Differentia

Monat: Oktober, 2010

Tabu und Verbot – Überlegungen zur Empirieform der modernen Gesellschaft 5

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Ein Unterschied zwischen Verbot und Tabu besteht darin, dass über Verbote gesprochen werden kann, ja, gesprochen werden muss, damit sie z.B. begründet werden können. Tabus entstehen aber durch Routinen der Vernachlässigung immer nur einer Seite einer zweiseitigen Form der Beobachtung. Wichtig dabei ist, dass diese Einseitigkeit eingeübt werden kann, ohne, dass im Verlauf der Kommunikation die Mechanismen der Sanktionierung dieser Einseitigkeit auffallen. Ein Tabu kann als Entscheidungsmarkierung zur Ausgrenzung von sozialen Übereinkünften zustande kommen und wird zu einer paradoxen Erwartung der offensichtlichen Unsichtbarkeit. Das, was eine Gesellschaft als Tabu behandelt, ist dabei genau das, was sie aus dem öffentlichen Gespräch ausgrenzen muss, weil sie es nicht zulässt, über diese Dinge öffentlich zu sprechen. In einer Gesellschaft, in der es aber eigentlich nichts gibt, über das man nicht kommunizieren könnte, ist letztlich auch ein Tabu ein Thema, dass im Verlauf der Abspulung von entsprechenden Routinen zur Sprache kommen muss, aber wenn dies geschieht, dann immer nur als Skandal.
Ein Tabu ist ein Gebot, das deshalb durchgehalten werden kann, weil das Gespräch darüber nur als Skandal möglich wird. Und die interessante Frage ist, wie sicher gestellt werden kann, das niemand einem solchen Skandal ausweichen kann. Gegenüber der Verletzung eines Tabus muss man, so scheint es, immer Position beziehen. Die Tabuverletzung kalkuliert eine erwartete Störung von Erwartungshaltungen ein. Eine in einem spezifischen Medium der Kommunikation ermöglichte Tabu-Wahrnehmung verstärkt insbesondere Selbstreflexion: Man erkennt erst dann ein Tabu und seine soziale Funktionen, wenn man bereit ist, ein Tabu als Akt einer Störung wahrzunehmen.
Ein Tabu ist praktisch ein Mechanismus eines sozial artikulierten Vermeidungsgebotes. Indem eine tabuisierte Differenz symbolisch aus der Welt der Sprache und des Handelns ausgegrenzt wird, wird es indirekt als Tabu innerhalb der aktuellen Kommunikation markiert. Eine tabuisierte Differenz spaltet dabei die Innenseite der Unterscheidung, den Reflex der Unterscheidung, der mit der Wahl der Unterscheidung ursprünglich verboten war, von ihrem späteren Gebot – der Vermeidung ihres Gebrauchs. Das Aussprechen eines Tabus ist damit doppeldeutig: es grenzt eine Differenz aus der Sprache aus und hinterlässt einen Nicht-Ort, eine Art anwesende Abwesenheit. Das Schweigen ist dabei zugleich die Macht desjenigen, der die Zeit und die Art und Weise bestimmt, mit der das Gebot formuliert wird.
Tabus wirken gleichsam als Schnittstelle zwischen Innen und Außen, zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit. In diesem Sinne fungieren sie vor allem auch als Medien komplexer kognitiver Verarbeitungsweisen. Man könnte das Tabu beispielsweise etwa als die Kehrseite der Assoziation betrachten. Während die Assoziation einen überraschend neuen Zusammenhang zwischen bisher unbekannten Elementen erst stiftet, zwingt das Tabu dazu, das in der Vergangenheit Ausgegrenzte als unterdrückte Differenz wieder nachträglich in den aktuellen Diskurs und in die Wahrnehmung aufzunehmen. Ein Tabu arbeitet mit dem verdrängten Affekt, indem es mit dieser Verdrängung spielt. Das Tabu ordnet zudem die Beziehungen zwischen Vermeidung und ausgegrenzter Sichtbarkeit, die Assoziation zwischen herbeigeführter Ähnlichkeit/Differenz und provozierter Nähe zwischen den Elementen, die selbsttätig Neues zu erzeugen scheint. Tabus schärfen die Beobachtung einer auf Selbstbegrenzung hin orientierten Wahrnehmung: Tabus lassen erkennen, dass die spezifische Art ein Tabu zu erzeugen, einen untergründigen medialen Raum des Verdachts konstituiert. Im Raum des Tabus liegt entsprechend ein submedialer Raum des latenten Selbstverdachts eingeschlossen. Und es müsste noch zu zeigen sein, wie dieser Selbstverdacht in der Empirieform der modernen Gesellschaft begründet liegt. (Weiter)

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Paradoxie und Geheimnis – Überlegungen zur Empirieform der modernen Gesellschaft 4

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Es ist eigentlich noch gar nicht lange her, dass die Utopie einer Öffentlichkeit, der ein Vermögen zur Aufklärung gesellschaftlicher Verhältnisse zugeschrieben werden konnte, einen reflexionssteigernden Attraktor ausbilden konnte. Aber trotz aller Zumutungen entsprechender Unterstellungen, die zuweilen immer noch zu hören sind, hat eine aufklärungsbewirkende Öffentlichkeit allenfalls utopischen Charakter. Das liegt vor allem an der Vielzahl individueller Publizitätskonstrukte, die nachhaltig alle Versuche eine Welt als zusammenhangbedingtes Geschehen universalisieren zu können, unterlaufen. Statt Wissen, wie konsensfähig auch immer gedacht, verbreiten zu können, wird die Wirklichkeit von Wissen durch seine Möglichkeit ersetzt, was sich durch die Beobachtung erhärtet, dass alle Öffentlichkeit eher flüchtig herstellbar ist und aus zahllosen Kommunikationen hervor gehen kann. Massenmedien verstärken dieses Chaos durch einen ständigen und unüberschaubaren Strom von Angeboten, reduzieren allerdings auch Komplexität durch thematische Kumulation und Konsonanz, die keineswegs widerspruchsfrei ausfällt, aber wohl gerade deshalb die Wahrnhemung zu rhythmisieren vermag. Als Folge davon entsteht Öffentlichkeit allenfalls in der Entfaltung höchst widersprüchlicher Funktionen und Differenzierungen, die insbesondere Desintegration, Flexibilisierung und Individuierung sozialer Realitäten nach sich ziehen. Differenzierung und Individuierung zeigen wiederum, dass es keinen Zustand schrankenloser Öffentlichkeit gibt, sondern immer nur simultane Parallelöffentlichkeiten, deren Teilnehmer und Inhalte erheblich variieren. Sie bilden für Unbeteiligte jeweils funktionale Mysterien, oft sogar im reflexiven Sinne, wenn diesen ihre Existenz unbekannt bleibt. Trotz enorm gesteigerter Mobilität, Medienvielfalt und Dokumentpoduktion ist man nicht viel weiter gekommen als die alte Weisheit des Sokrates zu wiederholen. Unzählbare, für einanander unzugängliche Kommunikationen bilden Hindernisse, die einen Zugang zu einem Großteil des Weltgeschehens blockieren; und ein nicht zu beendender Zwang zur Steigerung der Selektivität steht eine Sturzflut von Informationsangeboten unversöhnlich gegenüber. Die Paradoxie eines Zeitalters, das einstmals viele Gründe fand für einen überschwänglichen Ausbau von Massenmedien, liegt in einem Antagonismus von universellem Öffentlichkeitsanspruch und ständig verknappender Aufmerksamkeit mit der Folge, dass Massenkommunikation nur durch temporäre Ignoranz der meisten Informationsangebote zu realisieren ist. So kann es dann kommen, dass Paradoxien, wenn sie öffentlich auftreten, wenigstens noch einen Unterhaltungswert beweisen können. Denn Öffentlichkeit und Geheimnis sind nur Begriffsgegensätze, die sich in ihrer Plausiblität gegenseitig bedingen. So setzt jede Geheimhaltung gerade die Bekanntheit dieser Tatsache voraus, und wenn man von offenen Geheimnissen und geheimen Öffentlichkeiten spricht, denkt man dabei keineswegs zuerst an skurrile Wahrnehmungsmuster, sondern an die tägliche Praxis taktvoller Tabuisierung von Themen und an die übliche Bildung kleiner Verschwörungen hinter anderer Leute Rücken. (Weiter)

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