sehr schön. Die Archäologie-Metapher gefällt mir ausgesprochen gut, insbesondere wenn man in Rechnung stellt, dass die Archäologen und ihre Werkzeuge selbst wiederum Spuren hinterlassen – und damit für die wechselseitigen Kontrollanfragen der Netzwerke nicht privilegiert behandelt werden. Warum auch?
Man müsste hinzufügen, dass diese Informatik-Archäologie in diesem Sinne keine spezialisierte Forschungsrichtung ist, wie wir das noch kennen. Eher wird es kollaborative Forschung sein. Es wird in irgendeinem Zusammenhanghang eine Hyothese aufgeworfen und anschließend durch das Netzwerk Fragen ausgeworfen, die bestimmte Spezialisten beantworten, dazu zählen dann Informatiker, Linguisten, Soziologien, Historiker usw. Die Ergebnisse werden werden durch das Netzwerk wiederum abrufbar und können für andere Zwecke und Kontexte weiter verwendet werden. Und die gegenwärtig interessante Lernanforderung lautet, wie man auf variierende Begriffsverwendung und babylonische Sprachverwirrung reagiert. Noch ist alles von einem Rationalitätsparadimga überformt, das unermüdlich eine aussichtslose Begriffsklärung an den Anfang stellt, statt sich reflexiv auf Sprache und Begriffe einzulassen und es gleichsam der Trolligkeit des Netzes zu überlassen, die Kontingenz der Begriffe und ihre kontextspezifische Verwendung iterativ einzuschränken. Kurz gesagt: es wird noch viel zu häufig versucht, möglichst gescheite Dinge mitzuteilen (daher dieser Verdruss um das Bullshit-Problem). Viel interessanter wird die Forschung erst wieder, wenn die Reaktibilität des Netzes getestet würde und die Testergebnisse wiederum als Reaktion in das Netz zurück gegeben würden. Die Faszination einer solchen Forschung dürfte sich aus dem Ansteigen von Überraschungsmomenten ergeben. Und ich kann mir sehr gut vorstellen, dass solche Reaktionsreaktionen Kontingenz enorm schnell und möglicherweise auch sehr hartnäckig verringern können, weil ein Selektionsspielraum für Anschlussmöglichkeiten sich von selbst verkleinert. Rationalität würde damit reflexiv behandelbar, sie würde nicht verschwinden; sie wäre zwar nicht mehr das Anforderungsproblem, aber sie wäre reflexiv aufgehoben, eingeschlossen und selbstreferenziell immer schon mitberücksichtigt, allein aufgrund der Tatsache, dass Maschinen, Roboter und Software immer mit im Spiel sind.
„Man müsste hinzufügen, dass diese Informatik-Archäologie in diesem Sinne keine spezialisierte Forschungsrichtung ist, wie wir das noch kennen. […] Die Faszination einer solchen Forschung dürfte sich aus dem Ansteigen von Überraschungsmomenten ergeben.“
+1
aus 2010: http://twitter.com/#!/siggibecker/status/7533995470
[…] seiner 15 Thesen gerade eine ganz launige Diskussion unter Systemtheoretikern (autopoiet und Differentia) angestoßen, die sich darüber unterhalten, wie denn wohl eine solche Kunst beschaffen sein […]