Differentia

Monat: November, 2014

Das Gefängnis der Unmöglichkeit über den Normalfall zu reden

Ich habe einen alten Schulfreund, der ein seltenes, aber nicht sehr ungewöhnliches Problem hat. Er kann sich Gesichter von Menschen, die er vor kurzer Zeit irgendwo kennen gelernt hat, nur schlecht auf Anhieb merken. Er braucht nur mehr Zeit zur Gewöhnung an ein Gesicht als andere Menschen. So was gibt’s und ist nicht eigentlich ein Problem; es sei denn, es kommen andere Umstände hinzu, die aus der Bedingung einer harmlosen neuronalen Funktion ein Problem machen können. Das geht so:

Mein Freund ist ein sympathischer Typ, der anderen Menschen mit Freundlichkeit, Toleranz und Offenherzigkeit begegnet. Das führt dazu, dass er relativ schnell die Aufmerksamkeit von fremden Leuten auf sich zieht, z.B. bei Geschäftsreisen, Besprechungen bei Kunden oder Lieferanten, im Urlaub oder auf einer Party. Es kommt hinzu, dass mein Freund beruflich und privat relativ erfolgreich und sehr mobil ist, was dazu führt, dass er in ganz Europa weit herum kommt und ständig viele fremde Menschen kennen lernen kann, was auch ständig geschieht. Meistens hat das aber keine besonderen Konsequenzen, weil er den meisten Menschen nie wieder begegnet. Und an die Gesichter derjenigen, denen er mehrmals begegnet, gewöhnt er sich mit der Zeit, so dass sie ihm, wenn auch langsam, vertraut werden.
Aber: ab und und zu passiert es doch. Und das hat dann Konsequenzen, die nicht immer witzig sind.
Ein harmloses Beispiel, das er mir erzählt hatte: Er steht allein an einer U-Bahn-Haltestelle und wartet auf den Zug. Plötzlich steht ihm eine völlig unbekannte Frau, die er sehr hübsch und freundlich findet, gegenüber, die ihn mit Namen anspricht und ihn begeistert fragt, wie es ihm geht. „Hey, Thomas, wie geht es dir? Schön dich zu sehen.“
Nun hat mein Thomas ein Problem: er weiß nicht wie sie heißt, woher sie ihn kennt und erinnert sich kein bißchen an die Zusammenhänge einer letzten Begegnung. Und es ist ihm nun peinlich dies zu sagen, weil er sie nicht kennt und darum auch nicht weiß, wie sie darauf reagieren könnte, würde er ihr dies gestehen. Denn sie spricht ihn mit einem hohen Maß Vetraulichkeit an, so dass ihm sein Geständnis über eine Erinnerungslücke wie ein Verrat vorkommt. Also schweigt er, um sie nicht zu enttäuschen oder zu verletzen. Er schweigt aus Rücksichtnahme.
Das alles wäre auch nicht weiter problematisch, wenn er nicht so ein netter Kerl wäre. Denn: er lässt sich nun an der U-Bahn-Haltestelle in ein Gespräch verwickeln, das ihn deshalb fasziniert, weil er durch den Verlauf des Gesprächs hofft heraus zu finden, woher sie sich kennen könnten. Aber der Verlauf des Gesprächs führt ihn in ein Labyrinth, das ihn bewusstseinsmäßig immer nur weiter in ein Rätsel verstrickt.
Dann kommt der Zug. Zufällig müssen beide in die selbe Richtung. Und sie redet und redet und redet und er nickt und schmunzelt und lacht mit sympathischer Verlegenheit, nicht wissend, wovon sie eigentlich erzählt. Dann fährt der Zug an seiner Haltestelle vorbei, aber es ist ihm egal, weil ihn die Faszination nicht loslässt. Irgendwann muss sie aussteigen, weil sie umsteigen will. Und er dackelt ihr vertrauensvoll hinterher. Dann steigt er mit ihr in den nächsten Zug, und sie redet und redet; und er bemüht sich um Freundlichkeit, was ihm ganz leicht gelingt, aber ihm gelingt aus diesem Grunde eines nicht: für sie sorgt er dafür, dass die Gesprächssituation ganz normal erscheint, weshalb sie nicht gar nicht über die Voraussetzungen des Gesprächs nachdenkt und auch darüber gar nicht spricht. Es gelingt ihm nicht, ihr das Geheimnis der ersten Begegnung zu entlocken, was ja kommunikativ eigentlich auch kein Geheimnis ist.
Dann muss sie aussteigen. Und er steigt mit aus. Dann verabschiedet sie sich von ihm und fragt ihn nun, wo er denn hin will. Und nun sitzt er in der Falle. Er weiß gar nicht genau wo er ist. Und wo immer er auch sein mag: Da wo er ist, will er gar nicht hin, und den Ort, wo er hin will, kann er ihr so einfach nicht angeben, weil die Auskunft darüber besagen würde, dass er sich längst von ihr hätte verabschieden müssen. Da er aber auch nichts darüber gesagt hat, warum er sie eigentlich begleitet, verläuft er sich psychisch in eine Verwicklung, über die er jetzt nicht mehr reden kann. Er schweigt plötzlich, für sie ganz grundlos und schaut sie hilflos an. Auf einmal kommt ihr ein seltsamer Verdacht: „Kann das sein, dass du nicht weißt wer ich bin?“, fragt sie ihn fordernd. Jetzt muss er reden und sagt kleinlaut: „Ja.“

Er hatte großes Glück. Sie hatte schallend gelacht.
Als er mir diese Geschichte erzählte, gestand er mir zerknirscht, dass er angeblich ein psychisches Problem habe. Ich hab’s geschafft, ihm das auszureden. Aber: so kann das kommen, dass psychisch kerngesunde Menschen sich selbst pathologisieren, weil sie mit der Kommunikation aus banalen Gründen überfordert sind.

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Transzendentaler Vermeidungsirrtum (nach Auskunft von Bertolt Brecht)

Wir Deutschen bilden uns auf unseren Ernst viel ein, wir haben die Auffassung, daß das Gegenteil von Ernst Leichtfertigkeit ist und daß Leichtfertigkeit verdammt werden muß. Andere Völker haben andere Auffassungen.
Wir finden, daß der Humor eine schlechte und bequeme Methode ist, den Dingen beizukommen. Wir setzen voraus, daß die Dinge allemal zu Sorgen Anlaß geben, daß unsere Auffassung von ihnen richtig ist, und wir hoffen, man nimmt uns ernster, wenn wir selbst ernst sind. Wir haben ein tiefes Mißtrauen gegen alles, was leicht geht, wir vermuten sofort, daß der Leicht-Fertige den Nachdruck auf das ‚leicht‘ setzt und daß nicht etwa der Mann besser ist, sondern die Arbeit schlechter.

aus: Bertolt Brecht: Aus den Notizbüchern 1920 bis 1929. 1920 Über die deutsche Literatur. In, ders: Schriften zur Literatur und Kunst I 1920 – 1932, Frankfurt/Main 1967, S. 7

Eine bemerkenswerte Beobachtung, die darauf aufmerksam macht, wie sich Selbstverständlichkeiten dadurch einschleichen, dass deren Zustandekommen unerklärbar bleibt. Bei Brecht ist die Neigung zur Ernsthaftigkeit ein Ausdruck des deutschen Volkscharakters und nicht ein Vermeidungsresultat, das aus Sozialisationserfahrungen in Organisationen, hier insbesondere der Staatsorganisation, resultiert. Ein moderner Staatsapparat, der sich besonders in einer komplizierten Bürokratie ausgestaltet, gewinnt seine Stabilität dadurch, dass er Kommunikation von Entscheidung dadurch sicherstellt, indem durch Entscheidung eine ganze Reihe von Inkommunikabilitäten entstehen, durch die verhindert wird, dass Entscheidungen zur Revision von Entscheidungen entstehen. Die Kommunikation von Entscheidung kann nur gelingen, wenn alles, was der Durchsetzung von Entscheidung im Wege steht, verhindert wird. Im autoritären kaiserlichen Staat konnte Autorität nur gewinnen, wem eine Meisterschaft in der Behandlung von Kompliziertheiten zugerechnet wurde. Unter festgefügten Strukturen, die z.B. Karrieren ermöglichen, indem eine Vielzahl von anderen Karrierewegen verbaut wird, gelingt sowas sehr leicht. Foglich muss eine Vermeidungsstruktur etabliert werden, die Leichtfertigkeit verdammt, damit die Autorität leichtfertig durchgesetzt werden kann.
So war es gerade die Leichtfertigkeit der Inanspruchnahme und Durchsetzung von Autorität, die dem Faschismus keinen Widerstand entgegen bringen konnte.

Hätte Brecht auf diese Weise darüber nachdenken können, wäre ihm das Vertrauen in die Leichtfertigkeit etwas schwerer gefallen. Aber man erkennt es trotzdem: „… daß nicht etwa der Mann besser ist, sondern die Arbeit schlechter.“

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