Die Schutzhaut der Gesellschaft
von Kusanowsky
https://twitter.com/kusanowsky/status/668713833851174917
Auf eine perfide Art haben diejenigen, die unsere demokratischen Rechte und Freiheiten attackieren wollen, schon gewonnen. Nicht durch Morde und Anschläge, sondern indem wir aus Angst damit begonnen haben, uns gegenseitig zu kontrollieren und zu überwachen. Wir haben unser eigenes System von innen verrotten lassen. Als Resultat vertrauen wir niemandem mehr. Keinen Unternehmen, keinen Institutionen, keinen Regierungen. Und wenn wir ganz genau hinschauen, dann vertrauen wir auch einzelnen Personen immer weniger. Es hat nur wenige Monate gedauert, bis sich diese Atmosphäre des Misstrauens, das zu Unfreiheit führt, etabliert hat. Es wird viele Jahre dauern, sie wieder zu verändern. Wenn das überhaupt möglich ist.
Mit diesen Worten endet ein Artikel von Johnny Häusler, in welchem der Autor sein Unbehagen über die Datensammelei von Geheimdiensten und Konzernen zum Ausdruck bringt.
Solange mit Argumenten kein Stich zu machen ist, muss der steigende Druck des Problems dafür sorgen, dass der Widerstand gegen eine Versachlichung der Problematik selbst versachlicht wird, weil erst auf diesem Wege das Problem offenbar wird und erst dann sozial geordnet werden kann.
Das allerdings ist unmöglich, solange Angst, Abwehr, Bedrohungs- und Gefährdungsszenarien als Ersatz für rationale Argumente verstanden werden, oder wenn gar Angst rational begründet und gerechtfertigt wird. Damit ist gemeint, dass nicht etwa die Irrationalität solcher Argumente einer Ordnungsfindung im Wege steht, sondern der Versuch, Stimmung als fungibler Ersatz für Rationalität zu nehmen, um die Rationalität zu retten. Nicht die Irrationalität führt in die Irre, sondern die Erwartungen auf Rationalität sind das, was der Ordnungsfindung im Wege steht.
Solange Rationalität das entscheidende Ordnungskriterium sein sollte, wird man in der Sache niemals weiter gekommen. Das liegt daran, dass jede Rationalität keine eindeutige Entscheidungsbasis liefert; und weil das so ist, wird auf dem Wege der massenmedialen Kommunikation von Gefahr und Bedrohung die fehlende Eindeutigkeit von Argumenten ersetzt durch Stimmungsmache, um rationale Entscheidungsabläufe zu stimulieren, die mit rationalen Betrachtungen nicht geordnet werden können.
Normalerweise bieten sich dafür zwei Möglichkeiten an: Angst – wie in dem Artikel von Häusler – oder Hoffnung. Aber für beides scheinen sich die Kapazitäten erschöpft zu haben. Damit meine ich, dass die gesellschaftlich verfügbaren Belastbarkeiten durch Steigerung von Zumutungen nicht weiter ausgedehnt werden können, erkennbar an dem Versuch, genau das Gegenteil zu versuchen: „Wir müssen Empörung organisieren„, heißt es in diesem Heise-Artikel. Typisch: auf dem Wege der adressenlosen massenmedialen Verbreitung von Appellen lässt sich nichts organisieren, denn Organisation braucht Macht, aber Macht ist auf Märkten, die Information als bezahlbares Gut behandeln, nicht zu finden. Macht benötigt die Einschränkung von Handlungsfähigkeit, massenmediale Verbreitung von Empörung liefert aber nur Informationsdefizite, durch die Handlungen nicht verkoppelbar sind. Massenmediale Kommunikation produziert Kopflosigkeit, nicht Gleichschritt.
Diese Appelle haben den Charakter von Gebten oder anderen religiösen Ritualen, deren rationale Wirkung mit solchen Verlautbarungen vergleichbar sind: auf der anderen Seite ist niemand, den man damit erreichen könnte. Deshalb ist die Irrationlität dieses Tuns gar nicht schädlich, sondern ist im Gegenteil der Versuch, den Problemdruck zu erhöhen. Denn die Irrationalität liefert nicht nur Motive zur Abwehr und Immunisierung, sondern auch zur Abwehr dieser Abwehr. Immunsysteme können sich erst dann schließen und durch Schließung bilden, wenn sich Abwehrversuche an vorhergehenden Abwehrversuchen orientieren. Kurz gesagt: wenn also die Widerstände gegen eine Sachlichkeit und gegen eine Ordnungsfindung selbst versachlicht werden. Eine Irrationalität steht solchen sozialen Prozessen gar nicht im Wege.
Daraus folgere ich die Vermutung, dass diese Datensammelei zur Festigung von Immunsystemen gebraucht wird, die allerdings nicht durch Organsiation von Macht stabil gehalten werden können. Denn Organisation von Macht ist auf rationale Abläufe angewiesen, die durch Organisation selbst nicht garantiert werden können. Immunsysteme, die sich auch auf der Basis von Irrationalität bilden können, können dann auch die Paranoia versachlichen. Denn dass Paranoia nur als Versuch der Kommunikation von Angst und Misstrauen genommen wird, unterliegt den Erwartungen auf Durchsetzbarkeit von Rationalität. Und sobald sich die Erfüllungserwartungen auf rationale Wirksamkeit absenken, könnte auch erkennbar werden, dass die Paranoia keineswegs eine pathologische Vermeidungsangelegenheit ist, sondern im Gegenteil: wenn Irrationalität einer Ordnungsfindung gar nicht im Wege steht, dann könnte die Paranoia selbst zu einem Vertrauensproblem werden, das Kriterien für die Ordnungsfähigkeit von Beiträgen liefert.
Vor dem letzten Satz stehe ich ratlos: Paranoia als Vertrauensproblem, die dadurch ein Ordnungskriterium wird? Und was meinst du mit Ordnungsfähigkeit?
Eine Ordnungsfähgigkeit von Beiträgen ergibt sich, wenn Erwartungen auf Erwartungen treffen, die bestimmte Erwartungen entweder bestätigen oder – im Falle ihrer Enttäuschung – nur wiederum die Erwartung aufwerfen, dass die Enttäuschung auch hätte vermieden werden können, weshalb sich die Erwartung – also die Erwartung, dass Erwartungsbestätigung erwartet wird – wiederholt. Du kennst das aus alltäglichen Geschehnissen, in denen Missverstehen kommuniziert wird. In solchen Fällen bricht die Kommunikation nicht eionfach ab, sondern es wiederholt sich die Erwartung, dass Verstehen möglich gewesen wäre, weshalb die Erwartung auf Verstehen kommuniziert wird. Das soziale Geschehen reproduziert sich dann über die Kommunikation von Missverstehen. Die soziale Verstehensleistung kommuniziert ein Missverstehen, es wird verstanden, dass missverstanden wurde. Das Kommunikationssystem prüft dann alle Ordnungsfähigkeit von Beiträgen darauf ab, ob eine Differenz zwischen Verstehen und Missverstehen noch erkennbar bleibt, ohne eine Voraussage darüber zu ermöglichen, durch welchen Beitrag das Gespräch beendet werden könnte. Denn weder durch die Mitteilung, ob Verstanden oder ob Missverstanden wurde, ergibt sich ein Ende oder eine Fortsetzung des Gespräch. Beides kann das Gespräch beenden oder auch nicht.
Im dem Fall, in dem Paranoia als Kommunikation von Angst und Misstrauen die Erwartung zulässig macht, dass Angst und Paranoia als Warnhinweise anschlussfähig werden, welche die Kommunikation beenden könnten, muss die Fortsetzung dieser Kommunikation Paranoia als etwas Zuvermeidendes behandeln. Zwar wird damit die Kommunikation über Angst und Misstrauen nicht beendet, aber es zeigt sich eine Ordnung von Zurechnungsmöglichkeiten. Die Kommunikation ordnet gleichsam die Gründe für ihre Fortsetzung auf Menschen, auf das Urteilsvermögen von Menschen zu, indem es heißt: „Weil du paranoid bist …, weil diese Leute paranoid sind …, weil es falsch ist, paranoid zu sein …, weil paranoides Denken irrational ist“ und dergleichen. Auf diese Weise bleiben Angst und Misstrauen kommunikabel, weil das Kommunikationssystem seine eigene Ordnungsmöglichkeiten in ihrer Kontingenz nicht reflektiert. Es findet gleichsam nur einer ständige Selbstwiederherstellung einer Ordnung statt, die Gründe für Angst und Misstrauen autoktalytisch aus der doppelten Kontingenz befreit und in ihre eigene, überprüfbare Empirizität überführt, die, weil sie immer auch mit Zumutungen für Menschen verbunden ist, eine Ressourcenknappheit wiederherstellt, wodurch sich Sequenzen, Episoden beständigen Durchlaufens von Routinen ergeben, die vorhersehbar nach dem gleichen Muster ablaufen.
Wenn sich nun aber herausstellt, wenn offenbar wird, dass die Paranoia als etwas Zuvermeidendes in jedem Augenblick als unvermeidlich erscheint, läuft die Kommunikation von Angst und Misstrauen ins Leere, weil die Zuordnung von Gründen in der Umwelt keine knappen Ressorucen mehr findet. Das gilt für den Fall einer „großen Freischaltung“, z.B. durch Internet.
Jetzt wird zwar immer noch versucht, Angst und Misstrauen zu kommunizieren, aber jetzt treffen alle Zuordnungsversuche auf Umwelt dort nicht mehr auf knappe Ressourcen. Was kann man daraus als beobachtungsleitende Hypothese ableiten?
Meine Überlegung: die Struktur in ihrer Kontigenz zu betrachten, was heißen könnte, dass nicht trotz der Kommunikation von Paranoia Ordnung möglich ist, sondern nur weil die Paranoia unvermeidlich ist, ist Ordnung möglich. Wobei ich eine Ordnung meine, die Lernbereitschaft aufgrund paranoischen Beobachtens stimuliert.
Danke!
„die Struktur in ihrer Kontigenz zu betrachten, was heißen könnte, dass nicht trotz der Kommunikation von Paranoia Ordnung möglich ist, sondern nur weil die Paranoia unvermeidlich ist, ist Ordnung möglich. Wobei ich eine Ordnung meine, die Lernbereitschaft aufgrund paranoischen Beobachtens stimuliert.“ –-> das scheint mir genau das zu sein, was Pynchon in seinen Romanen versucht. (Note to self: Paranoia nicht so inhaltlich psychologisch denken, sondern als Form!)
„Paranoia nicht so inhaltlich psychologisch denken, sondern als Form!“
Genau. Als soziale Form, die auf ein Erfahrungsdefizit verweist, durch das die modernen Form der Erfahrung )und die Empirizität der modernen Welt) die Struktur der Devitation aus Verschränkung von Inklusion durch Organisation und anonymer massenmedialer Kommunikation nicht länger durchaltbar ist. Diese moderne Struktur der Devitation lässt sich dann in ihrer Debilität erkennen, wenn ein paranoischer, nicht ein paranoider Beobachter sich in Irrtumskommunikation verstrickt wieder findet und auf seine Machtlosigkeit mit Lernbereitschaft reagiert. Deshalb die Anweisung: Schutzschilde herunter fahren!
https://twitter.com/kusanowsky/status/712232287673446404
Frachtschaden: „Verstehe den Zusammenhang nicht“
Die größte immunologische Leistung der modernen Gesellschaft, sofern es um die Herstellung epistemischer Voraussetzungen für das Gelingen von sozialer Realität geht, besteht darin, ein Vertrauen in Menschenvermögen zu erzeugen. Eine ganz gewöhnliche Situation, die du dir vorstellen kannst: Zuerst reden wir darüber, wie sehr uns Wahrnehmung täuschen kann, und dann setzen wir uns ins Auto und fahren mit 100 km/h über die Autobahn, als wären wir gar nicht in Lebensgefahr. Darin, dass uns dieser Widersinn gar nicht als Hürde, weder als Hürde für Erkennen, Wissen oder Handlung auffällt, spricht sich gesellschaftlich ein sehr hohes Vertrauen auf Menschenvermögen aus. Das Vertrauen bezieht sich auf das Humanpotenzial von Erkennen, Wissen und schließlich Handeln. In diesen Etappen hat sich historisch das Vertrauen in Menschenvermögen vollzogen, wobei ein Vertrauen in Handlung auf die schärfsten Anschlussbedinungen trifft, unter denen es noch gelingen kann, und irritabel wird, nämlich durch Rechtfertigung von Handlung in einer prinzipiell unsicheren Welt. Denn mit rechtfertigungsfähigem Handeln sind immer auch Chancen auf Inklusion und der damit verbundenen Drohung auf Exklusion verbunden. Damit so etwas gelingen kann, also Handlungen zur Rechtfertigung von Handlungen, sind machtvolle Institutionen nötig, die alles Monströse in den Schatten stellen. Damit sind moderne Organisationssyteme gemeint, die hoch immun sind gegen ihre Debilität. Und in dem Maße, wie sich diese Organsiationen als in Widersprüche der Gesellschaft verstrickt wieder finden, verstärken sie einerseits ihre Machtfähigkeit durch Differenzierung ihrer Form, und lassen andererseits das, worin sie ein Vertrauen als begründbar – also rechtfertigungsfähig – erscheinen lassen, selbst debil werden, nämlich: Rechtfertigung von Handlung. Der Grund ist: Organisationssysteme stellen sicher, dass aufgrund ihrer Macht alles immer schon entschieden ist, auch die Rechtfertigung von Handlung, sogar dann, wenn der Handelnde seine Rechtferigungsfähigkeit preisgibt. Beispiel Banken. Dort gilt: Too big to fail. Das heißt: Rechtfertigung spielt keine Rolle mehr. Und wird es dennoch versucht, offenbart sich die Debilität solcher Versuche sehr schnell.
Solches kann man an den Internetkommunikationen überall beobachten: Shitstorms, Trollerei, Veschwörungstheorien, Überwachung usw. Es ist alles immer schon gerechtfertigt, ablesbar daran, wie einfach es ist, alles zu bestreiten. Denn auch das Bestreiten rechtfertigt sich auf denkbar primitive Weise: Der Beobachter ist einfach anderer Meinung, egal, worum es geht. Er ist in eine immunologische Falle gelockt worden und weiß nun nicht weiter.
“ … Deshalb die Anweisung: Schutzschilde herunter fahren!“
Frachtschaden: „um so debiler“ – Ist das ein entropisches Phänomen? Oder warum geht es immer in diese Richtung?
Die Debilität ist gleichermaßen Konstrukt erklärungstheorietischer Provokationen wie Produkt von Rechfertigungstheorien, die sich wiederum provokativ zur Veränderung der durch sie hevorgerufenen Veränderungen der Erfahrungsbedingungen verhalten.
Die alte Gesellschaft (Antike, Mittelalter) hatte kein vergleichbares Vertrauen in Menschenvermögen. Ihr galt alles Menschenvermögen, hier immer gemeint in Hinsicht auf die epistemischen Voraussetzungen von Gesellschaft, als suspekt (aka Sündhaftigkeit, Erbsünde). Die epistemischen Vorausstzungen gründeten sich auf einen absoluten Wahrheitsanspruch, der sich darüber erklärte, dass Menschenvermögen grundsätzlich gebrechlich (Debilitas lat. Gebrechlichkeit) und damit völlig unzuverlässig und nicht vertrauenswürdig ist. Wenn Autorität und Gehorsam, Wahrheit und Tradition diejenigen Referenzen sind, die für zivilisatorische Verlässlichkeit stehen, dann kann Menschenvermögen nichts sein, dass besonderer Wertschätzung unterliegt.
Das änderte sich im Umbauprozess zur Moderne, indem diese Gebrechlichkeit nicht mehr nur mit Geringschätzung betrachtet wurde. Wie etwa bei Galilei, was sich allerdings auch woanders bereits zeigte, wo es heißt: Gott hat die Welt geschaffen, Gott hat mich geschaffen und Gott hat auch meine Verstandesfähigkeit geschaffen. Darin spricht sich eine schon stabil gewordene zivilisatorische Leistung aus, die, obzwar sie die Gebrechlichkeit prinzipiell gar nicht leugnete, dennoch schon auf ein Selbstbeeindruckungprogramm angepasst war. Das heißt, dass sich hier die Devitationsstruktur des transzendentalen Vermeidungsirrtums provokativ gegen die Erfahrungsbedingungen der alten Zeit richtete. Provokativ heißt: Devitationsstruktur ohne Devitationstheorie. Das änderte sich bis ca. zum Beginn des 19. Jahrhunderts, nachdem die Devitationsstruktur ihre Erfahrungsbedingungen umgewälzt hatte und es nun nur noch mit sich selbst zu tun bekam ( bei Luhmann aka operative Schließung). Jetzt wurde die Devitationstheorie infolge ihrer Trivialisierung durch gesellschaftliche Diffussion selbst zur Devitationsstruktur. Das heißt, der transzendentale Vermeidungsirrtum bildete als virulentes Derivat seiner selbst jetzt seine Rechtfertigungstheorien aus. Die Stichworte wären: Kategorischer Imperativ (Kant), Recht auf Freiheit (Marx), Beschreibung moderner Rationalität seit Weber, Recht auf Kampf (Marxismus), inkl. des ganzen transzendentalen Selbstbeeindruckungsprogramms wie Ablehnung von Aberglaube, Atheismus, Evolutionstheorie und Sozialdarwinismus, Fortschrittglauben, Genialität und Heldenverehrung, Erforschung künstlicher Intelligenz, Raumfahrt und dergleichen mehr.
Dieses Selbstbeeindruckungsprogramm wird seitdem an der Monstrosität organisationaler Strukturen sichtbar und jetzt, infolge dieser Umwälzung der Erfahrungsbedinungen, trifft die Debilität, also die andere Seite dieser Selbstbeeindruckung, auf Bedingungen selbstgemachter Umweltveränderung, wogegen sich sich bei anhaltender Beliebtheit rechtfertigungstheoritischer Devitation provokativ verhält. Das meine ich mit der Formulierung: „Der Beobachter ist in eine immunologische Falle gelockt worden und weiß nun nicht weiter.“ – Weshalb er die veränderten Bedingungen wiederum nur provokativ in Erfahrung bringen kann.
Die Debilität hat also zwei Seiten: provokativ durch ihre Nichtvermeidung, rechtfertigend durch Nichtvermeidung der Nichtvermeidung mit dem Ergebnis, dass auf der Basis dieses Prozesses die transzendentale Devitationstheorie ihre Haltbarkeit verliert. Indikator dafür: das Entstehen der Luhmannschen Theorie, die eine Provokations- und keine Rechtfertigungstheorie ist.