Soziologischer Aschermittwoch: 12 Sekunden Wissenschaft #wowsignal @schuetz_marcel @Sonntagssozio
von Kusanowsky
Beim soziologischen Aschermittwoch, der am 6. März 2019 in Köln stattgefunden hat, ist eine kleine Sensation passiert. Es hat sich so etwas wie ein Wow!-Signal gezeigt, das kaum jemand bemerkt hat, das aber dennoch aufgezeichnet wurde. Im Verlaufe einer langen und ermüdenden Diskussion, in der 2 ganze Stunden das typische Spiel eines Professorengremiums („diskutieren bis der Arzt kommt“) durchgeführt wurde, hat sich für 12 Sekunden ein „Riss in der Matrix“, die Unterbrechung eines deprimierenden Schauspiels (theoria) ereignet. Es kam für die Dauer von 12 Sekunden zu einem wissenschaftlichen Ereignis, das aber, weil bei dieser Veranstaltung für Wissenschaft wenig Zeit war, folgenlos bleiben musste. Das Ereignis fand statt von Std. 1:39:29 bis Std 1:39:41.
Zur Erläuterung: ein Professorengremium ist eine der bizarrsten Einrichtungen moderner Wissenschaftsorganisationen, in denen ein bestimmtes Personal, nämlich Professoren, zusammengerufen wird, um Anliegen zu besprechen, um Entscheidungen zu treffen oder um Probleme zu lösen, die die Beteiligten selbst nicht haben, weil sie aufgrund ihrer beruflichen Position alles mögliche tun müssen, aber eines gewiss nicht, nämlich mit irgendetwas einverstanden sein.
Das Amt eines Professors besteht in einem nicht weiter bedingten Recht auf andauernden Widerspruch, das durch eine lebenslange Alimentierung der Person institutionalisiert ist. Der Ausdruck dafür ist „Freiheit der Wissenschaft“ und meint, wenn es auf Wahrheit ankommt, kann es nicht auf eine unbedingt und letztlich geltende Vorschrift ihrer Akzeptanz ankommen. Vielmehr muss sich Wahrheit ereignen und zwar durch forschen, lernen und ordnen. Die dafür in Frage kommenden Voraussetzungen sind – sofern nur die wissenschaftsinternen Voraussetzungen für die Wissenschaft relevant sind – von der Wissenschaft selbst zu erbringen: Findung von Gegenständen des Forschungsinteresses, Hypothesenbildung, Methodenwahl, aber auch die Erprobung, also die Erforschung von Methoden, die Durchführung der Forschungsarbeit, die Kontrolle und Überprüfung der Ergebnisse, Gestaltung der Lehre, die Ausbildung des Nachwuchs etc. Außer der Wissenschaft, die im Amt des Professors die Inkarnation ihrer Wahrheit erfährt, darf es nichts geben, das eine übergeordnete Weisungsbefugnis hätte. Ein Professor hat in Sachen Wissenschaft keinen Chef.
Wird also Wissenschaft organisiert, dann gilt für eine solche Organisation das gleiche wie für alle anderen: es müssen Entscheidungen getroffen werden, aber in der Universität nur von Professoren. Diese Notwendigkeit zur Entscheidung hat aber im Recht des Handelns eines Professors keine Entsprechung. Professoren müssen entscheiden, aber kein Professor muss mit irgendetwas einverstanden sein. Und mehr noch: ein jeder Professor hat das nicht zu enteignende Recht, angehört zu werden, ein Recht wiederum, das nichts anderes als die Wissenschaft selbst gewährt. Und dies sehr zuverlässig.
Unter diesen Voraussetzungen findet ein Professorengremium statt, in dessen Händen es liegt, mit diesen Schwierigkeiten fertig zu werden. Nicht selten gelingt der Ausstieg aus solchen Diskussionen nur durch Zeitdruck. Irgendwann braucht es frische Luft, irgendwann melden sich Hunger und Durst, irgendwann ist eine körperliche Belastungsgrenze erreicht, die dann dazu führt, die Versammlung zu beenden. Sollte das nicht passieren, müsste irgendwann der Notarzt kommen.
Die Veranstaltung, um die es hier geht, war zwar nicht von einem Entscheidungsdruck geprägt, aber wie immer galt für sie, was für jedes andere Professorengremium auch gilt: Die anderen sind mit keinem Mittel zur Vernunft zu bringen. Jedes Argument, das vorgetragen wird, führt nicht etwa dazu, dass es den Beteiligten überraschend die Sprache verschlägt, dass sie erstaunt, nachdenklich und lernbereit reagieren. Vielmehr wird stets wiederholt, was schon wiederholt wurde, so dass bei einer jeden Aussprache zu jeder Gelegenheit Argumente vorgebracht werden, die schon immer vorgebracht wurden, was unter anderem auch daran liegt, dass alles schriftlich niedergelegt und gedruckt und in Bücherregale gestellt und zitiert und Zitiertes zitiert wurde und zwar in letzten 100 Jahren tausendfach, so dass immer nur Vorhersehbares passiert: Man weiß immer schon, was die anderen meinen oder was sie nicht gesagt haben oder was sie hätten sagen müssen oder hätten sagen sollen, weil man die Positionen, die Betrachtungsweisen, die Argumentationsverläufe immer schon kennt. Der sogenannte „Werturteilsstreit“ ist so alt wie die Soziologie selbst und hat in den letzten 100 Jahren nur die Routine hervorgebracht, die besagt: „Dennoch ist es so, dass …“ Und dann weiß man schon was kommt.
An oben zitierter Zeitstelle wurde diese Routine („Ich sage es noch einmal“ – „Man muss es immer wieder sagen“ – „Ich betone noch einmal“ usw.) überraschend unterbrochen, indem ein beteiligter Professor, wohl mehr aus einem Eifer resultierend, der sich gegen die Langweile widerspenstig zeigte, aus Versehen auf Lernbereitschaft umgestellt hatte, eine Bereitschaft, die umgehend ignoriert wurde, was dafür sorgte, diesen Riss in der Matrix sofort wieder zu flicken. Es ging um die Frage, ob Soziologie etwas Politisches sei. Die normale Routine geht so: „Ich sage, ob Sie wollen oder nicht, dass Soziologie immer auch einen politischen Charakter hat – Ich sage, es kann doch nicht sein, dass man sich mit Ideologien gemeint macht – Und dennoch sage ich, dass …“ Usw.
Stephan Lessenich: Ich spreche doch gar nicht von einem bewussten, expliziten politischen Interesse, dass Sie mit Ihrer oder ich mit meiner Forschung verfolgen. … Darum geht es doch nicht. Mir geht es nicht um das explizite politische Interesse, mit dem man an den Gegenstand geht, sondern um das Faktum, dass das per se politisch ist, was Sie betreiben.
(Danach kam das Wow!-Signal, Achtung:)
Hartmut Esser: Na und? Dass ich hier sitze ist auch politisch. Irgendwie. Ja und? Was folgt draus, praktisch? Was folgt denn draus? … (begleitet vom Gelächter im Publikum.)
Eben diese Frage, also die wissenschaftlich relevante Frage, was denn daraus folgt, wenn es so ist, wie es sei, wurde gar nicht beantwortet. Stattdessen wurde nur eine Ausrede vorgebracht. Und dann ging alles wieder seinen betrüblichen Gang. Die Frage, was daraus folgt, ist eine andere Frage als die, ob er Recht hat, ob das stimmt, was er sagt, ob das der Wahrheit entspricht, sondern ist die Frage, was man davon lernen kann, wenn man das so sieht. Die Antwort war hier wie immer: Nichts. Jedenfalls nichts, das nicht schon tausendmal gesagt, geschrieben und zitiert worden wäre, ohne, dass sich irgendetwas an dieser Routine ändern würde.
Überflüssig zu erwähnen, dass diese Routine nicht nur für die hier angesprochene Angelegenheit gilt, sondern für alles andere auch, was von den verschiedenen Soziologien mit Wahrheitsanspruch vorgetragen wird: Was folgt daraus? Die Antwort zu verweigern, ist nichts weniger als eine Vernichtung von Wahrheit. Denn es ist wahr, dass forschen und lernen etwas verändert. Nur Professoren genießen das Privileg, Wahrheit in aller Unschuld und vor laufender Kamera ungeniert vernichten zu dürfen.
Schöne Beschreibung. Im Leben hätte ich Hr Essers Frage an Lessenich nicht unter einen Moment von Wissenschaft einsortiert. Mein Eindruck war, dass Hr E. den Faden verloren hat, gerade nicht ganz auf der Höhe war und trotzig fragte.
Allerdings habe ich von der Veranstaltung keine Wissenschaft erwartet. Denn die inhaltliche Frage, wie du schreibst, ist hundert Jahre alt und üblicherweise mit einer befriedenden Antwort versehen. Das Treffen sollte eine „Friedensverhandlung“ sein, so mein Vorverständnis. Da die Einen, da die Abtrünnigen, es geht um Geld und Macht, Shakespear! Und um Liebe! Wir wollen anerkannt sein, vom Volk vorzugsweise, aber doch bitte, bitte von der Politik. Wozu all das Wissen, empirisch errungen mit signifikanten Ergebnissen, wenn sich den Schlüssen kaum jemand anschliesst? Oder die tollen Reflektionen, das alles mehrmals durchdachte, wen schert‘s? Das scheint eine große Kränkung zu sein. Die Einen sagen, „wenn wir noch empirischer werden, dann werden wir erhört“, die Anderen sagen „wir müssen etwas zu sagen haben, dann werden wir erhört“.
Dazu sage ich „Posse“. Und gehe kopfschüttelnd wieder an die Arbeit und versuche mein bestes.
Gegen Ende hatte ich Freude. Frage Journalist: Warum braucht es einen Dr. Titel für die AS? Und die Fragen der Studierenden/Promvovierenden, die so herrlich gar nichts mit dem Streit zu tun haben, sondern nach Geld und Jobs fragen. Das ist Wirklichkeit.
„Mein Eindruck war, dass Hr E. den Faden verloren hat, gerade nicht ganz auf der Höhe war und trotzig fragte.“
„Die Herkunft des Wow!Signals ist bis heute nicht sicher geklärt.“
mir ist auch schon vorher mehr als einmal der Kragen geplatzt bzw. die Spucke weggeblieben: Lessenich holt die parteiische Soziologie wieder aus der Versenkung, Hirschauer diffamiert, pauschalisiert und behauptet mit sanfter Stimme die unfassbarsten Dinge – und KEINER sagt was, ich schon und nicht nur an dieser Stelle, zB warum viele es echt leid waren – wann sonst als am Aschermittwoch. Die Anwesenden waren auch nicht anders als sonst: Warten auf ein Schauspiel und Unterhaltung. Dazu sind Professoren nicht da.
Dazu sind Professoren nicht da, aber alle Beteiligten ohne Ausnahme haben dabei mitgemacht. Ein solches Schauspiel beginnt damit, dass allen der Kragen platzt. Keiner kann sich mehr zurück halten. Daher dieser Trübsinn.
Lieber Herr Kusanowsky, haben Sie eigentlich schon mal in Erwägung gezogen, zwischen REALITÄT (das, was der fall ist; woran wir uns halten und meistens auch fest-halten) und WIRKLICHKEIT (das was „wirkt“, d.h. immer dann Energie erzeugt, wenn sich zwei Entitäten agonal begegnen) zu unterscheiden?
Ich bin für weitergehende Unterscheidungen, die etwas Neues erbringen, jederzeit zu gewinnen. Was folgt daraus, wenn man zwischen Realität und Wirklichkeit unterscheidet? Was kann man lernen, wenn man auf diese Weise beobachtet?
erst mal zurückgefragt 😉 was würden SIE denn vermuten?
– damit ich weiß, was ich voraussetzen kann und nicht so ins Blaue hinein formulieren muss…
Ich weiß noch nicht, was ich vermuten kann. Warte gespannt.
Na gut, ich hoffe, Sie können zuhören (= agonal begegnen, d. h. bestätigend, ohne die eigenen Differenzbildungen dabei aus dem Blick zu verlieren)
Was wir lernen können, wenn wir real und wirklich wie oben definiert unterscheiden? Wir können bewusst zwischen dem Herstellen von „realen“ Artefakten wie zB einen Stuhl zu be-setzen (POÍESIS) und Sinn-bildendem (öffentlichem und daher politischen) Handeln (PRAXIS) unterscheiden. Das ist die (aristotelische) Unterscheidung, auf die Maturana sich ausdrücklich bezog, als er einen Namen für das suchte, was seitdem „Autopoiesis“ heißt.
„Ich bin für weitergehende Unterscheidungen, die etwas Neues erbringen, jederzeit zu gewinnen.“
Weitergehende Unterscheidungen, die etwas (für Sie) Neues erbringen, können Sie nur selber generieren.
Um sich als System fortlaufend von einer Umgebung differenzieren und sich so zu reproduzieren zu können, müssen Systeme in der Lage sein, immer wieder spontan einen Anfang zu setzen.
„spontan“ heißt: 1. aus eigener Kraft, 2. von Moment zu Moment und 3. ohne direkten Einfluss von Außen.
Bei Menschen heißt das: HANDELN (i. U. zu HERSTELLEN).
Handeln heißt Sinn bilden. Sinn-bilden – also HANDELN – heißt: Anschlussfähigkeit im Prozess HERSTELLEN.
Sinn ist Voraussetzung für und Resultat von Handeln und bildet sich in agonaler Begegnung.
Aha. Verstehe. Wer nichts weiteres mehr zu sagen hat, belässt es beim Mittel der Belehrung. Muss ich mir merken. Wusste ich noch nicht.
Sie können das, was ich schrieb, als Belehrung lesen. Was ich dann wiederum als Kommunikationsblockade oder, falls absichtlich geschehen, als bösartigen Affront lesen würde.
Sie können es aber, und so war es gemeint, auch als Versuch lesen, Ihrem Wunsch entsprechend die Differenz real / wirklich zu erläutern, indem ich sie in die Differenz Herstellen / Handeln überführe.
Da könnte dann die Diskussion weitergehen.
Gut.
Nach diesem etwas holprigen Beginn zögere ich, fortzufahren.
Meine Unterscheidung Handeln / Herstellen – die noch um die Differenz Handeln / Erleben zu ergänzen wäre – zielt auf die Synthesis von Bewusstsein bzw. von Gesellschaft (und das bedeutet: ihre Ko-Produktion / Ko-Evolution), d. h. auf das fortlaufende Wieder-Eintreten eines Systems in das System.
Und das ist eine Vorstellung, bei der in der Wolle gefärbte Luhmannianer meiner Erfahrung nach gewöhnlich Hustenanfälle bekommen.
Warum?
bekommen Sie denn keinen?
Und falls nein: was dann?
Trollen im eigenen Blog – das ist genial.
unter einem Troll verstehe ich Leute, die real (das, was der Fall ist) und wirklich (das was wirkt) in einen Topf werfen und sich den Teufel drum scheren, was sie damit anrichten.
Aber das hat nichts mit mir zu tun?
meinen Sie diese Frage wirklich ernst?
Gewiss. Ich versuche noch herauszufinden, um was es geht. Was also real der Fall ist.
Sie hatten meine Frage, was meine Ausführungen zur Differenz von Handeln / Herstellen bzw. Erleben / Handeln bei Ihnen auslösen (z.B. einen geistigen Hustenanfall), unbeantwortet gelassen.
Sobald ich die Frage verstanden habe, gebe ich eine Antwort.
Meine Frage lautet: Fragen Sie sich gelegentlich, wie (Ihr, mein, unser) Bewusstsein – verstanden als ein Leben ebenso wie Gesellschaft voraussetzendes System – die realen Bedingungen dafür herstellt, die es ihm gestatten, sich auf sich selbst als ein Ganzes zu beziehen? In anderen Worten: fortlaufend so an sich anzuschließen, dass dieses Herstellen scheinbar spurlos in seinem Resultat – dem Bewusstsein – verschwindet?
Zur Erläuterung: das ist die Frage, die ich Trollen stelle. Trolle werfen (diabolein), wie gesagt, gerne Reales und Wirkliches in einen Topf und kümmern sich nicht um das Gebräu, das sie damit anrichten. „Der ganze Strudel strebt nach oben; du glaubst zu schieben und du wirst geschoben“ (Faust, Hexensabbat).
Ich stelle Ihnen diese Frage, weil Ihr Internetverhalten, soweit ich es bisher erlebt habe, mich gelegentlich an das von Trollen erinnert.
Mein Internetverhalten?
Ich präzisiere: Ich meine weniger Ihr REAL beobachtbares Internetverhalten als das darin verborgene WIRKEN.
Mit „Wirken“ meine ich die Differenz zwischen dem, was „SICH“ für Beobachter darin „ZEIGT“ (die dem Verhalten zugrundeliegende Haltung, das eingefrorene Meinen, den Zeit- / Sach- / Sozial-Verhalt) und den Möglichkeiten, AUF die es ZEIGT, nämlich dia-bolein, ver-wirren.
Diese Differenz ist es, auf die ich Sie aufmerksam machen möchte.
Es geht also um eine Diabolik?
nein, um Verwirren.
Ich hatte bei Ihren Fragen, so auch bei dieser, bisher immer den Eindruck, dass sie nicht aus dem Interesse kommen, zu erfahren, was ich meine, sondern dass es rhetorische Fragen sind. Fragen, die irgendwie nur verwirren sollen.
Vielleicht in der (mE vergeblichen) Hoffnung, dass daraus was Vernünftiges entstehen könnte.
Ich bitte um etwas Geduld. KZU ist kein leichtes Spiel. Es sind immer mehr Voraussetzungen möglich als aktuell genutzt werden können. Einfach und schnell gehen nur noch banale und triviale Dinge. Alles andere braucht Zeit, Geduld, Lernbereitschaft; und es erfordert eine Ernsthaftigkeit, die die Frage behandelt: was soll es denn noch werden, wenn nicht bloß ein bekanntes Spiel nach bekanntem Verfahren von vorne anzufangen und schon zu wissen, wie es zuende geht.
ich zerbreche mir den Kopf über die Frage, was KZU bedeutet.
Sobald Internet erfunden wurde, wird es die Möglichkeit zum Googeln geben. Aber bis es soweit ist, müssen wir noch fleißig üben.