Differentia

Tag: funktionale Differenzierung

Findet Kommunikation statt? Über soziale und parasoziale Beobachtung 7

zurück / Fortsetzung: Die moderne Gesellschaft hat im Laufe ihrer Entwicklung die Bedingungen geändert unter denen sie sich erhalten kann. Das betrifft vor allem die Bedingung ihrer Erfahrbarkeit. Für die moderne Gesellschaft war die Einsicht, dass Gesellschaft von Menschen hergestellt und garantiert werden sollte, eine entscheidende Voraussetzung dafür, dass ein Differenzierungsprozess nach dem immer gleichen oder ähnlichen Muster ablaufen konnte. Erkennen, Wissen und Handeln waren die gesellschaftlich-epistemologischen Problematisierungsschritte und damit zugleich der Prozess einer Vertrauensfindung, die unverzichtbar war zur Entfaltung einer transzendentalen Subjektivität; ein Prozess, der zwar noch nicht überall abgeschlossen ist, der aber unaufhörlich weiter gehen wird.
Auf dem Wege dieser Entfaltung hat die Gesellschaft eine Vielzahl von Kommunikationsmedien entwickelt, die allesamt zur Strukturierung einer symbolischen Ordnung – Gesellschaft oder Kultur als Menschenwerk – beigetragen haben. Diese symbolische Ordnung, so viel wie sie auch immer wiedererkennbar, normal und alltäglich erscheinen mag, so wenig hat sie eine Selbstverständlichkeit; sie hat keine beliebige Normalität, sondern kann nur unter Bedingungen möglich werden, die durch die Gesellschaft selbst erzeugt, erforscht, genutzt und weiter entwickelt werden.
In Maße nun, wie diese symbolische Ordnung als conditio sine qua non erscheint, macht sie auf ihre Fraglichkeit aufmerksam. Das heißt zuerst: auf ihre Kontingenz, dies umso dringlicher und hartnäckiger, je einfacher, je trivialer es wird, sich auf eine Position der Indifferenz gegen die Bedingung der Möglichkeit von Gesellschaft zurück zu ziehen. Damit sei gemeint: das Medium der Differenzierung wird schwach und schwächer, je weniger es sich Versuchen von Formbildungen nach bekanntem Muster widersetzen kann. Das Medium löst sich in die Trivialität seiner Formen auf.
(Was an dieser Stelle fehlt, wäre eine Übersicht über die sozialen Formen transzendentaler Subjektivität, die zu geeigneter Zeit und bei Interesse erarbeitet werden müsste.)

Die Trivialität der Formen könnte man auch als einen Fäulnisprozess beschreiben, ablesbar an der transzendentalen Stupidität oder Demenz, die man genauso leicht, weil durch Benutzung der selben trivialen Möglichkeiten er- und vermittelbar, feststellen kann. Aber jeder Fäulnisvorgang ist auf der anderen Seite seiner Möglichkeit immer auch ein Zeugungsvorgang. Wer feststellen kann, dass die Gesellschaft in einen Zustand der Fäulnis übergeht, hat jeden Grund genauer hinzuschauen, ob dieser Zustand nicht auch ein fruchtbarer Boden für etwas Neues ist.

Fortsetzung

 

 

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Findet Kommunikation statt? Über soziale und parasoziale Beobachtung 6

zurück / Fortsetzung: Die Differenzierung der modernen Gesellschaft gelang durch einen mutigen und sehr riskanten Verzicht. Um das Vertrauen in das Erkenntnisvermögen von Menschen zu steigern (ab dem 17. und 18. Jahrhundert), um die Beeindruckung über Menschen als Quelle und Träger des Wissens herzustellen (ab dem 18. und 19. Jahrhundert) und um schließlich Menschen zu befähigen ihre Handlungen zu rechtfertigen (ab dem 19. und 20. Jahrhundert), musste der Glaube an eine jenseitige Macht aufgegeben werden, die Gott als Schöpfer der Welt und als Führer des menschlichen Lebens aufgefasst hatte. Und es mussten alle Erwartungen aufgegeben werden, die mit dieser Weltauffassung verknüpft waren: der Glaube an eine unsterbliche Seele und die Erfüllung eines göttlichen Plans. Der ganze Zivilisationsstolz der alten Zeit musste seine Gebrechlichkeit erweisen und sich verzichtbar machen, bevor auf ihn verzichtet und durch einen anderen ersetzt werden konnte.
Diese Ersetzung war kein Prozess des Nacheinanders, sondern ein Prozess der Gleichtzeitigkeit von Vergehen des einen und Werden des anderen. Der Unterschied zwischen der Naturauffassung und dem Verhältns zu Wahrheit bei Galilei im 17. Jahrhundert und bei Einstein im 20. Jahrhundert ist beträchtlich und hat, entgegen den Gewohnheiten der Wissenschaftsgeschichtschreibung, keine Kontinuität.
Ein Verhältnis von Trauma und Mythos hatte sich umgekehrt: im 17. Jahrhundert war der Zivilisationsstolz, der seinen Mythos aus Tradition, Autorität und absoluter Wahrheit bezog, traumatisch, also brüchig und unhaltbar geworden. Darauf reagierte Galilei mit einem Rettungsversuch, der sich auf Wahrheiten der Physik bezog. Wahrheit hieß bei Galilei: absoulte Wahrheit, die sich jetzt auch durch Naturforschung ergeben sollte. Tatsächlich war dieser Rettungssversuch ein Schlussstein für den alten Zivilisationsstolz und zugleich ein Anfangspunkt für einen neuen, der sich seinen eigenen Mythos erschaffte. Beim Einstein-Bild, gemeint ist damit sowohl das Bild der Person als auch eins der Theorie, findet man stattdessen die Ensemblierung aller Elemente, aus denen sich der moderne Zivilisationsstolz zusammensetzt: Der Erkenntnissucher, der sich seiner Not bewusst wird; der Wissenschaftler als Genie, der durch große Leisutng zu beeindrucken vermag und der ethisch Handelnde, der sich über die Ergebnisse seines Tuns irritiert. Und spätestens die Atombombe macht dann deutlich, was vom Mythos des modernen Zivilisationsstolzes noch zu halten ist.

Der Verzicht, der mit der Entwicklung der Gesellschaft gleistet werden musste, wurde also nicht schlagartig erbracht, sondern vollzog sich Etappenweise mit der Durchsetzung der funktionalen Differenzierung, die ihre eigenen Voraussetzungen herstellte, die für jede weitere Generation unverzichtbar wurden. Die ersten Atheisten des 17. Jahrhunderts hatten das sehr ernstzunehmende Problem, dass sie das Herkommen der Welt nicht hätten erklären können, wenn sie einen Schöpfergott leugneten. Wo sollte die Welt herkommen, wenn sich doch empirisch eindeutig zeigt, dass sie kein Mensch gemacht hat? Dieses Frage wurde im Laufe von 200 Jahren mit der Absenkung der Erwartungen auf göttliche Fügung immer einfacher zu beurteilen. Ein Handicap für eine Evolutionstheorie lag beispielsweise darin, dass man lange nicht glauben konnte, dass sich die Formen der Arten ändern können, weil man annahm, dass Gott sie einmal und unveränderlich geschafffen habe. Erst als es im 18. Jahrhundert gelungen war, die Veränderlichkeit zu akzeptieren, ohne einen Gott prinzipiell zu leugnen, war der Weg dafür frei, mit einer Evolutionstheorie anzufangen*. Auf dem Wege konnten dann schließlich alle Vorbehalte gegen einen schlußendlichen Verzicht aufgegeben werden.

So hat die gesellschaftliche Evolution eine Welt zurück gelassen, die den Erben die historischen Bedingungen ihrer Möglichkeit nur schwer begreiflich mach kann:

  • Niemand weiß was es bedeutet, bei Gott um Gnade für die eigene Sündhaftigkeit zu flehen, was auch für diejenigen gilt, die sich selbst ob solchen Verhaltens gegenüber anderen hervortun wollen. Denn wer sich ernste Sorgen um seine Seele macht, würde nicht vorbehaltos in jedes Mikrophon sprechen, das einem hingehalten wird.
  • Darum kennt auch niemand den cartesischen Mut, der gebraucht wurde, um mit Gottes Einverständnis die eigene Verstandesfähigkeit zu erforschen. Es ist kein mutiges Anliegen mehr, seinen Verstand zu gebrauchen. Das gilt auch für diejenigen, die sowas dennoch behaupten. Man erkennt sie daran, dass sie tun, was alle anderen auch tun: Sie schreiben mit Überzeugung auf, wovon sie überzeugt sind und kümmern sich nicht um die Folgenlosigkeit ihres Tuns. Besonders mutig ist diese Indifferenz nicht.
  • Niemand der Lebenden weiß was Leibeigenschaft ist, wenn man sie nicht mehr am eigenen Leib erfahren kann; keiner ist auf Traditionen verpflichtet oder hat Gehorsamspflichten gegenüber einer Autorität. Keiner glaubt an Hexerei und Zauberei, auch die nicht, die es verstehen, daraus ein Geschäft zu machen. Denn diese Art von Dienstleistung funktioniert nach der selben Logik wie jede andere auch. Niemand solcher Zauberkünstler kann Finanzbeamte verhexen.
  • Niemand der Lebenden kann die Gefährdungen der alten Zeit, die sich aus dem Leben ergaben, leicht nachvollziehen: die Hilflosigkeit gegenüber Kranken und Sterbenden; Epidemien, Ernetausfällen und Hungersnöten ausgeliefert zu sein ist etwas. das die Lebenden nur durch umfangreiche Auswertungen von Archivalien begreifen können.
  • Niemand in der Erbengemeinschaft der Gesellschaft weiß wie Menschen erlebt und gefühlt haben, die nicht als Personen behandelt wurden. Eine der wichtigsten sozialen Formen, die uns beinahe selbstverständlich erscheint, ist die Wertschätzung von Individualität. Diese Naivität gilt auch für diejenigen, die unverdrossen von der Entfremdung des Menschen infolge der funktionalen Differenzierung sprechen. Dieser Romantizismus einer heilen Welt von Menschen für Menschen ist eine in Spezialdiskursen gebrechlicher Soziologie standardisierte Fiktion, die aus der Indifferenz gegenüber den Bedingungen der Möglichkeit von Gesellschaft ihre Rechtfertigungsfähigkeit bezieht.

So hat die moderne Gesellschaft im Laufe von 400 Jahren ihres Werdens die Bedingungen geändert, unter denen die Welt verstehbar wird.

Fortsetzung


* Rieppel, Oliver: Unterwegs zum Anfang. Geschichte und Konsequenzen der Evolutionstheorie. [SB 155]

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