Das Trivialgenie und sein #Jodeldiplom
von Kusanowsky
Ich möchte mir einmal das Recht herausnehmen, auf folgende Weise über mich selbst zu schreiben: Ich bin nämlich ein Genie. Daran besteht überhaupt kein Zweifel. Außerdem bin ich sehr kompetent. Das kann ich zeigen, wenn ich meinen Lebenslauf in Auszügen kurz vorstelle.
- Mit ungefähr sieben oder acht Jahren konnte ich lesen, schreiben und die Grundrechenarten. Ich war sehr gut im Kofprechnen und konnte Bilder beschreiben. Ich konnte schwimmen und Fahrrad fahren.
- Mit zwölf oder dreizehn Jahren war ich Dauerbesucher in der Stadtbücherei meines Wohnorts. Gelesen hatte ich alle Arten von Kinderliteratur und, nachdem diese mir nicht mehr zugesagt hatte, habe ich alle Bücher von Karl May gelesen. Manche sogar zweimal. Mit ungefähr vierzehn Jahren hatte ich mehr Bücher gelesen als ein antiker Gelehrter kennen konnte.
- Mit sechzehn Jahren kannte ich die Weltgeschichte in groben Zügen, ich beherrschte Arithmetik, Geometrie, Trigonometrie und die Anfangsgründe der Differenzialrechnung. Ich konnte Englisch gut und Französisch eingermaßen gut sprechen. Ich hatte, wenn auch keinen guten Unterricht in den Grundlagen der Mechanik, Optik und Elektrik erhalten und wusste wie ein Viert-Takt-Motor funktioniert. Ich kannte alle Länder der Welt, ich wusste, dass es den Holocaust gegeben hatte, dass es Atombomben gab und dass Hungerarmut in der Dritten Welt herrschte. Ich wusste, dass es keinen Gott gibt, war mir aber nicht sicher und kannte und nutze alle Empfängnisverhütungsmethoden.
- Mit neunzehn Jahren konnte ich Autofahren, technische Geräte und Maschinen aller Art bedienen und Gedichte interpretieren. Ich wusste, was verantwortliches Handeln besagt, ich hatte keine Angst vor Menschen, ich konnte die deutsche Staatsverfasung erklären und ich konnte 10.000 Meter laufen. Das war erst der Anfang. Dann habe ich mit einem Studium der Wissenschaft angefangen.
- Ich fasse zusammen: ich verstehe sehr grob die Relativitätstheorie/Quantentheorie, ich weiß, wie industrielle Produktionsprozesse ablaufen, ich verstehe die Bilder von Salvador Dali und kann die Entwicklung der modernen Kunst erklären, ich weiß wie eine Betriebswirtschaft funktioniert, ich kenne alle Filme von Alfred Hitchcock, kann soziologische Probleme beurteilen und schlafe bei der Tagesschau nicht ein. Ich verstehe die antike Kultur, kann die Transzendentalphilosophie von Immanuel Kant erklären und die Theologie von Martin Luther usw.
Aus alldem dürfte deutlich genug hervor gehen, dass ich ein besonderes Genie bin, zumal ich nicht alles aufgezählt habe. Das Besondere daran ist nun, dass das alles nichts Besonderes ist. Das leuchtet ein. Denn es ist klar: Das Besondere daran ist, dass so etwas für alle anderen Menschen in Europa und den Ländern der sog. Ersten und Zweiten Welt auch gilt. Genies überall. Millonen! Viele Millionen. Dass es es sich dabei tatsächlich um Genies handelt, wird dadurch erklärbar, dass die gesellschaftlichen Strukturen und ihre funktionale Garantie, die solches Bewirken, komplex ausdifferenzierte Lösungen sind, die ehedem entstanden waren, um aus Menschen, die Angst vor Gott und wenig Vertrauen in ihr Menchenvermögen hatten, erkenntnis-, wissens- und handlungsfähige Subjekte, also Genies zu machen. Wenn das auch schwer gewesen ist und nicht ohne Hindernisse abgelaufen war, so ist dies dennoch gelungen, mit dem Ergebnis, dass nun für alle, die solchermaßen von dieser gesellschaftlichen Struktur profitiert haben, eine Selbstbeschreibung der Trivialität dieser Genialität gilt.
Moderne Subjektivität ist triviale Genialität. Du bist sehr sehr klug, sehr belesen, sehr kreativ, sehr kompetent. Aber alle anderen sind es auch. Das heißt: du hast nur ein Jodeldiplom, was erstens auch für diejenigen gilt, die das nicht wahrhaben wollen und zweitens auch für diejenigen, die das zwar zugestehen, aber trotzdem behaupten dürfen, exponierte Fachkenner und ausgezeichnete Experten zu sein. Denn beides wird durch diese Struktur ebenfalls produziert und legitimiert.
Das muss man sich mal vorstellen. Welch‘ ein irrer Aufwand betrieben werden musste, um viele Millionen Genies zu produzieren, die dann, wenn das tatsächlich gelingt, alle nur ein Jodelpiplom haben.
Das Skandalöse daran ist: Und keiner von uns kann jodeln.
Das ist doch mal ’ne gute Nachricht. 🙂
Ich meine…
Die Natur betreibt zur Fortsetzung des Lebens immer eine ganze Menge Aufwand. Und darum geht es ja letztlich. (Wenn es im Leben überhaupt um irgendetwas geht, dann am ehesten vielleicht um die _Fortsetzung des Lebens_.)
Es gibt aber offenbar bereits sowieso schon genug zu tun, zu klären, zu verstehen, zu lernen, herauszufinden und zu erfinden, dass das, was wir „Genie“ nennen, vielleicht wirklich „trivial“ werden muss, damit wir eine faire Chance haben, die gesellschaftlichen Herausforderungen und Aufgaben zu bewältigen, die aktuell absehbar vor uns liegen.
(Und die Aufgaben werden nicht weniger…)
Mir fällt auch kein triftiger Grund ein, warum es „jodelnden Trivialgenies“ nicht gelingen kann über das Niveau von „Jodeldiplomen“ hinaus zu wachsen.
(Ich weiß nicht mal genau, was ein „Jodeldiplom“ sein soll, aber ich glaube da geht es um Eitelkeiten, um die verzweifelte Suche nach Identität, um die Anmaßung von Autorität und um eine fragwürdige prätentiöse Form der Selbstinszenierung oder „Selbstbeeindruckung“.)
Absurde schauspielerische Posen und Maskeraden werden vielleicht überflüssig, wenn wir lernen unser Handeln und Entscheiden an einem vermittelbaren „Sinn“ zu orientieren, statt an eingefahrenen, unflexiblen Machtstrukturen und manipulativen Mustern der ökonomischen Rechtfertigung von Ansprüchen.
In offener Kommunikation und Vernetzung könnten wir schließlich lernen, frei und souverän nach bestem Wissen und Gewissen zu entscheiden, an welchen konkreten Problemstellungen wir die Fähigkeiten, Potentiale und Talente sinnvoll anbringen können, die uns jeweils gegeben sind.
Ich denke es gibt sowieso nichts zu bedauern, wenn das, wir „Genie“ nennen irgendwann nicht mehr als Alleinstellungsmerkmal funktioniert.
„Genie“ hin oder her… (Eitelkeiten!)
Letztlich geht es wohl immer darum, dass wir Wege und Möglichkeiten erschließen, wie wir unsere Produktivkraft und unsere Potentiale in der gesellschaftlichen Interaktion möglichst sinnvoll fokussieren, kanalisieren, entfalten und anwenden, sodass die Probleme lösbar werden, die uns in Anbetracht ethischer Erwägungen relevant erscheinen und dass möglichst eben auch alles wünschenswerte in Erfüllung gehen kann, ohne dass wir uns gesellschaftlich aufreiben und seelisch entfremden.