Kommunismus, Liberalismus: Demenzphänomene des Politischen
von Kusanowsky
Von dem Kulturhistoriker Oswald Spengler stammt eine in Vergessenheit geratene Geschichtsphilosophie, derzufolge man das Entstehen und Vergehen von Kulturen wie eine Biographie von Individuen beschreiben könnte; Kulturen durchlaufen bestimmte Lebensabschnitte, Kindheit, Jugend, Erwachsenen- und Greisenalter, sie entstehen, erblühen, werden alt und verschwinden wieder. Diese früher häufig geschmähte, aber wenig verstandene Geschichtsbetrachtung ist heute ein Fall für Archivare. Ganz Unrecht leider, weil kaum jemals versucht wurde zu verstehen, dass in Spenglers „Kulturmorphologie“ eine Evolutionstheorie soziokultureller Entwicklung angelegt ist, die unter methodologischen Gesichtspunkten zu einer Theorie sozialer Systeme in einem interessanten Kontingenzverhälntis steht, weil bei Spengler, ähnlich wie bei Luhmann die Vergleichbarkeit der Systeme, die Vergleichbareit der Kulturentwicklung in einem komplexen theoretischen Verständnis eingebunden ist. Spenglers Auffassung zufolge war er selbst Zeitzeuge eines normalen Vorgangs innerhalb der Weltgeschichte, nämlich der Altersperiode der abendländischen Kultur, deren faustische Seele zur Zeit Karls des Großen zur Welt kam und welche sich im Laufe des 20. Jahrunderts von der Welt verabschieden würde, nicht ohne zugleich Grundlagen für das Entstehen einer ganz neuen Kulturseele zu schaffen. Wollte man diesen Gedanken folgen, könnte man die faustische Seele als von der digitalen Seele abgelöste und durch diese beendete Kulturentwicklung betrachten, welch letztere in unseren Tagen ihr Säuglingsalter durchläuft. Wenn man auch die kulturmorphologischen Differenzen Spenglers kaum noch verwenden möchte, so bleibt immerhin die Beobachtung gültig, dass Prozesse der Evolution nicht nacheinander, linear, fortschreitend aufeinander folgen, vielmehr ist der Normalfall die Gleichzeitigkeit ungleichzeitiger Zusammenhänge: während Formen sich auflösen und in ein Medium zerfallen oder trivialisieren bilden sich andersherum und gleichzeitig neue Formen heraus, welche die Zerfallsprodukte als Substrat verwenden. Im Prinzip müsste es daher möglich sein, beide Prozesse empirisch zu beobachten, wobei es eine genauso schwierige wie interessante methodologische Frage ist, woran man Trivialisierungs- und Entrivialisierungsphänomene eigentlich erkennen kann.
Eine Trivialisierungsmerkmal könnte in der Beschreibbarkeit vorhersehbarer Unterscheidungsroutinen bestehen, die in Indifferenz übergehen. Wollte man diese Überlegung nachgehen, wäre es keineswegs Zufall, dass die Gründe für die Aufmerksamkeit, die Guido Westerwelle durch eine Rede auf sich zog ganz denen ähnlich sind, die Gesine Lötzsch ansprechbar machte, welche in einem Zeitungsartikel die Mumie des Kommunismus exhumierte. In dieser Hinsicht könnte man sowohl die Rede Westerwelles auf dem FDP-Partei wie den Artikel Gesine Lötzsch nicht bloß als indviduelle Krisen einzelner Politiker verstehen, sondern als Krise von Parteien, die sich im Zusammehang eines allgemeinen Demokratiekrisenphänomens verstärken. Während Liberalismus und Sozialismus versuchen, ihre Leitideologien vor der Archäisierung zu retten, müsste vorhersehbar die andere Seite einer Unterscheidung mitaktualisiert und beobachtbar werden. Das moderne Programm einer Demokratietheorie hatte als Verhältnis „den Willen aller“ (volonté des tous) gegen den „allgemeinen Willen“ (volonté général) gestellt und den Kampf um ein Kräfteverhältnis, das quantitative gegen qualitative Mengenauffassungen beobachtbar macht, in die Dauerverhandlung um einen Gesellschaftsvertrag überführt. Entsprechend kamen mindestens zwei Legtimationsideologien auf, die sich gegenseitig ausschlossen und sich dadurch für einander immunisierten: Liberalismus und Sozialismus. Nimmt der Liberalismus seinen Anfangspunkt in der Einsamkeit des Einzelnen und macht die Gemeinsamkeit aller zu einem politischen Problem, so findet der Sozialismus seinen Ausgangspunkt in der Gesamkeit aller und wagt die Machtprobe gegen die Einsamkeit. Die daraus resultierenden theoretischen Bemühungen seit dem 18. Jahrhundert sind nur als Archivmaterial zugänglich, gelieben sind die durch Systeme jederzeit aktualisierbaren Affektprogramme zur Revitalisierung von Unterscheidungsroutinen, für die ein Verständnis aufzubringen jeden Tag, jedes Jahr schwieriger wird, weil die Unterdrückung der anderen Seite der verwendeten Unterscheidung die Diskussion zunehmend in Indiffferenz überführt. Denn der nachhaltig, gegen alle empirischen Phänomene des Scheiterns bemühte Unterscheidungszwang für Liberalismus oder für Sozialismus macht immer wahrscheinlicher, dass bald schon weder Liberalismus noch Sozialismus als Option in Anspruch genommen werden können, weil kein Hoffnungsprogramm noch formulierbar wäre, das eine Lösung für die so entstehenden Probleme in Aussicht stellen könnte. Die Nichtakzeptierbarkeit dieser Betrachtungsweise schlägt sich entsprechend andersherum nieder im Beharren auf einen Unterscheidungszwang, der zwar immer noch von Liberalismus und Sozialismus sprechen, aber Differenzierungen argumentativ nicht mehr vornehmen werden kann, weil es kaum etwas geben dürfte, das in dieser Hinsicht noch nicht gesagt worden wäre. Stattdessen wird in Reden und Schriften wiederholt was schon tausendmal wiederholt wurde, was empirisch daraufhin deutet, dass die Geschwindigkeit, mit der diese Ideologien in Vergessenheit geraten, stetig zunimmt. Das empirische Resultat ist die soziale Demenz des politischen Systems, das mit immer trivialer werdenden Mitteln versucht, sich gegen sein Ableben zu wehren.
Ich bin mir nicht sicher, ob man en passant Westerwelle mit Liberalismus oder Lötzsch mit Kommunismus gleichsetzen (d.i. verwechseln, Kap. 12, Re-Entry into the Form) sollte oder kann. Bei letzterer bin ich mir, zugegebenermaßen, nicht hundertprozentig sicher…
Worauf du hinaus willst, scheint klar – aber ich würde eine leicht divergierende Lesart vorschlagen: die originäre Leistung der Ideologie ist die Verstärkung der Wahrscheinlichkeit des Sich-Einlassens auf den tagespolitischen Wahnsinn. Die Politik ist auf genau diese Motivierungsleistung von Ideologien angewiesen – und in der Folge damit beschäftigt, das somit generierte Rauschen intern abzuarbeiten. Das gelingt ihr je nach Tagesform und Rauschgenerator mal besser, mal schlechter (womit wir wieder bei Westerwelle wären…). Sobald funktional äquivalente hochintegrative Medien zur Verfügung stehen, stimme ich zu. Bis dahin tun sich die Archivare gut damit, Originalliteratur zu studieren und nicht nur die hundertste Abschrift; die ist nämlich zu allem Ärger auch noch voll mit Übertragungsfehlern.
@sebastian „aber ich würde eine leicht divergierende Lesart vorschlagen…“ – so stark divergierend ist deine Betrachtung nicht, allenfalls selektiv ergänzend und sicher berechtigt, zumal ich mich deiner Betrachtung sehr wohl anschließen kann, nur scheint mir der Ausgangspunkt für unsere Betrachtungen ein anderer. Die zur Sprache gekommenen Ideologien sind das Ergebnis eines langen Erarbeitungsprozesses, in dessen Folge sich Humanhabitualisierungen und Affekte in der Umwelt der sich ausdifferenzierenden Systeme eingeschliffenen haben. Dass diese Ideologien dann notwendig Verstärkungsleistungen erbringen müssen, sobald entlang etablierter Unterscheidungsroutinen Strukturbildungen entstanden sind, scheint mir schon darum notwendig zu werden, da sie sich außerdem für eine Immunisierungsfunktion als recht gut geeignet erwiesen haben. Da die Systeme mit der Zeit heraus finden, wie es zurück schallt, wenn man in den Wald hineinruft, wird lauter gerufen, was auch möglich macht, dass ganz anderes kaum zu hören ist. Damit wäre aber dann ein Verhältnis von Medium und Form angesprochen, das schon bei Hegel und Marx beschrieben wurde durch den Umschlag von Quantität in Qualität. Aber noch bevor es soweit ist, bevor also etwas ganz neues formbar wird, muss sich die Qualität aller politischen Ideologien in Demenz auflösen, eine Beobachtung, die gewiss auch schon Hegel machte als er den Verfall feudaler Strukturen bemerkte.
Ja. Wobei dann die Frage bleibt, ob das »muss« deines letzten (Kommentar-)Satzes sich Hegels und Marxens Teleologie oder Luhmanns evolutionärem Drift verpflichtet fühlt, gröber: ob es sich normativ dem Weltgeist oder deskriptiv der Realkontingenz zugesellt. Was meinst du? Und spannend wäre dann zweifellos zu wissen, wie es sich in eben dieser Angelegenheit mit Herrn Spengler verhält; insbesondere unter Berücksichtigung der Tatsache, dass nicht wenige der unlängst – und nicht zuletzt durch Proponenten wie Spengler oder Fukuyama! – totgesagten Gleise gesellschaftlicher Evolution muntere Urständ‘ feiern. Das Ende der Geschichte lässt sich offensichtlich nur schwer aus dem laufenden Betrieb heraus deklarieren – wär‘ ja auch noch schöner.
P.S. Den Zusammenhang zwischen der Trivialität und dem Medium musst du mir beizeiten noch mal erläutern – gerade die vermeintliche Trivialität ist doch seine Esoterik.
@sebastian „Den Zusammenhang zwischen der Trivialität und dem Medium musst du mir beizeiten noch mal erläutern“ – warum nicht jetzt? Bei Luhmann erscheint das Verhältnis von Medium und Form als ein Verhältnis von Menge und Qualität; das Medium als eine Menge loser, vereinzelt gekoppelter Elemente und die Form als ihre strenge, erhärtete Koppelung, wobei solchermaßen zustande gekommene Formen selbst wiederum ein Medium bilden können. Die Prozesse des Ent- und Verkoppelns von Elementen würde ich als Trivialisierungs- und Enttrivialisierungsprozesse verstehen, die in einem System-Umwelt-Zusammenhang gleichzeitig, aber nicht vollständig synchron ablaufen. Das betrifft nicht nur das Verhätnis von Kommunikaton und Bewusstsein, sondern auch die Beziehung von sozialen Systemen untereinander. Denn wenn gelten soll, dass ein System immerschon auf seine Umwelt angepasst ist, dann gilt dies entsprechend innerhalb des Verhältnisses von System und Umwelt auch umgekehrt, sofern die Umwelt selbst aus sozialen Systemen besteht. Rechnet man ferner ein Komplexitätsgefälle zwischen den Systemen ein, zuzüglich einer Polykontextualität der Bewertungsmöglichkeiten von evolutionären Chancen, so kann man empirisch mit der Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Geschwindigkeiten von Anpassungsoperationen rechnen, die allerdings immer als Ergebnis auf dem Monitor der Kommunikation erscheinen. Das Medium ist damit ein stets unsichtbarer, mitlaufender Komplex aus Trivialitäten, welche die Formenbildung durch Enttrivialisierung unterlaufen (und andersherum). Die Behauptung, diese Überlegung selbst sei trivial lässt dann eben auf das Gegenteil schließen, wodurch ein spezifisches Beobachtungsschema ausgeblendet wird, das eine Differenz von trivial und nichtrivial auf einer Seite zusammenzieht und die andere Seite unbemerkt lässt.
»Bei Luhmann erscheint das Verhältnis von Medium und Form als ein Verhältnis von Menge und Qualität;«
Sehe ich nicht. Es sei denn, du beschreibst eine lose Kopplung (also die »Trivialisierung«) als Substrat der rigiden Kopplung (also der »Ent-Trivialisierung«); dann bleibt die Frage bestehen, was mit der Einführung des somit neu bezeichneten Sachverhalts gewonnen ist, das nicht durch Luhmanns Unterscheidung von Medium und Form (oder mit Heider: Grund und Ding) bereits gewonnen war. Die Differenz von Trivialität und Exotik (oder Nichttrivialität) scheint mir für andere Sprachspiele geeigneter – aber ich mag mich täuschen. Da müsste man möglicherweise erst einmal dieser Intuition folgen oder der Einsicht Luhmanns, dass Trivialität (besser: der Eindruck von Trivialität) immer dort entsteht, wo der Anschluss an die ausdifferenzierten Funktionsbereiche verloren wird. Das gilt dann ganz banal zunächst für Politik, Wissenschaft, Wirtschaft… whatever.
Und um den Bogen zurückzuschlagen und das Durcheinander heillos zu machen: Bei aller Skepsis gegenüber Guido Westerwelles politischem Stil – soweit scheint es doch noch nicht gekommen zu sein.
@sebastian „soweit scheint es doch noch nicht gekommen zu sein…“ das ist abhängig von der Beobachtungsposition und von der Erwartung der Meßbarkeit. „Wie weit ist es denn schon?“
Aber wenigstens deine Formulierung bezeichnet ja schon den Trend. Trivialisierung meint ja nicht „Verdummung“, sondern so viel wie „Unterforderung“, welche auf der Rückseite eine Überforderung ist, die im unwahrscheinlichen Fall einen Ausweg der Formbildung findet. Ich beobachte Trivialisierungsprozesse immer komplementär zur Enttrivialisierung, nur kann man beides nicht mit dem selben Beobachtungsschema erfassen. Man gewinnt somit eine Kontextdistanz. Gewöhnlich würde man die Romane von Günther Grass nicht als Trivilliteratur bezeichnen, ich tue das schon, was eben kein Ausdruck der Geringschätzung ist, sondern ein Standpunkt, von dem aus die Liquidierung des faustischen Habitus verstanden werden kann. Wenn man dann andersherum fragt, woran man den Enttrivialisierung der Massenmedien durch ein Simulationsmedium beschreiben kann, dann fängt die Forschung an: ich weiß es nicht genau.
Qed! Ja, das meinte ich wohl.
P.S. Eben, als ich den FDP-Wahlstand auf dem Marktplatz passierte, schoss mir aber schon durch den Kopf: »Lest mal Eure Klassiker und dann löst Euch anständigerweise selbst auf!« Mit Liberalen funktioniert der Spaß ja recht gut – bei den o.g. Staatsfans wird das schon schwieriger.
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