WIKI – Wie im Kindergarten 1

von Kusanowsky

Das Ringen um die Umformatierung der Dokumentstruktur

Wikipedia als nichtkommerzielles Internetprojekt gehört neben den kommerziell erfolgreichen Konzepten zu den erstaunlichsten Phänomenen, die das Internet seit seiner Durchsetzung hervorgebracht hat. Dieser Erfolg wird auch nicht durch die beobachtbaren Streitigkeiten gemindert, die sich um Relevanzkriterien drehen, um Qualitätsstandards oder Neutralitätsformulierungen. Vielmehr dürfte gerade der Streitwert dieser Diskussionen nicht unerheblich zum Erfolg von Wikipedia beigetragen haben. Woraus ergibt sich der Streitwert? Warum kann es sich lohnen, sich als ehrenamtlicher Autor bei Wikipedia zu engagieren, wenn vordergründig nicht einmal „Gottes Lohn“ als Entgelt für die Arbeit in Aussicht steht und man obendrein gefahrläuft, das eigene Nervenkostüm erheblich strapazieren zu müssen?
Eine empirische Soziologie, die sich für solche Fragen interessiert, würde nun die Motivstruktur der Wikipedia-Autoren, würde ihre Beteilungsintensität untersuchen, die Organisationsstruktur, Entscheidungs- und Verfahrensweisen, würde versuchen, eine Herkunfts- und Sozialstrukturanalyse der Autorenschaft anzustellen. Vielleicht wäre für Literaturwissenschaft die Frage interessant, ob man in den Wikipedia-Artikeln eine bestimmte Prosaform ausmachen kann, die über den Umgang mit literarischen Texten Auskunft gibt, für Historiker könnte interessant sein, welches populäre Geschichtsbild durch Wikipedia-Artikel entsteht, wenn historische Zusammenhänge, die von der Geschichtsforschung hübsch getrennt in verschiednene Fächer aufgeteilt sind, bei Wikipedia durch Verlinkung zusammengefügt werden können. Pädagogen könnten sich fragen, ob und in welcher Weise das Schreiben von Wikis für den Schulunterricht interessant sein könnte. In vielerlei Hinsichten könnte man also bei Wikipedia bedeutende Phänomene finden, die für eine auf die Produktion von Textdokumenten angepasste Wissenschaft geeignet sind. Schließlich findet man auch innerhalb der Wissenschaft reichlich viel Zündstoff für Diskussionen, die sich um die Aussagekraft derjenigen Dokumente drehen, die von der Wissenschaft zur Dokumentation ihrer Forschungsergebnisse angefertigt werden. Man könnte also, um die Eingangsfrage nach dem Streitwert wieder aufzugreifen, vermuten, Wikipedia sei so eine Art Trivialforschung, Trivialwissenschaft, Wissenschaft für alle, eine Art gesunkenes Kulturgut. Man könnte Wikipedia entsprechend betrachten als populäre Parodieform des Wissenschaftsgeschäfts. Und ein Detailvergleich zwischen elitärer Wissenschaft und populärer Produktion von Wiki-Artikeln dürfte einige höchst aufdringliche Gemeinsamkeiten feststellen: Machtkämpfe um Prestigepositionen, Distinktionsgewinne, Vorführung von Durchsetzungsfähigkeit und Autorität, Pflege von Eifersucht, Eitelkeiten und Idiosynkrasien, intrigante Verdächtigungen, die Verwicklungen nach sich ziehen und Verwicklungen, die Verdächtigungen erzeugen und viele solcher Phänomene mehr, die aus einer Tradition der akademischen Wissenschaft sehr gut bekannt sind.
Aber wollte man auf diese Weise dem Phänomen Wikipedia nur mit Geringschätzung begegnen, würde man der Sache um die es geht, kaum gerecht. Denn die Frage nach dem Streitwert von Produkten der Wissenschaft stellt sich ja auch dann, wenn man die Parodieform in Original als bereits präexistent vorgezeichnet identifiziert. Man müsste dann die Frage nach dem Streitwert wissenschaftlicher Dokumente also auch an die akademische Wissenschaft richten können. Und weiter: es ist ja nicht nur die Wissenschaft, die sich über die Ergebnisse ihres Produktionsprozesses irritiert; nicht anders findet man es in der Politik, natürlich bei der Rechtsprechung und ganz besonders in der Wirtschaft, in der nichts so heilig ist, wie die Aussagekraft von Statistiken und Prognosen. Und wer glauben möchte, noch wichtiger als das sei dort das Geld, sollte genauer hinschauen: denn auch das, was die moderne Wirtschaft unter Geld versteht, kommt der Bedeutung der Dokumentform sehr nahe: Bei Geld handelt es sich um dokumentierte Zahlungsversprechen, die durch die prinizipielle Zahlungsunfähigkeit aller Beteiligten im arbeitsteiligen Produktionsprozess entsteht. Und da über diese Zahlungsversprechungen weitere Zahlungsversprechungen gemacht werden können, stellt sich auch hier – am Ende der Eskalation eines Blasenbildungsprozesses  – die Frage danach, was diese Dokumente eigentlich aussagen, was die Versprechen eigentlich halten können.
Es sei der Kürze halber eine These formuliert: die Dokumentform ist die Empirieform einer funktional-differenzierten Gesellschaft. Alles, was als erfahrbar, wissbar, überprüfbar in Erscheinung tritt, muss durch die Dokumentform in Erscheinung treten. Und die nachfolgend interessierende Frage ist, was geschehen mag, wenn man beobachten kann, dass diese Dokumentform peu à peu zerrüttet wird; wenn also diejenige Form, durch die Welt erfahrbar wird, insbesondere durch das Internet innerhalb der Strukturen seiner Verfügbarmachung durch Massenmedien wie das Internet verschwindet. (Weiter)

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