Lernen als Machtspiel 5 ökologische Krise 1
zurück /weiter: Schund- und Schmutzkampfrituale gibt es, seit im 17. Jahrhundert das Zeitunglesen und bald danach das Romanlesen zur Alltagsübung in der bürgerlichen Kultur wurde. Zeitung, Roman, Fotografie, Kino, Werbung, Comics, Radio, Schallplatten, Fernsehen, Computerspiele, Unterhaltungselektronik und jetzt natürlich Smartphones und Internet – jede Pädagogengeneration hat sich seit dem 18. Jahrhundert ihr eigenes Bedrohungsszenario für die Gefährdungen der Moral, der Sittlichkeit, der Verstandesfähigkeit und der gesellschaftlichen Integrierbarkeit geschaffen. Solche Bedrohungsszenarien werden aus mindestens zwei Gründen gebraucht:
- Sie dienen als Ersatz für die Nichterklärbarkeit von Gesellschaft. Da zwar die Gesamtheit aller gesellschaftlichen Tatsachen dazu beiträgt, Medieninnovationen hervorzubringen, aber diese Gesamtheit nicht objektivierbar und daher nicht feststellbar ist, können nur Korrelationen gebildet und diese als Tatsachen nur selektiv gewonnen werden. Diese Selektionen werden dann induktiv auf die Erwartung von Ordnungen angewendet, was selbst dazu beiträgt diese Ordnungen herzustellen und zu ändern.
Solche Bedrohungsszenarien erfüllen die gleiche Funktion wie utopische Versprechungen: Da Gesellschaft als Gesamtheit ihrer Tatsachen nicht erklärbar ist, wird die Selektion von Korrelationen als „Wahrheit“ (oder als Hoffnung oder Angst) entweder bestätigt oder zurück gewiesen. Diese Medieninnovationen helfen nun dabei, die Selbstbeobachtung von Gesellschaft zu betreiben, was aber wiederum dadurch erschwert wird, dass die Vorbehalte gegen Medieninnovationen auf den Wegen und mit den Mitteln zustande kommen, die durch diese Medieninnovationen selbst ermöglicht werden: Vorbehalte gegen Schriftgebrauch werden in Schriften verbreitet; Druckwerke, die darüber informieren, dass gelogen wird wie gedruckt; Fernsehsendungen, die über die Gefahren des Fernsehens informieren usw.
Eine stets gut funktionierende Strategie für solche Bedrohungsszenarien ist die Ausnützung von Erpressbarkeit; Kinder seien unschuldig, unmündig und unfähig mit dem Zumutungen, die aus solchen Innovationen entstehen, umzugehen, weshalb sie dringend der Fürsorge und dem Wissen von Erwachsenen bedürfen, die, wenn sie unterbleibt, stets die allerschlimmsten Folgen haben würde. Auf diese Weise wird die Nichterklärbarkeit von Gesellschaft als Erwartung der Zukunft über die Runden gerettet.
– - Diese Bedrohungsszenarien und ihre ritualisierte Behandlung verhindern gar nicht die Durchsetzung von Medieninnovationen, sondern begleiten sie und sind unverzichtbare Lieferanten von Differenzen zur Gewinnung von Widerständigkeit; keine Widerständigkeit gegen diese Innovationen, sondern Widerständigkeit gegen diese Widerständigkeit, weil auf diese Weise sehr viele Unklarheiten geordnet werden können. Das Ergebnis ist dann die Realität der Gesellschaft. Alle Medienkompetenzen, Professionalisierungen, Kapitalbildungen, alle Strukturgewinne infolge solcher Medieninnovationen wären ohne solche Bedrohungsszenarien gar nicht möglich, solange mit jedem Durchlauf dieser Vermeidungsrituale neue Ressourcen erschlossen und genutzt werden können; solange also Wachstum nach erwartetem Muster geschieht.
Etwas ähnliches scheint mir auch für die Diagnose von ökologschen Krisensymptomen zu gelten. Die ökologische Krise wird im Verlauf der Industrialisierung nicht bewältigt, sondern in Erfahrung gebracht, ablesbar an den immer monströser wirkenden Zustandserscheinungen, deren Bedrohungscharakter ständig überboten werden muss, um Motive für Handlung und Entscheidung kommunikabel zu machen. Aber auch in diesem Fall gilt, dass zur Behandlung dieser Symptome immer neue und weitere Ressourcen erschlossen und genutzt werden müssen, um trotz der Nichterklärbarkeit von Gesellschaft die Ritualisierung der Bedrohung über die Runden zu retten, sie also auf die Zukunft zu verschieben.