„Es ist alles ganz einfach…“ 1

von Kusanowsky

Das Internet ist ein Belastungstest für die Problemlagen, die die moderne Gesellschaft im Laufe ihrer Evolution ausdifferenziert hat.
Nicht erst seitdem wir Computer und Internet nutzen, aber spätetestens seitdem wird bewusst, dass die moderne Gesellschaft auf eine Überforderung hinaus läuft. Wir wissen noch nicht genau, wie damit umzugehen ist. Das ist die Kernthese, die Dirk Baecker in seinen „Studien zur nächsten Gesellschaft“ diskutiert, nämlich, dass das Aufkommen eines neuen Verbreitungsmediums die Gesellschaft zuerst einmal überfordert; und anschließend werden, sobald der Problemdruck sublimiert werden kann, Wege gesucht, um die neuen Möglichkeiten anzuwenden, also mit dem „Überschuss-Sinn“ umzugehen. Aber man müsste etwas genauer hinschauen, denn nicht erst das Internet überfordert die Gesellschaftssysteme. Überforderungen waren auch vorher schon an der Tagesordnung, nur vorher handelte es sich lediglich um Forderungen, deren Nichterfüllung als zu behebende Defizite auf eine offene Zukunft verlagert wurden. Probleme wurden nie gelöst, sondern verschoben.
Das Internet ermöglicht, dass diese unerfüllten Forderungen nunmehr als Überforderungen zutage treten: Urheberrecht, Datenschutz, Jugendschutz, Sicherheit, Freiheit: alles, was in dieser Hinsicht jemals als Forderungen aufkam, ist nunmehr Überforderung, ist eine Belastungsprobe für den Umgang einer Gesellschaft mit ihren selbstgemachten Problemen. Man könnte das auch so formulieren, dass es den Gesellschaftssystemen immer schwerer fällt, ihren eigenen Problemen aus dem Wege zu gehen, weil sich langsam zeigt, dass die Kapazitäten erschöpft sind. Diese Kapazitäten sind die Verhältnisse, durch die sich die Strukturen der Problementfaltung reproduzieren können, die solange ihre Haltbarkeit durchsetzen, wie die Umwelt dieser Systeme diese Komplexität gleichsam „verdauen“ kann. Entgegen der landläufigen Annahme, dass zuerst die natürliche Umwelt an ihre Belastungsgrenzen stößt, dürfte man vermuten, dass dies nur die letzte Grenze ist. Tatsächlich werden alle sozialen Systeme, sofern sie für einander als Umweltsysteme fungieren, mehr oder weniger gleichzeitig einer Belastungsprobe unterzogen.
Am Beispiel der Finanz- und Schuldenkrise dürfte man das sehr gut beobachten können. Denn die Probleme sind ja weder neu noch unvorhersehbar. Eine Politik der ständig wachsenden Staatsverschuldung ist nichts anderes als ein Begleitphänomen einer Wachstumsökonomie. Alles wächst, wenn die Wirtschaft wächst, die Gewinne, die Verluste, die Risiken, der Reichtum, die Armut, die Müllberge, die Bürokratie, der Straßenverkehr, die technische Komplexität und konsequenterweise auch die Staatsverschuldung. Und schon, wenn man nur ansatzweise über die Exponentialfunktion des Zinseszins nachdenkt, kann man voraussehen, dass mit jeder weiteren Schuldensteigerung immer auch die Zinsen wachsen, welche schließlich so hoch werden, dass weitere Verschuldung immer schwiergier wird. Die gegenwärtige Politik versucht aber immer noch Wege zu finden, um weiteres Schuldenwachstum zu ermöglichen. Noch geht es, aber man kann jetzt schon sehen, dass bald Land in Sicht kommt, weil auch in anderer Hinsicht, Wachstumsgrenzen sichtbar werden.
Der Überforderung wird vorerst noch mit Durchhaltestrategien begegnet. Für die fortlaufende Ermittlung und Erprobung von Durchhaltestrategien haben soziale Systeme synchron zur Dauer ihres Problemerfahrungsprozesses ein Immunsystem entwickelt, das dadurch funktioniert, dass es von der empirisch feststellbaren Determinierung der Prozesse ablenkt und sich auf metaphysische oder symbolische Bewältigungroutinen spezialisiert, durch die schließlich möglich wird, Weltoffenheit zu ertragen. So stehen zwar Determinismus und Weltoffenheit in einem paradoxen Verhältnis, trotzdem ist ihre Erfahrbarkeit komplementär bedingt, weil man für beides jeweils eine Unterscheidung braucht, die in ihrer Anwendung aufeinander verweisen.
Eine häufig zu beobachtende Durchhaltestrategie besteht in der durch nichts entmutigenden Auffassung, „es sei alles ganz einfach“. Gefunden gerade bei ctrl-verlust.net. Dort heißt es in einem Artikel, der das politische Denken der Piratenpartei zusammenfasst:

Es ist also eigentlich ganz einfach: Die Piraten verstehen die öffentlichen Institutionen als Plattformen, die Teilhabe ermöglichen. Und auf jede dieser Plattformen fordern sie diskriminierungsfreien Zugang für alle, weil sie im Internet erfahren haben, dass sich nur so Wissen und Ideen – und damit auch Menschen – frei entfalten können.

Es wird alles frühere Scheitern an solchen und ähnlichen Auffassungen mühelos (also: „ganz einfach“) ignoriert, weil sich jetzt durch die Verbreitung des Internets Bedingungen ergeben, durch die alles, was zu diesem Thema bislang gesagt wurde, noch einmal gesagt werden kann: Partizipation, Gleichheit, Freiheit, Menschlichkeit. Die Forderungen werden ganz einfach wiederholt; und ein weiteres Mal können die Defizite auf eine noch offene Zukunft verschoben werden. Dass solche Forderungen aber noch nicht überall als Überforderungen verstehbar sind, ist kein Einwand gegen diese hier angestellten Überlegung, sondern nur eine Ergänzung. Für die einen ist es schon zuviel, für die anderen noch nicht genug. Es bleibt immer noch genügend Raum, um weitere Forderungen zu stellen, die zu ihrer Akzeptanz oder Ablehnung auf Verstärkungen angewiesen sind, um sich im anschwellenden Chor der Fürbitten noch Gehör zu verschaffen.
Fortsetzung

Siehe dazu auch:
Verlust der Privatsphäre – Angst und Hoffnung