Der Protest-Strich
von Kusanowsky
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„Wir Kinder tun oft nicht das, was ihr uns sagt. Wir tun das, was ihr tut. Und weil ihr Erwachsenen auf meine Zukunft scheißt, tue ich das auch. Mein Name ist Greta, und ich bin in der neunten Klasse. Und ich bestreike die Schule für das Klima bis zum Tag der Wahl.“ (zu lesen bei SPON)
Eine echte Kampfansage. Jetzt dürfen Kinder, womöglich mit behördlicher und elterlicher Genehmigung, das Lernen verweigen. Warum auch nicht? Es bringt ja alles nichts mehr, weil alles schon ausreichend gewusst wird: die Probleme kennt jeder, die Lösung auch. Jetzt muss die Lösung nur noch durchgesetzt werden. Durchsetzen heißt, mit Machtkommunikation anzufangen; und Machtkommunikation heißt, Drohungen auszusprechen. „Wenn nicht geschieht, was geschehen soll, dann … “ gefolgt von der Vermeidungsalternative, also ein Angebot, das voraussichtlich abgelehnt und darum ausgesprochen wird: Geld her, oder ich schieße. Gehorche, oder du wirst bestraft. Forderung erfüllen, oder es wird gestreikt, streiken heißt hier: die Mitarbeit, die Mitwirkung zu verweigern: Die Welt retten, sofort, oder ich weigere mich zu lernen.
Erfahrung und jedes Weltwissen, dessen Empirizität sich dadurch auszeichnet, dass es innerhalb von Machtspielen erarbeitet und bekannt gemacht wurde, läßt nur die Fortsetzung von Machtspielen zu. Das nicht nur mit allen tauglichen, sondern auch mit allen untauglichen Mitteln. Kinder auf den Protest-Strich zu schicken ist so ein untaugliches Mittel. Aber warum wird davon trotzdem Gebrauch gemacht?
Es handelt sich um eine Hyperbolisierungsstrategie dieser Machtspiele. Sobald eine soziale Ordnung, die Machtoptionen in der Weise ordnet, dass sie die Partizipation an diesem Machtspielen erwartet und die Erfüllung dieser Erwartung mit Befriedigung versieht, kann im Erfolgsfall niemals aufhören, immer mehr Humanressourcen zu Durchaltung dieser Ordnungsstrategie zu akquirieren. In dem Fall, dass Streik als Machtspiel akzeptabel wird und zur Befriedigung führt, heißt das: Zuerst werden minder qualifizierte Industriearbeiter in dieses Machtspiel verwickelt, dann Angestellte des öffentlichen Dienstes, Dienstleister jeder Branche, dann auch höher qualifizierte Angestellte, aber dann auch Studenten, Schüler und irgendwann auch Kinder. Niemandem kann die Beteigung an diesem Machtspiel wirksam untersagt werden, denn wenn die einen das Recht zum Mitmachen erhalten, warum nicht auch die anderen? Was spricht zukünftig dagegen, dass auch Politiker streiken oder Maschinen oder Tiere? Wer das Quatsch nennen möchte, lebt in einer kleinen und übersichtlichen Welt. Erst die rigorose Übertreibung führt grell vor Augen, was mit Argumenten nicht zu erreichen ist.
Kein Pädagoge, kein Vater und keine Mutter verliert also an Ansehen, wenn sie Kinder dazu ermutigen, auf den Protest-Strich zu gehen. Cosi fan tutte. Wer seine Kinder liebt, verwickelt sie in aussichtslose Machtspiele. So kann wirksam nicht gelernt werden, was erst noch zu erlernen wäre: Lernerfahrungen, die nicht aus Machtspielen resultieren.
„es wundert mich aber wie du darauf kommst, das mädchen mache das nicht aus eigenem antrieb.“
Soweit ich informiert bin – und es kann ja sein, dass ich mich irre – unterliegen Kinder unter 18 Jahren der Aufsicht durch Eltern, Lehrer oder sonstigen, mit der Ausübung einer Aufsichtspflicht beauftragten Personen, die selber mindestens 18 Jahre alt sind. Dazu zählt vor allem auch die Bestimmung über den Aufenthaltsort, den Kinder von 15 Jahren nicht gegen den Willen ihres Vormunds wählen dürfen. Das ist das eine.
Das andere ist, dass Kinder aus eigenem Antrieb sehr viele Dinge tun oder lassen, Schule schwänzen beispielsweise, Mitschüler mobben, Lehrer ärgern, Eltern anschreien, Murmeln spielen, Kaninchen streicheln oder Bettnässen. Dass sich Kinder aus eigenem Antrieb weigern, die Schule aufzusuchen, kann jeder glauben, der selber Kind war und zur Schule gehen musste.
Dass ein 15 jähriges Mädchen schulfrei dafür bekommt, gegen etwas zu protestieren, über das sie nur von ihren Lehrern informiert und unterrichtet wurde, hat sie gewiss nicht aus eigenem Antrieb geschafft.
Vielleicht wäre es an dieser Stelle gar nicht so schlecht, du würdest dich etwas differenzierter mit meiner verquasten Ausdrucksweise beschäftigen.
Manche Dinge sind nämlich gar nicht so kompliziert zu verstehen,
verquasung raubt mir meisten nur die lust auf auseinandersetzung oder weiterlesen, nicht unbedingt das verständnis. auch hier, in deinem kommentar, ist deine argumentation intellektuell einwandfrei, aber sie scheint mir eher auf nachdenken als einer auseinandersetzung mit der eigentlichen situation zu beruhen. gerade wenn man andere leute mit sexuell und gewalttätig konnotierten und herabsetzenden methaphern beschreibt, kann es ja nichts schaden nicht nur in den eigenen kopf zu schauen, sondern zum beispiel auch auf die berichterstattung.
ich nehme mir nicht heraus genau zu verstehen, was das mädchen im einzelnen antreibt, aber was ich über sie gelesen habe, lässt mich eher in eine andere richtung denken als dich.
ich habe gelesen, dass das mädchen dem autistischen spektrum zugeordnet ist (asperger) und vom zustand der welt so frustriert war, dass sie erkrankte. der aktivismus, so habe ich verschiedene artikel über sie verstanden, war ihr weg aus der krankheit — dem sich ihre eltern nicht in den weg stellen wollten, ihn aber auch nicht explizit gefördert haben.
der spiegel zitiert das mädchen:
http://www.spiegel.de/wissenschaft/natur/greta-thunberg-das-gesicht-der-globalen-klimabewegung-a-1241185.html
natürlich kann man darüber streiten ob diese form des protests pampige machtkommunikation ist, an der politischen und gesellschaftlichen realität vorbeigeht oder insgesamt untauglich ist, aber einfach aus dem eigenen, beschränkten erfahrungshorizont jemanden zu verurteilen ist dann auch wieder nicht anderes als ein kleines, vom schreibtisch initiertes machtspiel, ohne jedes risiko und mit minimalem einsatz. aber immerhin trägst du deine überzeugungen genauso unerschütterlich selbstbewusst vor, wie greta thunberg. mit dem unterschied, dass du ihr das verlassen auf den gesunden menschenverstand, das weglassen von „empirizität“ ankreidest, dir selbst aber zusätzlich auch das weglassen von evidenz erlaubst.
Alte Weisheit: Wenn Protest etwas ändern würde, wäre er verboten. Protest wurde deshalb als eine Erlaubnis in Erfahrung gebracht, weil die Gesellschaft nach langem Hinundher lernen musste, dass man Protest nicht verbieten kann, weil in dem Fall nämlich gegen das Verbot protestiert wird. Daraus wurde gelernt, indem der Staat seine Staatsgewalt in die Verfügung nehmen ließ, um dieses Verbot zu verbieten. Das selbe gilt für Meinungs-, Presse-, Versammlungsfreiheit und Persönlichkeitsrechte aller Art – all das sind Verbote eben diese Rechte und Freiheiten zu verbieten. Seitdem diese Verbote erfolgreich durchgesetzt sind, haben sie ihren dämonischen Charakter verloren und werden, unter Mitwirkung der Staatsgewalt, aber auch mit Beitrag der Pädagogik, der Wirtschaft und der Massenmedien als gesellschaftliche Erfahrungstatsache behandelt, analysiert, bewertet und auf diese Weise ihrer Dämonie entkleidet und zivilisiert. Seitdem gilt: jeder darf Meinungskampf betreiben, darf protestieren, demonstrieren, aber keiner muss zuhören, keiner muss sich damit beschäftigen, keiner ist deshalb zu irgendwas gezwungen, kein Lehrer, kein Politiker, kein Chef eines Unternehmens, kein Angestellter, kein Kunde und auch kein Blogger, dem es sonst sehr wichtig ist, seine besonders kluge Meinung unaufgefordert zu publizieren.
Das Recht zu protestieren heißt in dem Fall, ein Recht auf Indifferenz in Anspruch zu nehmen, ein Recht, das sowohl diejenigen in Anspruch nehmen dürfen, die mit diesem Protest adressiert werden, als auch diejenigen, die ihn äußern. Niemand muss sich die Frage gefallen lassen, was das alles noch soll, weil jeder ganz einfach und ohne weitere Komplikationen dieses legitime Recht in Anspruch nehmen darf. Der Protestbetrieb ist genauso Ausdruck einer politischen Indifferenz wie die Ermunterung dazu.
Nun weiß keiner, was in einem Klassenzimmer vor sich geht, wenn ein Lehrer seine Schüler dazu ermuntert, Protest zu betreiben. Vermutlich funktioniert das auf diese Weise: Der Lehrer informiert die Schüler über die katastrophalen Auswirkungen des Klimawandels, zeigt ihnen, dass es wissenschaftliche Beweise für diesen Klimawandel gibt, erläutert die Auswirkungen und zeigt den Schülern Bilder von Menschen, die auf die Straße gehen, um gegen die Untätigkeit der Politiker zu demonstrieren, verbunden mit der Lehre, dass es gut und richtig sei, sich für eine gute Sache zu engagieren. Ein kluges Mädchen hört dem Lehrer zu und setzt sich nun in den Kopf, den Schulbesuch zu verweigern mit dem Argument, dass sie auch das Recht habe, sich für eine gute Sache zu engagieren, denn: schließlich ging es um ihr zukünftiges Leben. Daraus entsteht für den Lehrer eine Glaubwürdigkeitsfalle: Er könnte dem Mädchen das verbieten, dann würde das Mädchen aber lernen, dass es ihr verboten sei, sich für eine Sache zu engagieren, von welcher der Lehrer sagt, es sei eine gute und wichtige Sache. Die Verlegenheit des Lehrer ist: das Mädchen soll zur Schule gehen und die Lehre ernst nehmen. Tut es das aber, weigert sie sich plötzlich, zur Schule zu gehen. Eine Double-bind-Situation. Was soll der Lehrer jetzt machen?
Naja, am besten erlaubt man den Protest, so kommt er aus dem Schlamassel heraus und kann sich gewiss sein, dass 1. der Protest ohnehin nicht viel bringt und dass 2. der verpasste Schulunterricht auch nicht viel gebracht hätte.
Ergebnis: Egal ist 88. In dubio pro Vollnarkose.