Durchsage: „Sicherheitshinweis! Lassen Sie Ihr Gepäck nicht unbeaufsichtigt“ #rationalität #kommunikation
von Kusanowsky
Wer in den letzten Jahren auf Bahnhöfen oder Flughäfen unterwegs war, kennt diese automatische Durchsage. Das Auffällige an einer solche Durchsage ist, dass man das, was kommuniziert werden soll, am zuverlässigsten versteht, wenn man nicht über die eigene Informationssituation gründlicher nachdenkt; wenn man es also unterlässt, die eigene Informationssituation zu überprüfen. Denn tut man das, so kann man sich nur wundern, wie zuverlässsig diese Mitteilung kommunizierbar ist, obwohl bei genauerer Prüfung ihres logischen und rationalen Charakters die Mitteilung ihre Zuverlässigkeit und Plausibilität verliert. Diese Überlegung soll hier kurz ausgeführt werden.
Die Zuverlässigkeit dieser Durchsage ergibt sich zunächst aufgrund einer sozialen Situation des Vorinformiertseins, die durch Massenmedien entsteht. Durch Massenmedien weiß man, dass Terroristen genauso unauffällig wie jede andere Person am öffentlichen Verkehr teilnehmen und darum die einfache Möglichkeit haben, Sprengsätze zu platzieren, indem sie ihr Gepäck, das eine Bombe enthält, an irgendeiner Stelle stehen lassen und sich dann entfernen. Der Sprengsatz explodiert, es entsteht Schaden und die Terroristen verfolgen anschließend die Berichterstattung über ihre Aktion.
Da diese Art des Terrors mit polizeilichen Methoden im Augenblick der Ausführung nicht zu verhindern ist, weil unauffällige Personen nicht auffällig sind und entsprechend jede Person als Täter in Frage kommt, muss die Polizei versuchen, bereits das Vorhaben zu verhindern oder zu erschweren. Eine dieser Maßnahmen besteht darin, den Verdacht auf mögliche Täterschaft als Selbstverdacht eines jeden einzelnen zu kommunizieren, ohne, dass dies für einen einzelnen irgendwelche Folgen hätte. Mit logischen und rationalen Mitteln ist das nicht zu leisten. Aber die Sicherheit könnte steigen. Das geht so:
Die Durchsage beginnt mit der Warnung: „Sicherheitshinweis!“ Diese Warnung informiert darüber, dass eine Unsicherheitssituation vorliegt und sie empfiehlt jeder Person, diese Unsicherheit zu vermeiden, bzw. zu vermindern. Die Handlungsansweisung lautet: verhalte dich nicht wie ein Terrorist, indem du in Erwägung ziehst, dass andere, gleichzeitig anwesende und unbekannte Personen über dich eben dies nicht wissen können und ziehe in Erwägung, dass dies für jede Person gilt. Das heißt: lasse dir einen Selbstverdacht gefallen, was du kannst, weil du annehmen kannst, dass alle anderen, sofern sie keine terroristischen Absichten verfolgen, sich diesen Selbstverdacht ebenfalls gefallen lassen und sich entsprechend so verhalten, wie sich kein Terrorist verhält. Eine Logik ohne Widersinn, ohne Widerspruch und Selbstwiderspruch ist nicht zu finden und gerade darum funktioniert die Verbesserung einer sozialen Sicherheitssituation.
- Verdächtige dich selbst, obgleich du keinen Zweifel daran hast, kein Terrorist zu sein.
- Beobachte, dass alle anderen sich ebenfalls selbst verdächtigen, obwohl für sie das gleiche gilt.
- Bedenke, dass du nicht gemeint bist, wenn die Aufforderung an dich gerichtet wird, dein Gepäck nicht unbeaufsichtigt zu lassen. Denn wärst du gemeint, dann könntest du dich fragen, warum irgendwer dich verdächtigt. Weil aber der Verdacht unbegründet ist, kannst du ihn akzeptieren.
- Bedenke, dass die Unsicherheit nicht erst dadurch entsteht, dass irgendwo eine Bombe platziert ist, sondern schon dann, wenn niemand genau weiß, ob dies so ist oder nicht. Es ist also nicht erste eine Bombe, durch die die Unsicherheit zustande kommt, sondern ein sozial verteiltes und durch den Lautsprecher mitgeteiltes Nichtwissen über diese Möglichkeit, weshalb die gegenteilige Möglichkeit als Möglichkeit erscheint, über die aber auch niemand zuverlässig informiert ist. Schon die Lautsprecherdurchsage ist eine Operation zur Herstellung der Unsicherheit. Denn ohne diese Durchsage wärst du gar nicht über das sozial verteilte Nichtwissen hinsichtlich der Möglichkeit der Möglichkeit informiert.
- Aber du erkennst, dass du eigentlich nichts tun kannst, um die Sicherheit zu verbessern, weil du dich nämlich so verhältst, wie du dich meistens verhältst. Denn dein Gepäck hast du nicht zum Spaß mitgenommen. Nur selten kommst du in die Situation, dein Gepäck zu verlieren. Und wenn dies geschieht, geschieht es nicht mit Absicht. Das heißt also: die Aufforderung, auf dein Gepäckt Acht zu geben, informiert dich nur über deine dir schon bekannte Absicht. Denn ohne dein Gepäck kommst du nicht gut recht.
- Worüber bist du eigentlich dann noch zuverlässsig informiert, wenn du weißt, dass alles, was infolge der Durchsage geschieht, eben doch geschieht wie es geschieht? Denn: ein Terrorist tut was er tun will, also: sein Gepäck vernachlässigen. Denn die Durchsage muss ihn nicht davon abhalten, das zu tun. Was übrigens für dich auch gilt: du tust, was du willst, nämlich auf dein Gepäck Acht geben, auch dann, wenn die Durchsage ausbliebe. Da du nun nicht weißt, ob die anderen Terroristen sind oder nicht und du dies nicht so einfach heraus finden kannst, was für alle anderen auch gilt (übrigens gilt das auch für Terroristen) wird nun deutlich, dass nicht etwa die Sicherheit verbessert wird, sondern: die Unsicherheit wird infolge dieser Durchsage zunächst vergrößert, weil auch ja Terroristen anwesend sein könnten, die genauso wenig wie jeder andere eine logische und rationale Analyse ihrer Informationssituation vornehmen. Entsprechend sind auch Terroristen verunsichert. Und eben dies verbessert die Sicherheitssituation.
Die Sicherheit wird durch Steigerung einer schlechten Informationssituation verbessert, und zwar ohne, dass irgendwo ein Steuerungszentrale wäre, die dies für alle regeln könnte. Die verbesserte Sicherheit ist reine soziale Selbstorganisation durch Steigerung von Unsicherheit durch Verschlechterung der Informationssituation.
Konkretisierung: Man verdächtigt sich nicht selbst, Terrorist zu sein, obwohl man weiß, daß man keiner ist. Man verdächtigt sich, als Terrorist verdächtigt werden zu können und überprüft/korrigiert sein Handeln irgendwie, um diesen Verdacht zu vermeiden.
Allerdings wäre es witzig – und wird bestimmt eine nächste Paranoiastufe sein – wenn man sich selbst des Terrorismus verdächtigte bzw. verdächtigen müßte. Nämlich genau dann, wenn einem die Kompetenz zu beurteilen, ob man ein Terrorist ist, abgesprochen wird und man das glaubt.
Dafür fällt Dir bestimmt jetzt schon gutes ein Beispiel ein …
„5. Aber du erkennst, dass du eigentlich nichts tun kannst, um die Sicherheit zu verbessern, weil du dich nämlich so verhältst, wie du dich meistens verhältst. Denn dein Gepäck hast du nicht zum Spaß mitgenommen. Nur selten kommst du in die Situation, dein Gepäck zu verlieren. Und wenn dies geschieht, geschieht es nicht mit Absicht. Das heißt also: die Aufforderung, auf dein Gepäckt Acht zu geben, informiert dich nur über deine dir schon bekannte Absicht. Denn ohne dein Gepäck kommst du nicht gut recht.“
Ich denke schon, dass es manche Situationen gibt, in denen es bequem ist sein schweres, unhandliches Gepäck zumindest vorübergehend alleine zu lassen. Z.B. um es vor der Abfahrt des Zuges noch zu einem Schalter zu schaffen und eine Karte zu lösen oder noch schnell etwas im Laden zu kaufen. Das Schlimmste, das man bei solchem Verhalten normalerweise zu befürchten hat, ist Diebstahl von Teilen des Gepäcks. Die Durchsage erinnert daran, dass zusätzlich etwas ganz anderes droht: Großalarm auf dem Bahnhof/Flughafen. Das wäre für alle Beteiligten (also sehr viele Leute) unangenehm, was man als durchschnittlich empathischer Mensch vermutlich dringend vermeiden möchte. Außerdem hat es direkte negative Konsequenzen für den Inhaber des Gepäcks, denn er/sie muss, um die einmal entstandene Großalarm-Situation zu entschärfen, vermutlich langwierige Befragungen (z.B. Verhör durch Flughafen-Personal, später Polizei) über sich ergehen lassen. Da Reisende meistens in Eile sind, wollen sie so etwas vermutlich nur ungerne riskieren.
Die Durchsagen sollten also meines Erachtens dazu führen, dass heutzutage an großen Bahnhöfen und Flughäfen deutlich weniger unbeaufsichtigte Gepäckstücke herumstehen als vor 20 Jahren. Das nützt der Flughafen-Sicherheit, weil damit die Wahrscheinlichkeit steigt, dass ein verwaistes Gepäckstück tatsächlich eine Bombe ist und im Rahmen eines Großalarms als solche erkannt wird. Nicht weil die Durchsagen die Zahl der Bomben steigen lassen, sondern weil die Durchsagen die Zahl der verwaisten Gepäckstücke, die keine Bomben sind, verringern. Außerdem wird damit vermutlich die Sensibilität gegenüber verwaistem Gepäck erhöht: Man verdächtig solche Stücke dann eher, explosiv zu sein, und dadurch werden sie häufiger gemeldet. Letzteres würde zwar die Zahl der Fehlalarme erhöhen, aber auch die Zahl der berechtigen Alarme.
Ob die Durchsagen auch Terroristen verunsichern verunsichern sollen (und ob sie sie tatsächlich verunsichern) bezweifle ich eher. Zumindest bin ich auf diese Interpretation bisher gar nicht gekommen.
„Die verbesserte Sicherheit ist reine soziale Selbstorganisation durch Steigerung von Unsicherheit durch Verschlechterung der Informationssituation.“
Ich überlege nun, ob sich durch die Lautsprecherdurchsage die Entropie nun erhöht oder verringert. Was meinst Du? Eine „Verschlechterung der Informationssituation“ wäre mit erhöhter Entropie verbunden.
Mich fasziniert das roboterhafte dieser Lautsprecherdurchsagen. Fixiert – als Information – wird ja nur der Zeitpunkt der Durchsage. JETZT aufpassen. Das kann aber nicht mit objektiver Information verbunden sein (dann wäre die Entropie rückläufig) – denn woher soll der Roboter wissen, dass JETZT aufzupassen ist? Hier gibt es eine Art Heisenberg-Effekt: die Projektion auf das WO (die umstehenden Reisenden) kann keine objektive Information liefern sondern nur Hypothesen über hypothetisches Verhalten triggern – auf Basis grundsätzlich unvollständiger Information.
Mir scheint, dass das Bahnsteig-Paradoxon einen recht interessenten Forschungsgegenstand darstellt.
@neurosophie „Mich fasziniert das roboterhafte dieser Lautsprecherdurchsagen“
Ja, das ist ein guter Punkt, weil durch die wahrnehmbare Automatisierung der Durchsage die Beobachtung des Zeitpunkts eigentlich keine Rolle spielt. Durchgesagt wird, wenn es soweit ist, nämlich automatisch, was für einen festgelegten Rhythmus spricht. Insofern ist diese Automatik eigentlich eine Information, die eher dazu ermuntert, die Informationssituation gar nicht weiter zu prüfen. Und, wenn man es dennoch tut, vergrößert sich das Rätsel: Warum unterbleibt das nicht eigentlich, wenn doch alles auch ohne diese Durchsage so läuft und laufen wird wie es läuft?
Schön 🙂 Wir haben jetzt mehrere Informationssituationen für dieselbe Wirklichkeit: Der eine vermutet eine Warnung für/über Terroristen, die trotz ihrer Sinnentleertheit die Sicherheit steigert. Ich habe es immer für eine Warnung vor Taschendieben gehalten. Und cubefox kombiniert beides zu einer bloßen Frage der Rationalität, weil auf diese Weise Großeinsätze der Polizei verhindert werden. Aber jeder kennt diese Durchsage.
Das bestätigt Klaus‘ Analyse, wobei Klaus der Durchsage einen Bezug zu Terrorismus unterstellt, was völlig legitim ist, weil man jede Form von konkretem Sachbezug aus dieser Durchsage konstruieren kann. Je weniger Sinn in dieser Durchsage ist, desto mehr verbssert sich die Sicherheit. Dezentrale, automatisierte soziale Kontrolle.
Das hat Spaß gemacht 🙂
„Wir haben jetzt mehrere Informationssituationen für dieselbe Wirklichkeit“ – es ist eben nicht die selbe Wirklichkeit. Gleich sind nur die Operationen ihrer Reproduktion, nämlich: Operationen der Sinnproduktion zur Herstellung von Wirklichkeit. Aber das „Was“ der Wirklichkeit hat nirgendwo eine Identität. Die schlechte Informationssiutation informiert eben darüber: Gemeinsamkeit, Identität gibt es auf der Sachebene der Wirklichkeit nicht. Und das nicht nicht etwa ein Schaden, sondern ein ideales Dickicht um Daten zu schützen.