„Unsere Gesellschaftsordnung, welche eine anarchische ist …“ Bertolt Brecht über den Rundfunk #internet
Bertolt Brecht: Der Rundfunk als Kommunikationsapparat. Rede über die Funktion des Rundfunks. In: ders, Schriften zur Literatur und Kunst 1920 – 1932. Frankfurt/Main 1967, S. 132:
Unsere Gesellschaftsordnung, welche eine anarchische ist, wenn man sich eine Anarchie von Ordnungen, das heißt, ein mechanisches und beziehungsloses Durcheinander an sich schon weitgehend geordneter Komplexe öffentliches Lebens vorstellen kann, unsere in diesem Sinne anarchische Gesllschaftsordnung ermöglicht es, daß Erfindungen gemacht und ausgebaut werden, die sich ihren Markt erst erobern, ihre Daseinsberechtigung erst beweisen müssen, kurz Erfindungen, die nicht bestellt sind. So konnte die Technik zu einer Zeit soweit sein, den Rundfunk herauszubringen, wo die Gesellschaft noch nicht soweit war, ihn aufzunehmen. Nicht die Öffentlichkeit hatte auf den Rundfunk gewartet, sondern der Rundfunk wartete auf die Öffentlichkeit, und um die Situation des Rundfunks noch genauer zu kennzeichnen: nicht der Rohstoff wartete aufgrund eines öffentlichen Bedürfnisses auf Methoden der Herstellung, sondern Herstellungsmethoden sehen sich angstvoll nach einem Rohstoff um. Man hatte plötzlich die Möglichkeit, allen alles zu sagen, aber man hatte, wenn man es sich überlegte, nichts zu sagen.
Was hier beschrieben wird ist eine knappe, aber sehr zutreffende Charakterisierung von Medieninnovationen, ja im Grunde von technischen Innovationen allgemein. Die naive Selbstbeschreibung gemäß der Homo-Faber-Fabel lautet, zum gesetzten Zwecke bediene sich der Erfinder, der Künstler, der schöpferische Mensch als das „zwecksetzende Tier“ (Georg Simmel, Philosophie des Geldes) geeigneter Mittel, um vorherbestimmte Zwecke zu erreichen. Dabei handelt es sich um eine einfache Märchengeschichte, mit der die moderne Gesellschaft sich selbst beschreibt. Die Chiffre dafür ist: Rationalismus, eine andere, von mir bevorzugte Formulierung: faustische Genialität.
Bei Brecht findet sich nun zutreffend beschrieben, wie ausssichtslos ein solcher Rationalismus ist, wenn es darum ginge, die Entwicklung zu erklären. Denn tatsächlich: wer sollte Radio hören, wenn keiner Radio verstanstaltet? Was sollte der Hörer hören oder was sollte der Sprecher sagen, wenn man nicht weiß, ob etwas gehört oder gesagt wurde? Dasselbe gilt für Telefon: niemand installiert ein Telefon zu, wenn niemand ein Telefon hat. Was soll man damit? Straßen, Parkplätze, Bahnhöfe, Flughäfen werden nicht gebaut, wenn es keine Autos, Züge oder Flugzeuge gibt; aber wer kauft oder verkauft Autos, Züge oder Flugzeuge, wenn es keine Straßen, Parkplätze, Bahnhöfe, Flughäfen gibt? Eine Post wird nicht organisiert, wenn keiner Briefe verschickt. Und wer sollte Briefe verschicken, wenn es keine Post gibt? Wer sollte e-Mails verschicken, wenn keiner eine e-Mail-Adresse hat? Niemand kann sich ins Internet einwählen, wenn sich niemand ins Internet einwählt.
So hat Brecht schließlich den Charakter der Überflüssigigkeit, der Überzähligkeit von solchen Innovationen beschrieben: die Mittel suchen sich ihre Zwecke; das Spiel, das aufgrund seiner Überflüssigkeit jederzeit auch unterlassen werden könnte, weil die Unterlassung jederzeit folgenlos ist, sucht sich Notwendigkeiten, die dann sehr wohl Folgewirkungen, ja sogar sehr gefährliche haben können, wenn man den Anschluss plötzlich nicht mehr findet oder wenn die Lernverweigerung das ist, was Anschlussfähigkeit und damit Ordnung stiftet.
Und all dies ergibt sich, auch das ist bei Brecht hellsichtig beschrieben, aus einer anarchischen Ordnung, womit auf die Paradoxie einer geordneten Unordnung angespielt ist. Es ist gerade diese Paradoxie, die innerhalb entropischer Informationszusammenhänge schließlich nicht nur überflüssige Dinge hervorbringt, sondern auch Überlüssigkeiten, die diesen Überfluss dann gebrauchen können. Daraus ergibt sich schließlich – schade, dass dies Brecht so nicht hätte einsehen können – dass dieser Materalismus, der nur eine Variante des modernen Rationalismus ist, gar keine brauchbare Erklärungsgrundlage liefert.
Gesellschaft beginnt nicht mit Arbeit, nicht mit der Bewältigung von Notwendigkeiten, also mit Interessen, Bedürfnissen, Wünschen, Trieben und dergleichen, denn Befriedigungen aller Art werden durch den Vollzug Gesellschaft immer schon garantiert. Die Gesellschaft erzeugt eine eigene selektive Realität, nämlich die Fortdauer von Gesellschaft, nicht die Bedürfnisbefriedung. Denn: wäre Bedürfnisbefriedigung irgendein Zweck, den Gesellschaft erreichen sollte, dann müsste sie bei Erfolg wieder verschwinden. Dass das aber nicht geschieht, hängt damit zusammen, dass sie immer wieder neue Bedürfnisse erfindet, die nicht hätten erfunden werden müssen. Gesellschaft stellt sich wieder her, indem sie immer mehr als nur das Nötige produziert, also immer auch etwas Überflüssiges, das keiner bestellt, keiner gewollt, keiner nachgefragt hat. Und die Innovation entsteht erst dann, wenn der Überfluss auf Überfluss trifft und sich dadurch eingeschränkt und und in der Folge Notwendigkeiten erzeugt, denen dann niemand so einfach ausweichen kann. Entwicklung ist Verwicklung in überflüssige Erfindungen, die nachträglich ihre Gründe suchen und sie in Notwendigkeiten schließlich finden.
Gesellschaft ist nur in seltenen Fällen ein Pony-Hof. In den meisten Fällen ein genauso fürchterliches und grausames wie überflüssige Spiel mit Möglichkeiten.
In gerade dieser Hinsicht ist das Internet interessant, weil alles dafür spricht, dass all das auch für das Internet gilt: grundlos, nutzlos, zwecklos und überflüssig, aber real und auf der Suche nach geeigneten Problemen. Kein Grund zur Hoffnung, kein Grund zur Angst.