Politische Erfahrung 4

von Kusanowsky

 

zurück / Fortsetzung: Sich auf geordnete Erfahrung zu verlassen, ist sehr verführerisch. Man weiß dann ganz viel, kann ganz viel und neigt dazu, sich in einer bekannten und vertrauten Welt bestens orientieren zu können. Die Gewissheiten, die sich aus geordneter Erfahrung ergeben, kennen kaum eine ebenso verlässliche Entsprechung in der Erfahrungswelt. Jeder weltfremde religiöse Fundamentalismus ist im Vergleich dazu eine bescheidene Sache. Denn von Erfahrung sprechen zu können heißt, die Gebrechlichkeit allen Erfahrungswissens in Rechnung zu stellen. Der moderne Konsument ist davon befreit. Entweder es gefällt ihm oder er ist, egal worum es geht, anderer Meinung. Damit ist man stets auf der sicheren Seite, weil man nämlich sehr genau weiß, was das zur Folge hat, nämlich: nichts.
So kann man sich ganz leicht seiner Verantwortung stellen.
Geordnete Erfahrung bewirkt durch Überinformierung eine Art von Pessimismus und Verdrossenheit. Das Ausmaß dieses Pessimismus ist ablesbar an dem gigantischen Aufwand, der betrieben werden muss, um keine schlechte Stimmung dauerhaft aufkommen zu lassen. Deshalb werden z.B. Helene-Fischer-Songs gebraucht. Helene Fischer singt Lieder der Zweisamkeit für Alleinstehende. Das gibt Kraft und macht Hoffnung. Der Konsument ist genauso verwöhnt wie deprimiert und kann deshalb bedenkenlos von Algorithmen gesteuert werden.
Wer sich verhält wie eine Ratte, darf auch so behandelt werden: auf die richtigen Knöpfe drücken und unten im Ausgabeschacht die Belohnung abholen. Der wissenschaftliche Nachwuchs hat sich auf ein solches Verhalten spezialisiert und ist nicht gewillt, daran etwas zu ändern. Formulare richtig ausfüllen und Fördermittel beantragen. Sollte das nicht reibungslos funktionieren, dann kann man immer noch auf der Straße für mehr Wissenschaft demonstrieren gehen. Oder gegen prekäre Beschäftigungsverhältnisse protestieren. Und wenn das auch nicht hilft, dann fügt man sich den Dingen und arbeitet im Call-Center. Man weiß eigentlich nicht wie diese irre Welt funktioniert, aber es gibt gute Gründe, es beim Nichtwissen zu belassen. So bleibt die Welt in Ordnung.

Anstatt sich auf geordnete Erfahrung zu verlassen, könnte man es mit ordnender Erfahrung versuchen. Das aber ist weder so einfach zu begründen noch gibt es eine verlässliche Erfahrungsbasis. Denn ordnende Erfahrung ist alles, was aus der Erfahrungswelt aussortiert werden muss, damit Ordnung gelingt. Damit sind die Irrtümer des Lebens gemeint. Ich hatte schon vor einigen Jahren dafür den Begriff Erratik oder Paranoik verwendet. Völlig vergeblich. Kaum jemanden interessiert das, weil alle hauptsächlichen Bemühungen dahin gehen, die Wiedererkennbarkeit der Welt zu retten, was zusehends immer schwerer wird, aber die Ressourcen sind noch immer nicht erschöpft.

Sich mit ordnender Erfahrung zu befassen heißt zunächst vor allem, den schrägen Blick zu üben.

Fortsetzung

 

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