Differentia

Kornkreise: Warum man Aufklärern keine Selbsttäuschung nachweisen kann

Im Blog mit dem klangvollen Namen „Astrodicticum Simplex“ gibt’s einen hübschen Artikel, der sich mit der Selbsttäuschung von Esoterikern beschäftigt, die in England auf dem Feld eines Kornkreises seltsame kosmische Energien empfangen. Dokumentiert wurde solches in einem Feature, dass im norwegischen TV zu sehen war. Bei „Astrodicticum Simplex“ wird dieses Feature als Youtube-Posting wiederrum vorgeführt und mit genüsslicher Geringschätzung kommentiert, weil angeblich alles über diese Kornkreise einwandfrei bewiesen sei. Bleibt also nur, sich entweder über Menschen lustig zu machen, die trotzdem daran glauben möchten oder, was der gleichen Niveau einer Humanmoral entspricht, ihnen Mittleid entgegen zu bringen, egal, ob solches überhaupt begehrt wird. In allen Fällen hat der Aufklärer, der Wahrheitsversteher, der Weltrealist alle Beweise auf seiner Seite:
  1. Die Kornkreise sind von Menschen gemacht.
  2. Sowohl diese Wahrheit als auch der Irrtum über diese Wahrheit sind von Menschen gemacht.
  3. Ja, sogar die Einsichtsfähigkeit in die Wahrheit und die Nichteinsichtsfähigkeit in den Irrtum muss irgendwie menschlicher Natur sein. Deshalb endet der Blogartikel mit den seufzenden Worten: „Tja… wenn die Menschen sich schon so bereitwillig und vorsätzlich selbst was vormachen, dann ist hier wohl jede Hoffnung verloren. Mit rationalen Argumenten ist dem nicht beizukommen.“

Am Irrtum der anderen zerschellt jedes rationale Argument des Aufklärers.

Dass es sich dabei nur um die Inszenierung eines TV Senders handelt, könnte jeder leicht nachvollziehen, der diese Seite, die auch bei „Astrodicticum Simplex“ verlinkt ist, anschaut. Hier bittet der Sender um Kommentare und um die Einsendung von Ideen, die in kurzen Filmen umgesetzt und gesendet werden können.

Ha, ha… Florian Freistetter, der Autor des zitierten Blogs kann kein Norwegisch und recherchieren ist auch nicht sein journalistischer Schwerpunkt. Aber: wie könnte sich der Aufklärer nur so täuschen, wollte man in dieser Hinsicht nicht einfach das gleiche Erklärungsmuster anwenden,  das der Autor selbst benutzt: dass also der Irrtum durch Menschen selbst verschuldet ist?
Der Irrtum – hier handelt sich um Manipulation: um  eine Inszenierung von Esoterikern, die an Ufos glauben – entsteht durch die Dokumentform. Die Dokumentform macht nicht nur den Beweis möglich, sondern auch die Täuschung. Aber der Aufklärer kann diesen Zusammenhang nicht zweimal reflektieren. Er kann ihn nur einseitig verwenden, nur hinsichtlich der Rationalität der eigenen Argumente. Deshalb kann man ihm mit keinem Beweis Selbsttäuschung nachweisen, weil alles, was nachweisbar ist, durch den Aufklärer schon als bewiesen vorausgesetzt wird. Wird aber Manipulation aufgedeckt, liegt die Ursache dafür auf der Gegenseite. Bemerke: Die hier zitierte Sendung des norwegischen TV- Senders heißt: „Den andere siden.“ 

 

 

Kornkreise und was daran nicht stimmen kann. Beweisbarkeit und Täuschung ergeben sich durch die gleiche Form, denn auch die Beobachtung eines Kornkreises ergibt sich dadurch, dass der Kornkreis nur als Dokument in Erscheinung tritt. Das Kornfeld dient als mediales Substrat zur Abbildung einer Kreisform.
Foto: Wikipedia

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Alles wird an­ders, wenn es durch Schrift ver­mit­telt wird

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Um 800 v. Chr. führt die Er­fin­dung des pho­ne­ti­schen, grie­chi­schen Al­pha­bets einen fol­gen­rei­chen Wan­del der Kom­mu­ni­ka­ti­ons­struk­tu­ren her­bei. Die Durch­set­zung des Me­di­ums Schrift löst die Wis­sens­ver­mitt­lung von der Ort- und Zeit­ge­bun­den­heit einer vor­nehm­lich münd­lich kon­zi­pier­ten, dia­lo­gisch und psy­chago­gisch wir­ken­den Über­mitt­lung von Wis­sens­in­hal­ten. Die dar­aus re­sul­tie­ren­den Pro­ble­me hat be­reits der der „erste Me­di­en­phi­lo­soph“ Pla­ton im Phaid­ros und im Sie­ben­ten Brief ge­äu­ßert. Vor allem kri­ti­sier­te er die Los­lö­sung des Au­tors vom Text, da das Ge­schrie­be­ne „fest steht“ und „sich nicht ver­tei­di­gen kann“. Der Autor ver­zich­tet durch die Ver­schrift­li­chung sei­ner Ge­dan­ken auf die Mög­lich­keit, si­tua­ti­ons-​ und adres­sa­ten­ge­recht zu spre­chen und seine Ideen dem Re­zi­pi­en­ten­kreis ent­spre­chend zu ver­mit­teln. Das Schrift­stück als sol­ches kann sich den Leser nicht aus­su­chen. Für phi­lo­so­phi­sche Au­to­ren stellt sich da­durch zu­gleich das Pro­blem, dass ihre Texte in die Hände von Men­schen ge­ra­ten, die mit ihren po­li­ti­schen oder re­li­giö­sen Im­pli­ka­tio­nen nicht ein­ver­stan­den sind. Schrift­li­che Kom­mu­ni­ka­ti­on hat ein Pro­blem der Adres­sie­rung. Ver­schärft wird die Pro­ble­ma­tik durch elek­tro­ni­sche Kom­mu­ni­ka­ti­ons­tech­no­lo­gi­en, die nicht nur die räum­li­che und zeit­li­che Di­men­si­on er­wei­tern, son­dern Kom­mu­ni­ka­ti­on an sich be­schleu­ni­gen. Die neuen Me­di­en un­ter­wan­dern somit den Buch­kul­tur-​Ka­non der „great books“ und pro­du­zie­ren einen un­er­schöpf­li­chen Reich­tum an Sinn durch kom­bi­nier­ba­re Sym­bo­le: Bil­der, Töne und Texte ste­hen Hier­ar­chie be­freit ne­ben-​ und an­ein­an­der und ent­zie­hen sich einer tra­di­tio­nel­len Tex­ther­me­neu­tik.

vollständiger Text: Gesellschaft und Kontingenz – Ulrike Weichert

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