Folge dem Führer? Angst, Vertrauen und Sicherheit

Ein selbsternannter Führer, ein Lotse fordert im Straßenverkehr ihm unbekannte Menschen, die mit ihm vor einer roten Fußgängerampel stehen, dazu auf, ihm über die Straße zu folgen. „Come on, follow me!“ Das Video zeigt einen Zusammenschnitt von Fällen, in denen die Leute dieser Aufforderung folge leisten. (Andere, abweichende Fälle sind beim Schneiden nicht mit berücksichtigt worden.)

Dieses Video ist eine sehr hübsche empirische Miniaturstudie, die zeigt, wie stark die moderne Gesellschaft ein Vertrauen in Menschenvermögen ausgebildet hat und wie sehr es fraglich wird, dass ein Misstrauen gegen Menschenunvermögen die zivilisatorische Zuverlässigkeit steigern könnte.

Für die Teilnahme am Straßenverkehr gilt zunächst ganz allgemein, dass er gar nicht funktionieren könnte, wenn nicht alle Beteiligten sehr viel Vertrauen sowohl in ihre eigene Leistungsfähigkeit hätten als auch in die Zuverlässigkeit aller anderen. Die Zuverlässigkeit ergibt sich dadurch, dass man die Verkehrsregeln kennt, dass man schnell entscheiden kann und muss, wann und wo sie gelten, dass man sich auch tatsächlich in jedem Augenblick an die Regeln hält und dass all dies jeder von jedem erwarten kann. Auch ergibt sich die Zuverlässigkeit nicht allein dadurch, dass man weiß, dass das Nichtbeachten von Verkehrsregeln bestraft wird. Die Angst vor Strafe allein erzeugt kein solches Vertrauen, sondern würde eher die Angst steigern und entmutigend wirken.
Die hochkomplexen Abläufe im Straßenverkehr sind durch Vertrauen bedingt, nicht durch Angst. Dem widerspricht kein Verhalten der Vorsicht, denn Vorsicht ist ja der Ausdruck von Vertrauen in die eigene Leistungs- und Zurechnungsfähigkeit. Entsprechend müsste man zeigen, dass auch der Verzicht auf Vorsicht eine Vertrauensleistung ist, die man sowohl gegen sich selbst als auch gegen andere erbringt.

Eben dies zeigt dieses Video. Zunächst könnte man annehmen, diese Miniaturstudie zeige, wie leicht Menschen zur eigenen Willenlosigkeit bereit sind, indem sie sich von einem Fremden führen lassen, ja sich sogar dazu verführen lassen, die Regeln zu brechen. Dieses Video macht aber nicht Menschenwillen sichtbar, sondern soziale Strukturen der Interaktion im Straßenverkehr, die für die Beteiligten nicht vollständig durchschaubar sind.

Eine wichtiges Strukturmerkmal des Interaktionsgeschehens im Straßenverkehr ist Hast und Eile. Der Grund, weshalb man an einer roten Fußgängerampel wartet besteht nicht darin ein Verbot einzuhalten, sondern darin, ein Vorsichtssignal zu beachten. Außerdem weiß man, dass die Autofahrer damit rechnen, dass die Fußgänger dies tatsächlich tun, weil sie selbst grün haben.
Und weil man aus Erfahrung weiß, dass man die ganze Verkehrssituation nicht überschauen kann, ist es trotz Eile ratsam auf grün zu warten.  Dies gilt auch, wenn mehrere Leute nebeneinander warten. Zwischen ihnen findet keine Interaktion statt. Das ändert sich plötzlich, wenn ein selbsternannter Verkehrspolizist auftaucht und die Aufforderung auspricht, ihm zu folgen. Jetzt findet Interaktion statt und damit Koordination von Handlung und Verhalten. Und welchen Grund gäbe es jetzt, dem Begehren nach Eile nicht nachzugeben? Warum noch länger ein Vorsichtssignal beachten, wenn jetzt durch Kommunikation die Wahrscheinlichkeit erhöht wird, dass man gefahrlos überqueren kann, zumal ja auch die Folger ihre eigene Wahrnehmung und ihr Vorischtsverhalten beim Folgen gar nicht ausschalten?
Welchen Grund hätte man zu der Annahme, dass der selbsternannte Verkehrspolizist nicht die gleiche Vorsicht zeigen wollte, wenn durch eigene Wahrnehmung schon eine relative Gefahrlosigkeit der Situation ermittelt wurde? So erscheint die Aufforderng zum Folgen nur eine Bestätigung für die eigene Wahrnehmung zu sein, die ohne Kommunikation eher dazu führt, dass man wartet. Kommunikation erzeugt Vertrauen, also Handlung ohne Gewissheit, ohne vollständige Durchschaubarkeit der Situation. Wahrnehmung ohne Kommunikation könnte das nicht leisten, weil ein Vorsichtsverhalten eher zum Vermeiden eines Regelübertritts motivieren würde.

Was man mit diesem Video also gar nicht zeigen kann ist, dass Menschen sich einem Führer anvertrauen. Sie vertrauen der Kommunikation, wodurch die prinzipelle Undurchschaubarkeit der sozialen Situation akzeptiert wird, ohne sich über die eigene Wahrnehmung ungebührlich zu irritieren, da aufgrund der strukturierten Hast und Eile im Straßenverkehr eine konzentrierte Irritation über Wahrnehmung, also ein Vorsichtsverhalten, ohnehin immer schon geschieht.

Und die Vermutung, dass Menschen so leicht bereit wären, manipulative Anweisungen anderer zu beachten, ist reichlich albern. Man könnte ein zweites Experiment machen, indem der Führer bei rot über die Ampel und den Wartenden zuruft, ihm nicht zu folgen. Was wäre, wenn gar kein Führer beobachtbar wäre, wenn also einer allein ohne eigenen Sprechakt bei rot geht. In dem Fall dürfte man zweierlei beobachten, dass nämlich die einen folgen und die andern nicht.

Das Unvermögen, um das es hier geht, ist das menschliche Unvermögen die ganze Kommunikation zu durchschauen. Diese Undurchschaubarkeit ist aber gar nicht das Problem, sondern die Lösung, die allerdings nur schwer verstehbar gemacht werden kann, wenn Vorbehalte und Misstrauen die Beobachtung dirigieren.

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