Notizen zur Evolution der Dokumentform 1. Reformation

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Ein höchst folgenreiches Ergebnis der Evolution der Dokumentform zeigte sich im Aufkommen des Humanismus und der Reformation im 15. und 16. Jahrhundert. Man dürfte darin möglicherweise nicht zuerst einen Reflexphänomen des Buchdrucks erkennen, sondern vielmehr dürften sowohl der Buchdruck als auch die Ausdifferenzierung einer säkularen Form der Gelehrsamkeit und der Staatsführung sich gegenseitig als voraussetzende Bedingung genommen haben, um den Anforderungen eines funktionalen Differenzierungsprozesses der Gesellschaft entsprechen zu können. Man denke etwa daran, dass bereits durch die Hanse ein weltumspannendes Netzwerk an Tauschbeziehungen entstanden war, das die Konzentration auf Waren und Geld nach sich zog, und welches sich nicht ohne Erfahrungen im Umgang mit Spekulation und Vergleich hätte entwickeln können. So zeichnet sich denn auch das Schema, durch das die Dokumentform sich entwickeln konnte, vor allem durch die Bereitstellung von Vergleichbarkeiten aus, deren Kenntnis die Benutzer von Dokumenten sich gegenseitig unterstellen konnten. Und sobald von Vergleichbarkeiten gewusst wird, kommen die Variationen ins Spiel, also Möglichkeiten der Erweitrung durch Spekulation, und damit ihre Einschränkung durch Regelfindung, welches ein Bewusstsein der prinzipiellen Erweiterbarkeit des Schemas zur determinierenden Voraussetzung hat. So können sich nun die Beteiligten auf diese Vergleichbarkeiten hin beobachten, und ihr gegenseitiges Beobachten beobachten, ohne auf Interaktion angewiesen zu sein. Tatsächlich findet mit der Anwendung dieses Schemas eine Verstellung der Interaktionssituation statt, indem die gegenseitige Wahrnehmung auf etwas anderes als das, was die Wahrnehmung bis dahin beeindruckte, als entscheidendes Selektionskriterium für die Anschlussfindungen genommen wird, also nicht mehr nur das, was man sieht, sondern auch das, was man, jetzt komplexer informiert, sonst noch sehen könnte. Dieses Andere, die Fremdreferenz, wird zur Kontrolle benutzt und determiniert alle Kommunkation. In der Folge spielt für die Ego-Alter-Beziehung das gegenseitige Wissen um die Identität dessen, worüber kommuniziert wird, für die Kommunikation eine entscheidende Rolle: wenn verglichen wird geschieht dies unter der Voraussetzung einer Komplexität von Vergleichsmöglichkeiten, die bei erfolgreicher Anschlussfindung, wie man sagen könnte: bei ‚verständiger‘ Reduktion, ein Wissen um Identität stabilisiert womit zugleich die dies indizierende Unterscheidung beobachtbar wird, nämlich die von Identität und Differenz.
Und nicht zufällig kann man in der Reformation die Folgewirkungen abgebildet finden. Als Beispiel sei hier das Aufkommen biblischer Textkritik genommen. Mit der Reformation kamen alle entscheidenden Fragen auf, die in der philologischen Forschung der nächsten dreihundert Jahre bestimmend sein sollten; kein Wunder deshalb, weil dies eben genau der Zeit entspricht, in der die Dokumentform eingeübt, erprobt und erfahren wurde; und schließlich mit der Industrialisierung zerfiel.
Für die mittelalterliche Gelehrsamkeit bestand das Bibelstudium, sofern es in der Spätzeit überhaupt noch betrieben wurde, im Nachvollzug eines überindividuellen, göttlichen Plans, verwirklicht durch den Heiligen Geist, durch den alles menschliche Handeln nur als Erfüllungshandeln erschien. So waren die Erzählungen der Heiligen Schrift Äußerungen einer göttlichen Subjektivität. In der Schrift war Gott das Subjekt der Handlung und die Menschen warem dem göttlichen Willen zugeordnete Werkzeuge, die dem Erzählten ohne eigenes Zutun ausgesetzt waren. Das änderte sich nunmehr. Zunächst blieb natürlich die Vorstellung von der Schrift als dem Wort Gottes enthalten, aber in dem Augenblick, in dem – wie bei Luther – das göttliche Wort als das entscheidende genommen wird, und nicht mehr das kanonisierte Schriftum der Tradition, muss die Frage aufkommen was es denn besagt. Und um welche Entscheidungsproblem ging es denn plötzlich?
So beugten sich die Gelehrten nun unter gänzlich veränderten Bedingungen über die Schrift und stellen seltsame Fragen. Eine davon war, wie die Schrift entstanden ist. Wenn auch Gott als der Urheber angesehen wurde und die Menschen nur die Aufschreiber des Wortes waren, so war doch die Frage wichtig wie sich der Wille Gottes in seinem Wort zeigte und wie man die Wahrheit des Wortes trotz der Tradition durch Methoden der Interpretation, also durch Einschränkung per Regelfindung ermitteln kann. Diese Ermittlungsversuche deuten darauf hin, dass die Wahrheit sich als kontingent erwiesen hatte, um so mehr, da man durch Vergleich nun feststellte, dass da etwas nicht stimmte. Am Ende des Deuteronomiums (5. Mos, 34,1) wird erzählt, wie Moses stirbt. Es werden sowohl die Umstände als auch der Ort seines Todes geschildert. Und die Schrift besagte nun, dass Moses der Aufschreiber war. Um es zu wiederholen: auffällig wurde das nicht, weil man Schriften verglich, sondern weil sich die Gelehrten gegenseitig ein Wissen um Vergleichbarkeit unterstellten, also die Unterscheidung von Identität und Differenz reflektieren, und dann die Frage aufwarfen: wer hat die mosaischen Schriften verfasst? Eines war dann plötzlich klar: Moses konnte es nicht gewesen sein. Und konsequenterweise: wenn das nicht stimmte, was stimmte sonst noch nicht?
Man sieht an diesen Fragen, wie die Verwendung der Dokumentform auf ein verändertes Weltverhältnis schließen lässt, welches wiederum aus der Behandlung von Dokumenten durch Erprobung von Schematisierung abgerufen wurde. Denn numehr konnte das innerweltliche Geschehen als der Heilsplan Gottes nicht mehr ohne ein Zutun von Menschen betrachtet werden. Man hätte es durchaus mit der Präfiguration einer Transzendentalphilosphie zu tun, über welche sich die Zeitgenossen gleichwohl nicht im Klaren waren.
War Gott bislang das Subjekt der Erzählung, so wird nun die Erzählung zum Objekt. Das Wort wurde Gegenstand und war nicht länger nur das Erlebnisphänomen des Glaubens. Und sofern dieses Objekt der Erzählung in der Erzählung der Gelehrten, in ihren Schriften wieder vorkommt, so kommt nun auch der Gelehrte als Subjekt eben dieser (Weiter-)erzählung in der Erzählung vor. Und wichtig: beides sowohl Subjekt als auch Objekt der Erzählung können nur fremdreferenziell durch Verweise auf andere Dokumenten beobachtet werden. So ist es denn auch kein Wunder, dass bald der Habitus des Gelehrten selbst durch Dokumente beobachtbar wird wodurch sich die Verlässlichkeit der Dokumentform erhärtet hatte, da sich nun die Zeugenschaft des Dokuments aus dem Gebrauch ihrer Form selbst ergab. Die Authentizität der Urteils konnte über den routinierten Gebrauch von Schematisierung in Form gebracht, konnte durch so vonstatten gehende Rationalisierung erlebt werden.
Der Buchdruck dürfte diesen Referenzierungsprozess durch Distribution von Schriften und bald auch von Bildern beschleunigt haben. Das Ergebnis war dann, dass alle wechselseitige Wahrnehmung auf Wahrnehmung von Nichtwahrnehmbarem trainiert wurde. So wird der Heilige Geist dann uminterpretiert in die kommunikative Bereitstellung von Lösungen, die als Resultate der Kommunikation problematisierbar sind ohne, dass sich an der verwendeten Form etwas Grundlegendes ändern muss, was geht, solang jede Einschränkung der Formverwendung noch ein Maß an Erweiterungen zulässt, das die Kapazitätsgrenze der Wahrnehmung nicht überschreitet.

Bild: Der Habitus der Gelehrsamkeit. Erasmus von Rotterdam