Differentia

Tag: Fundamentaltheorie

Provokation und Rechtfertigung

Als Fortsetzung zu den Ausführungen zur Unterscheidung von Fundamental- und Radikaltheorien habe ich eine Sammlung von Kommentaren erstellt. Dabei handelt es sich um Kommentare, die ich hier im Blog in den letzten Jahren zum Verhältnis von Rechtfertigung und Provokation verfasst habe. Es ist nicht nötig, diese Texte zu zitieren. Denn wer sie nur zitieren will, hat sich damit nicht beschäftigt, wer sich aber damit beschäftigt, kann nicht mehr gut unterscheiden, was Original und was Plagiat ist. Das heißt, diese Texte sind zur Verfügung und damit zur Aneignung frei gestellt.

Die Sammlung hat einen Umfang von 24 Seiten A4 und findet sich hier als PDF und hier als Openoffice Datei.

Provokation und Rechtfertigung. Eine Sammlung von Notizen zum Verhältnis von Medium und Form (nach N. Luhmann).

Inhaltsübersicht

1. Masse und Subjekt
2. Internet als Dispositiv
3. Erklärungstheorien und Rechtfertigungstheorien
4. Provokation und Rechtfertigung von Ordnung
5. Trollerei ist Provokation von Ordnung
6. Anschlussfähigkeit und Erfahrung
7. Reflexion und Emergenz
8. Kunst und Antikunst
9. Metaphern
10. Das theoretische Problem der funktionalen Differenzierung
11. Die apokalyptische Funktion des Internets
12. Vertrauen im Menschenvermögen
13. Macht und Funktion
14. Debilität
15. Die drei Medienepochen bei Herder

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Fundamental und radikal // Rechtfertigung und Provokation

@bertrandterrier hat die Unterscheidung von Fundamental- und Radikaltheorie vorgeschlagen. Mit dieser Unterscheidung wird versucht, die Behandlung von blinden Flecken zu ordnen. Sowohl Fundamental- als auch Radikaltheorie sind Reflexionsleistungen von Beobachtungen zweiter Ordnung, die sich auf die Beobachtung von blinden Flecken beziehen und die sich auf Irrtumskommunikation einlasssen.

Eine Fundamentaltheorie weist auf die blinden Flecken von anderen hin; sie findet und formuliert Gründe (also Fundamente) dafür, die eigenen blinden Flecke als Wahrheit zum Zweck der Irrtumsvermeidung zu empfehlen, ohne diese Wahrheit allerdings als letztbegründet aufzufassen. Auch eine Fundamentaltheorie ist eine Reaktion auf die Unsicherheit in der Welt, aber ist entstanden als die optimistische Auffassung, Sicherheiten der Urteilsfähigkeit dadurch zu ermitteln, dass niemand daran gehindert werden soll, nach dem gleichen Verfahren auf die blinden Flecke anderer zu zeigen. Das geht, wenn gesellschaftliche Verhältnisse, trotz aller Unsicherheiten, schon genügend Sicherheiten liefern, deren parasitäre Ausnutzung von einer Fundamentaltheorie empfohlen wird.
Sowas geht also, wenn Unsicherheit bereits in genügendem Ausmaß vermieden wurde.

Das heißt: auch eine Fundamentaltheorie war als Radikaltheorie entstanden; sozial wirksam wird sie aber zunächst nur als Provokation (pro-vocare, hervorrufen, ohne es zu können). Gemeint damit ist eine soziale Problemlösung, dies sich aus den unlösbaren Inkomunikabilitätsproblemen von vorausgesetzten Rechtfertigungen ergibt. Rechtfertigung, zzgl. einer ihnen zugeordneten Reflexionsform der Theorie, kommen nämlich dann zustande, wenn sich bekannte gemachte Provokationen von Radikaltheorien ausschließlich auf sich selbst beziehen, wenn eine solche theoretische Reflexion sich selbst als Differenz im Verhältnis zu einer anderen Radikaltheorie auffasst, die nach einem identischen Schema verfährt. Wenn sich also die Provokationen von Radikaltheorien bei fungibler Vermeidung,  Aussortierung aller anderen Möglichkeiten, die auch potenziell anschließbar wären, sich ausschließlich auf sich selbst beziehen, entsteht eine Fundamentaltheorie, die deshalb Gründe für alles finden kann, weil sie für ihr eigenes Zustandekommen keine findet, keine finden muss und keine mehr finden kann. Aus diesem Grund ist sie „fundamental“. Sie kann zwar auf die blinden Flecken der anderen zeigen, für ihre eigenen hat sie aber kein geeignetes Beobachtungsschema und kann auch keines finden, solange sie erfolgreich ihre Fungibilität als normal, selbstverständlich und natürlich auffasst und sich damit, nicht nur hinsichtlich ihrer Prämissen, Postulate und Axiome, sondern auch hinsichtlich ihrer Folgewirkungen in einer Nische der Indifferenz niederlässt, mit der Folge, dass sie ihre Wahrheiten selbst in die Inkommunikabilität überführt. In dieser Situation prägt sich eine Fundamentaltheorie pessimistisch aus. Sie ist mit ihren Möglichkeiten am Ende und ganz andere kann sich nicht so einfach zulassen, solange andere Möglichkeiten nicht als heteroclitisch auffallen. Denn in dem Fall erscheinen sie immer als wiedererkennbar und damit als normal und sind folglich für Veränderung ungeeignet.
Voraussetzung für die Transformation von Provokation und Rechtfertgerigung ist ein Gedächtnisverlust, der sich ereignet, wenn Lösungen für Probleme gefunden werden, weshalb die Probleme verschwinden und sich diese Lösungen neue Probleme suchen, ohne eben dies zur Auskunft zu geben.

Eine Radikaltheorie weist nicht nur auf die blinden Flecke einer Fundamentaltheorie hin, sondern offenbart auch ihre eigenen ungeniert, unverdeckt, unverhüllt, unverschleiert; sie empfiehlt sich selbst als Irrtum oder auch als Irrtum über Irrtum, aber sie kann diese Selbstoffenbarung nicht garantieren, sondern kann eine entsprechende Beobachtung nur provozieren und auf Antwort warten. Deshalb erscheint eine Radikaltheorie heteroclitisch und ist ein Indikator für Veränderung.

Der paradigmatische Anwendungsbeispiel ist die Transzendentaltheorie der modernen Wissenschaft, die als Radikaltheorie zuerst provokativ gegen die Rechtfertigungstheorie der Scholastik gewirkt, sich dann aber, nachdem sie die damit zusammehängenden Probleme aufgelöst hatte, nur noch auf sich selbst bezog und damit in die Rechtfertigung einer Fundamentaltheorie überführt wurde.

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