Differentia

Monat: Dezember, 2011

Das Ende der transzendentalen Subjektivität 5

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Ein Shitstorm ist darum etwas ganz anderes als das, was von Massenmedien für Massenmedien kommuniziert wird. Massenmedien brauchen für Skandalinszenierungen Obszonitäten, die nur als menschliches Unvermögen das Scheitern an zivilisatorischen Ansprüchen und Versprechungen erklären; nur das Scheitern von Menschen, beobachtet und vermittelt durch Massenmedien, kann als Legitimation eines Menschenstolzes aufgefasst werden, weshalb es übrigens Massenmedien auch keinerlei Schwierigkeiten bereitet, Menschen durch den Dreck zu ziehen (Beipiel: Jörg Kachelmann), zumal, wenn diese Menschen auch noch selbst als Medienschaffende an der Erzeugung solcher Obszonitäten prominent beteiligt sind. Etwas ähnliches gilt auch, sofern Rechtssubjekte adressabel sind, z.B. Unternehmen oder Parteien, aber auch in solchen Fällen taucht Empörung als moralische Empörung über das Versagen von Menschen auf. Doch sind solche Empörungsroutinen nur deshalb durchführbar, weil sie für den Quantifizierungscode der Massenmedien ideal geeignet sind, um das System dauerhaft stabil zu halten: Nur Auflage, Einschaltquote, Reichweite und Werbeeinnahmen garantieren das. Es müssen darum immer wieder Skandale erzeugt werden, um auf diese Weise die Legitimation des massenmedialen Systems wachzuhalten. Die Missstände, auf welche massenmediale Empörung aufmerksam macht, können niemals beseitigt werden, solange eines ganze Industrie davon lebt. Man könnte auch sagen, die Missstände in der Gesellschaft sind für Massenmedien nicht das Problem, sondern die Lösung.

Darum erscheint es sehr fragwürdig zu sein, wenn man einen Shitstorm, wie er sich im Internet ausbreitet, als Empörungsroutine auffassen möchte. Natürlich mag auch die Katharsis, die ein Shitstorm nach sich ziehen könnte, als Reinigungsritual der Affirmation dienen, indem durch Empörungsbekundungen solche Missstände mit Erlaubnis versehen werden, die sich ohnehin schon bemerkbar gemacht haben. Auch Shitstorms schaffen die Missstände nicht aus der Welt, sondern legitimieren sie paradox: die Legitimation geschieht durch Leugnung dessen, was ohnehin niemand aufhalten kann. So zeigt sich, dass die Empörungsroutine eines Shitstorms eigentlich nur sich selbst legitimiert, und – anders als bei konventionellen Massenmedien – auch gar nichts anderes leisten kann und will. Massenmedien reprodzieren sich selbst stets über Fremdreferenz. Die Eigenkonstruktionen des Systems werden ausschließlich fremdreferenziert, was sich bei Journalisten in der durchaus dümmlich zu nennenden Maxime ausdrückt, nur über das zu berichten, was sich wirklich ereignet hat, worüber man aber nur etwas wissen kann, wenn man der Berichterstattung folgt. Ein massenmedialer Journalismus lässt sich nicht über die Eigenkonstruktivität seiner Wirklichkeit informieren, auch dann nicht, wenn der größte Teil aller Berichterstattung nichts anderes ist, als Berichterstattung über Berichterstattung. Das Selbstbeschreibungsprogramm der Massenmedien bleibt ganz rigide der Dokumentform verhaftet: auch die Thematisierung von Selbstreferenzialität wird ausschließlich fremdreferenziell vorgenommen. Die Beobachtung ihrer selbstreferenziellen Operationsweise wird von ihnen selbst vollständig blockiert, und muss notwendig vollständig blockiert werden, weil andernfalls ihre Glaubwürdigkeit, Vertrauenwürdigkeit und Verlässlichkeit zerbräche.

Für die Internetkommunikation lässt sich dieses „Selbstreferenzverbot“ nicht mehr durchhalten. Eher ist es umgekehrt: die Internetkommunikation kann und braucht die Beobachtung ihrer selbstrefernziellen Operativität gar nicht zu verschleiern, erst die Beobachtung ihrer Selbstreferenzialität macht sie eigentlich attraktiv. Für Shitstorms dürfte dann gelten, dass sie nicht das sind, wofür man sie halten möchte.

Fortsetzung

Immanuel Kant: Der Himmel über mir…

„Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.“

Immanuel Kant, Der Himmel über mir, in: Rudolf Eisler: Kant-Lexikon (1930).