Die Betroffenheitsschleife der Zeigefinger-Erektion
von Kusanowsky
Christoph Ransmayr: Europa! Herz der Finsternis.
Was für eine betörende Utopie: ein Kontinent der friedlichen Völker, ohne Grenzbalken und Kriege. Aber Europa hat die Rechnung für seine Raubzüge nie bezahlt. Und wer von uns will schon auf einen Teil des Luxus verzichten? (weiterlesen)
Ein Erinnerungstext. Ich habe keine Übersicht darüber, wie viele solcher Erinnerungstexte seit den 70er, 80er, 90er Jahre geschrieben und publiziert worden sind, die einen knapp und bilderreich, die anderen ausführlicher, die einen von einem höheren Grad der Betroffenheitsrhetorik geprägt, die anderen Hoffnungen oder Ängste artikulierend, aber alle Texte teilen das selbe Schicksal: sie wurden geschrieben, publiziert, diskutiert und wurden solange dem Vergessen überlassen, bis die Erinnerungsroutine sich daran erinnert, dass die Verhältnisse in der sogenannten Dritten Welt, namentlich Afrika als einem mehrfach vergewaltigten Kontinent, nicht einfach vergessen werden dürfen.
Ein Text mit dieser Prosa konnte bereits in den 80er Jahren geschrieben werden. Wer sich nicht mit einem Déjà-vu zufrieden geben will, wird gewiss unerschrocken bemerken, dass bis zum nächsten Durchlauf dieser Schleife alles so bleiben wird wie es ist. Das könnte daran liegen, dass wir es mit einer geordneten und hoch immunisierten Struktur zu tun haben, die hauptsächlich nur sich selber erhält, indem sie beinahe alles einer illusionslosen Prüfung unterziehen lässt, aber nicht das, was ihren Erhalt beschädigen könnte, nämlich: ein unbedingter Wille, die Plausibilitätsannahmen dieser Betroffenheitsschleife außer Acht zu lassen:
„Europa hat die Rechnungen für seine durch Jahrhunderte unternommenen Raubzüge quer durch alle Kontinente dieser Erde nie bezahlt, ja hat die von sogenannten Entdeckern und kolonialen Armeen angerichteten Verwüstungen stets so lange geleugnet, bis der Gestank aus den Massengräbern nicht mehr zu ertragen war.“ – Dieser Meinung kann man sich unschwer anschließen. Und da dies dem Autor nicht entgehen wird, probiert er, um der einschläfernden Selbstbestätigung zu entkommen, zur Aufrechterhaltung der Betroffenheitsschleife einen einfachen Trick, nämlich: die rhetorische Frage: „Denn wer von uns wollte tatsächlich und leichten Herzens wenigstens auf einen Teil des Luxus verzichten, der uns in unterschiedlicher Üppigkeit selbst- verständlich wurde – etwa auf Zweit-, Dritt- und Viertautos, auf Zweit-, Dritt- und Viertwohnungen und entsprechende Häuser? Auf mindestens Drei- bis Fünfsternhotels und billige Langstreckenflüge, auf Ströme von kostbarem, klarem Trinkwasser selbst in unseren Toiletten! Und stimmen wir denn nicht an jeder Zapfsäule auch über Ölkriege ab, die zum Nutzen unserer Sonntagsausflüge und Ferienfahrten ans Meer auf den Schlachtfeldern des Nahen Ostens und wo immer sich der Treibstoff für unsere Mobilität findet, geführt werden?“
Und wer sich nun dazu verführt findet, auf dies Frage mit „Niemand“ zu antworten, gibt nur eine rhetorische Antwort, also eine Bestätigung für etwas, das sich auf diese (oder ähnliche Weise) immer schon bestätigt hat. So vollzieht sich also die Vollnarkose dieser Operation. Man könnte auch sagen: Die Struktur ermöglicht, dass der Zeigefinger des Weltverstehers sich an diejenigen wendet, die die Welt auch nur mit dem Zeigefinger betrachten und die ihn am Ende auch nur wieder erheben können. Es handelt sich um die Routine der Zeigefinger-Erektion, die wunderbar geeignet ist, die Plausibilitätsannahmen dieser Routine gar nicht erst für die Kommunikation zuzulassen.
Was wäre nämlich, wenn der überbordende Konsum der westlichen Welt, an dessen Übertriebenheit und Unverschämtheit gewiss kein Zweifel möglich ist, gar nicht die Ursache wäre, weder für die Verhältnisse in der Dritten Welt, noch für die ökologische Krise? Was wäre, wenn diese Betroffenheitsschleife und ihr rhetorischer, also unwirksamer Appell, nicht nur nicht geeignet ist, an diesen Verhältnissen etwas zu ändern, sondern auch bestens dazu geeignet ist, eine Änderung der Betrachtungsweise zuverhindern?
Was wäre, sollte einsichtig sein, dass Verzicht geleistet werden müsse, dass innerhalb dieser gesellschaftlichen Überproduktion von Bedürfnissen auch noch das Bedürfnis auf Verzicht als weiteres Bedürfnis erst noch erzeugt werden müsse? Zuerst käme dann die Frage in den Sinn, wie die gesellschaftliche Produktion von Bedürfnissen eigentlich funktioniert – eine Frage, wie gewiss nicht nur einmal und auf eine Weise beantworten werden sollte, deren Antwort sich aber nicht darin erschöpft, Betroffenheit um Appell zu verbreiten. Denn auch das Bedürfnis, sich frommen Wünschen zu überlassen, ist eines jener überflüssigen Bedürfnisse, wie sie Wohlstandsgesellschaft zur Genüge hergestellt hat. Und ein solches Bedürfnis entsteht da, wo der Aufwand nicht geleistet werden kann, in eine Änderung dieser Routine zu investieren, weil niemand so einfach weiß wie es geht.
Diese Betroffenheitsschleife kennzeichnet also nur eine durch Illusionen gestützte Weigerung, ein Nichtwissen um die Möglichkeit zur Veränderung zuzugeben.
Orietta Dora Cordovana, Gian Franco Chiai (ed.): Pollution and the Environment in Ancient Life and Thought. Geographica historica, 36. Stuttgart: Franz Steiner Verlag, 2017.
„Archäologische Feldforschung: antike Städte Böotiens“ von Anthony M. Snodgrass und John L. Bintliff, Spektrum der Wissenschaft, Mai 1991, Seite 82, sowie „Eine antike Siedlungskammer – Feldforschung in Lykien“ von Frank Kolb, Spektrum der Wissenschaft, Mai 1993, Seite 82
Paolo Fedeli, La natura violata. Ecologia e mondo romano, Palermo 1990; J. Donald Hughes, Ecology in Ancient Civilizations, Albuquerque 1975; Oddone Longo, Ecologia antica. Il rapporto uomo/ambiente in Grecia, in: Aufidus 6 (1988), S. 3–30; Russell Meiggs, Trees and Timber in the Ancient Mediterranean World, Oxford 1982; Karl-Wilhelm Weeber, Smog über Attika. Umweltverhalten im Altertum, Zürich, München 1990; Holger Sonnabend, Zwischen Fortschritt und Zerstörung. Mensch und Umwelt in der Antike, in: Astrid Schürmann (Hg.), Physik/Mechanik (Geschichte der Mathematik und der Naturwissenschaften in der Antike, 3), Stuttgart 2005, S. 118–128; Lukas Thommen, Umweltgeschichte der Antike, München 2009; Lukas Thommen, Nach-haltigkeit in der Antike? Begriffsgeschichtliche Überlegungen zum Umweltverhalten der Griechen und Römer, in: Bernd Herrmann (Hg.), Beiträge zum Göttinger Umwelthistorischen Kolloquium 2010–2011, Göttingen 2011, S. 9–24.
Umweltgeschichte der Antike von Lukas Thommen
Umweltzerstörung im griechischen Altertum
Entgegen einer weitverbreiteten Annahme lebten die Menschen auch früher nicht in harmonischem Einklang mit der Natur. Wie archäologische und geologische Forschungen auf dem Peloponnes zeigen, schädigten sie immer wieder ihre Umwelt durch Entwaldung und Bodenerosion.
Curtis N. Runnels
https://www.spektrum.de/magazin/umweltzerstoerung-im-griechischen-altertum/822275
Wo selbst die Götter machtlos waren
Umweltverschmutzung ist schon im Altertum ein Problem gewesen – an mangelndem Bewusstsein lag es auch damals nicht
https://www.fu-berlin.de/presse/publikationen/tsp/2015/tsp-februar-2015/schwerpunkt-klimaschutz/umwelt-altertum/index.htm
Hat dies auf Social Studies of Science rebloggt.