Das #Jodeldiplom der Wissenschaft
von Kusanowsky
Ich möchte vermuten, dass der Finanzdruck, der in den Universitäten auf die Wissenschaft ausgeübt wird, eine notwendige Rosskur ist, die gebraucht wird, um die Wissenschaften von ihren selbst gemachten Zwängen zu befreien. Selbstgemacht sind ihre Zwänge, da es nicht an Mitteln der aufgeklärten Verstandesfähigkeit und des Mutes fehlt, sich ihrer zu bedienen. Es fehlt auch nicht an Intelligenz und Geduld; es gibt keinen Mangel an kritischer Humankompetenz und keine Defizite eines allgemeinen Vertrauens in Menschenvermögen (erkennen, wissen, handeln). Es gibt auch keinen Mangel an Moral, Fleiß, Engagement, Integrität, Kreativität und was immer sonst noch für alle Wissensproduktion unverzichtbar ist.
Der strukturelle Mangel der Wissenschaft besteht darin, dass sie keinen Mangel mehr kennt, erkennbar daran, dass von der Wissenschaft Mangelfiktionen (P. Sloterdijk) inflationär hergestellt werden können. Es gibt in der Wissenschaft einen Überfluss an Mangelfiktionen, ein gigantisches Ausmaß an wissbarem Nichtwissen, das jeden Tag unverdrossen vergrößert wird, empirisch feststellbar an dem unüberschaubaren Output von Texten aller Art, von welchem niemand mehr treffsicher sagen kann, was das Wissenschaftliche oder Nichtwissenschaftliche an diesen Texten ist, weil nämlich diese Frage mit jeder Publikation immer schon beantwortet ist. Wissenschaftlichkeit ist für die Wissenschaft, ähnlich wie Kunst für die Kunst oder Geld für die Banken, inkommunikabel geworden, weil alles Entscheidende in dieser Hinsicht immer schon entschieden ist. Kunst ist alles, was ein Künstler macht, Geld ist alles, was eine Bank macht, Wissenschaft ist alles, was ein Wissenschaftler macht. Wissenschaftlichkeit hat sich in Entropie aufgelöst. (Und nebenbei: Auch Reputation ist keineswegs zum Hauptcode der Wissenschaft geworden.)
Das Problem, für das die moderne Wissenschaft Lösungen produziert hat, ist infolge der Ausdifferenzierung von Lösungen verschwunden und übrig gelieben sind die Strukturen des routinierten Umgangs mit diesen Lösungen. Diese Lösungen sind die Menge aller Verfahren, Methoden, Institutionen, Regelwerke, Vorschriften, Standardisierungen, Verhaltensweisen, Gebräuche, geschriebene und nicht geschriebene Ordnungen, kurz: Dispositive (M. Foucault), welche nur noch ein Hindernis kennen, nämlich eines, das mit keiner bekannten Wissenschaft, mit keiner erprobten Methode, mit keiner finanzierbaren Forschung aus dem Weg geräumt werden kann, nämlich die Frage nach der Bedingung der Möglichkeit von Wissenschaft.
Was ist passiert? Es ist passiert, dass die Wissenschaft auf dem erfolgreichen Weg ihrer Ausdifferenzierung die Erfahrungsbedingungen geändert hat durch die sie fortsetzbar ist oder eben auch nicht. Sie hat sich der Katastrophe ihrer eigenen Entropie ausgesetzt und kann jetzt nur noch eines tun, nämlich Kontrollzwänge der Organisation verwalten und zwar mit ihren eigenen, selbst produzierten Lösungen, welche ich, wenn auch polemisch, aber nicht unzutreffenderweise als Jodeldiplome (Loriot) bezeichne. Denn, bei aller Kompetenz, die man freilich jedem Wissenschaftler ganz pauschal zuschreiben kann, kann ein jeder eigentlich nur das, was jeder andere auch kann: den Betrieb fortsetzen ohne dabei an die Bedingung der Möglichkeit von Wissenschaft überhaupt denken zu müssen, weil diese Frage nämlich abgeschafft wurde. Dies ist ablesbar an der Selbstbeschreibung, die sich als „Freiheit der Wissenschaft“ ausgibt und welche das legitime Recht darstellt, dieser Frage aus dem Wege zu gehen, sie nicht beantworten zu müssen und zwar deshalb, weil man sie als immer schon beantwortet auffassen darf.
Und da eine Belehrung darüber, dass sich darin ein Irrtum verbirgt, nicht kommunikabel ist, bleibt nur die finanzielle Deprimierung als letztes und vorerst einziges Mittel, um auf diesen Irrtum aufmerksam zu machen. Ob es sich bei um das beste Mittel handelt, mag man gern bezweifeln, aber um solche Zweifel zu formulieren reicht die Kompetenz des Jodeldiploms jederzeit aus.
„Die unbedingte Universität hat ihren Ort nicht zwangsläufig, nicht ausschließlich innerhalb der Mauern dessen, was man heute Universität nennt. Sie wird nicht notwendig, nicht ausschließlich, nicht exemplarisch durch die Gestalt des Professors vertreten. Sie findet statt, sie sucht ihre Stätte, wo immer diese Unbedingtheit sich ankündigen mag.“
(Jacques Derrida)
Die „unbedingte Universität“ ist nur die Gesellschaft selbst, sofern nicht nur Wissenschaften Wissen produzieren, sondern alle anderen Systeme auch. Wenn auch nicht alle wissenschaftliches Wissen produzieren, so sind doch alle sozialen Systeme immer auch wissenproduzierende Systeme, die sich gegenseitig ihre Produkte bedingunglos zur Verfügung stellen, was daher kommt, dass Wissen nirgendwo ist, dass niemand Wissen haben, besitzen oder ab- und weitergeben kann. Das gilt für wissenschaftliches Wissen genauso, aber anders als Universitätsprofessoren können alle anderen sich nicht auf eine Staatsgewalt verlassen, die Einkommen aller Bürger zwangsenteignet, um mit einem Teil davon eine kleine Minderheit von Wissenschaftsbeamten für den Rest des Lebens vollständig zu versorgen. Und weil das so ist, kann der Staat Geld nicht beliebig ausgeben, sondern muss Bedingungen stellen.
Die moderne Wissenschaft ist mit dem autoritären Feudalstaat entstanden und hat diese feudale Struktur beibehalten. Solange Autorität als Entscheidungsinstanz für die Bewertung von Wissen in Frage kam, hatte die Wissenschaft ihre Leistungsfähigkeit trefflich unter Beweis stellen können, mit allen Widersinnigkeiten, die damit verbunden waren. Seitdem aber der autoritäre Staat verschwunden ist und die Wissenschaftler selbst, aus durchaus vernünftigen Gründen, keine Autorität mehr beanspruchen, hat die Wissenschaft nur noch das Erbe ihrer in Eigenleistung erarbeiteten Produkte zu verwalten. Eine gut funktionierende Verwaltungsmethode ist: das Zitat.
Konnten Theologen der alten Zeit ihren selbstgemachten Zwängen durch beten, beichten und büßen aus dem Wege gehen, weil sie kein Vertrauen in ihre kritischen Fähigkeiten haben konnten, so können moderne Wissenschaftler einen sehr viel bequemeren Weg gehen. Sie bedienen sich der Kritik, sind im Zweifelsfall einfach anderer Meinung, lassen zu, dass alle anderen auch anderer Meinung sein können und wenn der Staat nicht alles finanziert, dann werden Protestbriefe geschrieben; und das Geschäft wird unverdrossen fortgesetzt.
Schön, daß du ab und an Blogeinträge schreibst, die nachvollziehbar zuammenfassen und erhellen, was du denkst und sagen willst. Mein ich ganz unironisch und unlästerlich.
Schon klar, die Beteuerung und Bekräftigung läßt natürlich nicht den geringsten Spielraum für einen Verdacht. Das meine ich ganz aufrichtig und ohne irgendwelche Hintergedanken.
Hm, „Informationsentropie“ scheint mir nicht ganz die richtige Diagnose zu sein – klingt mir zu sehr nach „Baudrillard“ in diesem Kontext.
Wäre eine „Informationsexplosion“, die freilich in wohl „allen“ Funktionssystemen beobachtet werden kann, nicht ein treffenderer Ausdruck?
Und woran liegt das? M.E. nicht am Operieren der Sozialsysteme selbst, sondern an einer technischen Infrastruktur in Gestalt von vernetzten programmierbaren Maschinen. Hier kann dann die Luhmann-Baecker-These der „Informationskatastrophe“ in Anschlag gebracht werden, wobei diese Katastrophe entsprechende soziale Folgewirkungen zeitigt (hier: der strukturelle Übergang von der modern zur „next“ society).
Wenn dabei einfach die kommunikative „Autopoiesis“ (wenn man diesen Begriff verwenden möchte) allzu deutlich hervortritt, dann heißt das aber nicht automatisch, daß alles indifferent (à la Baudrillard) ist, sondern eher: Welche Eigenwerte mendeln sich heraus, an die dann (aus welchen Gründen?), z.B. in der Wissenschaftskommunikation, angeschlossen wird?
Kurzum meine These wäre: Die Gründe der aktuellen (z.B. wissenschaftlichen) „Informationskatastrophe“ sind wohl nicht auf das Operieren der Wissenschaft zurückzuführen, sondern auf mediale „und“ infotechnische Bedingungen, die die Sozialdimension, aber auch Psyche / Bewußtsein, etc. perturbieren. Wir erleben also eher ein Art massiven „Info-Schock“, bei dem nicht klar ist, wie sich das alles mittel- und langfristig auswirken wird.
„Und woran liegt das? M.E. nicht am Operieren der Sozialsysteme selbst, sondern …“ an etwas anderem? Wird ein System wie die Wissenschaft nicht durch sich selbst, sondern durch etwas anderes irritert, gesteuert, gelenkt, verführt, determiniert und geändert? Also duch seine Umwelt? Könntest du mir diesen systemtheoretischen Zusammenhang näher erläutern?
“ durch etwas anderes irritert, gesteuert, gelenkt, verführt, determiniert und geändert? Also duch seine Umwelt? Könntest du mir diesen systemtheoretischen Zusammenhang näher erläutern?“
M.E. fungieren Computer (in allen möglichen Vernetzungsweisen, d.h. bspw. auch in „embedded systems“) als eine technische Infrastruktur, die das Funktionieren des „Digitalmediums“ (Achim Brosziewski) ermöglicht. Und Medien wie dieses werden in der ko-konditionierten Ko-Produktion von Bewußtseinen und Kommunikation je nach Systemtyp (interaktionell, organisatorisch, etc.) in Anspruch genommen.
Das heißt, das „Digitalmedium“, so zumindest meine These, ermöglicht erst die „Informationsexplosionen“, die in den jeweiligen Sozialsystemen stattfinden. Diese „Informationsschocks“ lösen wiederum entsprechende soziale / kulturelle Umbauprozesse aus, über deren Tragweite wir derzeit nur spekulieren können (siehe bspw. Dirk Baeckers next-society-Texte)..
Wie gesagt: Das ist „keine“ Eigenheit der Wissenschaft, sondern diese technisch-medial induzierten Informationskatastrophen suchen derzeit „alle“ Funktionssysteme heim, weil das Digitalmedium sich global (als „Leitmedium“) etabliert hat (Vorläufer für solche „Infoschocks“: Etablierung der Oralität, der Schrift und des Schriftmediums als Leitmedien).
Beispiel 1: Die digitalinduzierte Ausweitung der Handelsströme in den letzten Dekaden
http://www.anchor.ch/gesellschaft/das-komplexitaetspotential-des-internets/
Beispiel 2: Hier zitiere ich mal einen meiner technischen Texte von 2015 (zur konkurrent-parallelen Programmierung):
„Dem anhaltenden Trend zu immer größeren Datenmengen (Stichwort: Big Data): Nach Hilbert / López (2011) hat sich die technische Fähigkeit, Infor-mationen zu speichern, pro Kopf (bezogen auf die Weltbevölkerung) in den letzten 35 Jahren ca. alle 40 Monate verdoppelt. Die globale Datenmenge, die heute tagtäglich erzeugt wird, bewegt sich dabei im Bereich der Exabytes (Mil-lionen von Terabytes). Es verwundert daher nicht, daß seit einiger Zeit ein regelrechter Hype um die organisatorische Nutzung von Big Data (http://en.wikipedia.org/wiki/Big_data) ausgebrochen ist. “
Quelle: Hilbert, M. / López, P. (2011), The World’s Technological Capacity to Store, Communi¬ca¬te, and Compute Information, in: Science (April 2011), Bd. 332, Nr. 6025, S. 60 – 65.
URL: http://www.sciencemag.org/content/332/6025/60.full.pdf?keytype=ref&siteid=sci&ijkey=89mdkEW.yhHlM
Die Frage ist nun: Wie reagiert die moderne Gesellschaft und ihre Systeme auf diese Informationsschocks?
Mit Blick auf KIs und eine Computerisierung bzw. Robotisierung „aller“ Lebensbereiche gehe ich davon aus, daß „neue Player“ in der Kommunikationsdynamik auftauchen werden. Nämlich: Maschinelle Intelligenzen, die u.U. nicht mehr als solche erkennbar sind.
Und das heißt auch, daß versucht wird, die technisch-mediale induzierte (Informations-)Komplexität wiederum technisch-medial für Kommunikations- und Bewußtseinssysteme kleinzuarbeiten..
Ob und wie das in eine „technologische Singularität“ (https://de.wikipedia.org/wiki/Technologische_Singularit%C3%A4t) einmünden wird, bleibt gleichfalls abzuwarten. Aber es könnte sein,
daß das Multisystem „Mensch“ ein evolutionäres Auslaufmodell darstellt. Gleichwohl könnte es wieder auferstehen, z.B. als maschinell-biologisches Mischsystem.
„On verra“, wie ein berühmter Louis dazu sagen würde 🙂
Ist diese Argumentation für Dich nachvollziehbar?
„Ist diese Argumentation für Dich nachvollziehbar?“
Ja, aber sie ist nicht sehr überzeugend. Der erste Grund ist, dass eine „Informationsexplosion“ nicht erst durch die Nutzung vernetzter Computer statt findet. Noch bevor es dazu bekommen ist, konnte schon im 18. spätestens im 19. Jahrhundert eine Wissensexplosion beobachtet werden, erkennbar daran, dass alle Versuche eingestellt wurden, eine Universalenzyklopädie zu publizieren. Und auch diese Explosion wurde zu der Zeit nicht zum ersten Mal festgestellt, sie ist gewöhnlicher Bestandteil des Prozesses funktionaler Differenzierung, der für die Wissenschaft genauso gilt, aber dort systemspezfisch behandelt wurde. Der zweite Grund ist, dass alle Produkte der Hard- und Software wissenschaftliche Produkte der Forschung sind, weshalb auch die erste Nutzung vernetzer Computer an den Universitäten weltweit betrieben wurde. Nur die Wissenschaft hat durch ihren Erfolg eine immer weitere Differenzierung ihrer Wissensform betrieben und innerhalb dieses Betriebs auch noch eine Differenzierung dieser Differenzierungsprodukte.
Dass dies, also die Katastrophe der Entropie, nicht eigentlich durch die Wissenschaft selbst zustande gekommen ist, kann nur argumentieren, wer Wissenschaft für eine abgeschlossene und fertige Schöpfung hält und alles andere für etwas Dazwischenkommendes, also eine objektive Realität, die einer fertigen und fähigen Wissenschaft nur im Wege steht.
Das System, nicht die Umwelt, erzeugt sich selbst und erhält sich selbst und kann sich nur durch sich selbst als inkompetent, als ungeeignet erweisen. Gerade dies meint Dirk Baecker, wenn er von „Katastrophe“ spricht. Er meint damit die Katastrophe der (Wissens-)Form, die die Frage aufwirft, ob Kontinuität oder Diskontinität, ob Eignung oder Nichteignung, ob Veränderung oder Selbstanpassung geschehen wird. Eine objektive Realität, die nur als etwas Störendes, als etwas Schändigendes einer ansonsten natürlichen Realität der gesellschaftlichen Form Wissenschaft entgegen steht, ist nicht zu erkennen.
Hallo, Klaus!
Zu Deinen Kritikpunkten:
(1) Kritikpunkt 1: „Computerbasierte Infoexplosion“
„Der erste Grund ist, dass eine „Informationsexplosion“ nicht erst durch die Nutzung vernetzter Computer statt findet.“
Das ist korrekt. Aber hier liegt wohl ein Mißverständnis vor. Die Luhmann-Baecker-These, an die ich angeschlossen habe (siehe Baecker 2006, „Niklas Luhmann in the Society of the Computer“, URL: http://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=1867410) paraphrasiere ich wie folgt:
Sobald sich ein neues „Leitmedium“ etabliert hat (die Betonung liegt dabei auf „etabliert“, d.h. auf einer relativ „allgemeinen“ Mediennutzung), zeitigt das nicht nur Folgen für das bisherigen Mediengefüge, sondern auch für die Gesellschaft und ihre Systeme (aber das kann noch weiter „generalisiert“ werden, siehe nachfolgende Argumente / Thesen).
Beispiele:
* Die Einführung der Oralität geht mit der Menschwerdung von Hominidenhorden (Bewußtseinsbildung mit allen möglichen Folgen) einher und führt sozial zur Etablierung einfacher Gesellschaften.
Hierbei tritt die erste „große“ soziale Informationsexplosion im Vergleich zu nonverbalen Koordinations- und Kommunikationsmodi auf.
Wenn man hier (mit Baecker) auf die Emergenz von Kulturformen abstellt, dann würde ich bspw. sagen: „Narrationen“ (zur Strukturierung der Erfahrungsdimensionen).
* Die Einführung der Schrift in der griechischen Antike, in der sie relativ allgemein zum Einsatz kam, ohne freilich zum Leitmedium zu werden (sie diente eher zur „Optimierung“ der Oralität, bspw. in der rhetorischen Persuasion).
Ob hierbei das Schriftmedium zu einer Explosion skripturaler Medienformen und damit sozial zu einer Infoexplosion führte, müßte genauer untersucht werden. Für Dirk Baecker scheint Schrift hier jedoch zum Leitmedium zu avancieren. Ich würde dem widersprechen, weil das Schriftmedium es nicht schaffte, das Monopol der interaktionell-oralen Nah-Kommunikation zu brechen.
In anderen antiken Kulturen waren die Folgen sogar noch begrenzter, weil Schrift oft nur von den Eliten (gerade in der Verwaltung) eingesetzt wurde. Von einem Leitmedium „Schrift“ kann in diesen Fällen dann gar keine Rede sein.
* Die Einführung des Printmediums als Folge einer Technisierung der Schrift, die an die rationale Arbeitsteilung der mittelalterlichen Kopistenstuben anschloß.
Hier kam es zu einer massiven Dokumenten- und dann sozialen Info-Explosion, die bereits im 17. Jahrhundert (siehe Michael Giesecke, „Der Buchdruck in der frühen Neuzeit“) offensichtlich waren.
Die Etablierung des Printmediums trug dabei nicht nur zur funktionalen Ausdifferenzierung der Gesellschaft bei, die die Stratifikation als Primärdifferenzierungsprinzip ersetzte. Sie führte letztlich auch zur Unterminierung des oralen Interaktionsmonopols, das bis dato menschliche Gesellschaftsformationen dominiert hatte.
In short: Es dominieren von nun an „Tele-Leitmedien“ (Print, Film, Radio, TV, Video und heutzutage Digitalität) in den sozialen Kommunikationsweisen. Interaktionelle Nah-Kommunikationen sind damit nur noch ein Kommunikations- und Koordinationsmodus entre autres.
* Hier gehört meiner Meinung nach auch die Etablierung der AV-Medien (Radio, Film und seit 1945 primär TV) als Leitmedien herein, was Baecker f außen vor läßt.
* Die Etablierung der Digitalität als Leitmedium seit Ende des 20. / Anfang des 21. Jahrhunderts, das wohl alle anderen Vorgängermedien zu absorbieren versteht (ohne sie komplett zu substituieren) ausgehend von einer zunehmenden Computerisierung und Vernetzung aller Lebensbereiche.
Die Explosion digitaler Medienformen führt in der Sozialdimension rein quantitativ zu einer in der Menschheitsgeschichte noch nie dagewesenen Informationsexplosion..Hierbei wird die moderne, funktional ausdifferenzierte in eine spekulative „next society“ (charakterisiert bspw. durch situationsweise Netzwerkeffekte) überführt.
Meine Thesen dazu:
(1a) Differenzierung von Technik und Medium
Technik ist „nicht“ identisch mit (Leit-)Medium. Aber allen Medien liegt wohl ein technisches Funktionieren bzw. eine entsprechende „Technisierbarkeit“ zugrunde (aber das schließt eher an Derrida an).
(1b) Telemedialität
Nonverbalitätsmedien sind „Tele-Medien“ (das fängt bei Oralität an – für ihr Funktionieren, siehe Derridas erweiterten Begriff der écriture – und hört bei Digitalität auf)
(1c) Irritation / Perturbation statt Determinismus
(Leit-)Medien „determinieren“ das Soziale nicht (genauso wenig wie „Leittechniken“, was einer hardwaredeterministischen Sicht à la Kittler entgegenläuft).
(Leit-)Medien fungieren vielmehr als „Irritationspotentiale“ bzw. „Perturbationsmechanismen“ für die Systemreferenzen Körperlichkeit, Psyche / Bewußtsein und Soziales.
(1d) Medienformenexplosion ist nicht gleich Informationsexplosion
Strictu sensu kommt es zu einer „Medienformenexplosion“, die in der Sozialdimension als „Informationsexplosion“ (Quasi-Infoentropien) thematisiert wird.
(1e) Soziale Quasi-Infoentropien zeitigen (massive) soziale Folgen
Bei den quasi-entropischen Infokatastrophen reichen etablierte soziale, mediale, etc. Bewältigungsmechanismen nicht mehr aus, so daß es zu vielfältigen Anpassungsprozessen (sozial, technisch, medial, etc.) kommt.
(1f) Die Baecker-Parallelisierung von Gesellschaftsformation / Leitmedium / Kulturformen ist heuristisch interessant, aber technik-, medien- und sozialhistorisch wohl zu einfach (siehe oben: die Fälle Schrift und AV-Medien).
In einem generellen Forschungsprogramm sollten eher die Folgen für alle drei Systemreferenzen (Körper, Psyche / Bewußtsein und Soziales) sowie für Medien und Technik thematisiert werden. Die Folgen sind dabei „multipel und heterogen“. Das heißt: Die Veränderung der gesellschaftlichen Primärdifferenzierungsweise ist nur eine der gravierendsten Folgen. Aber, so meine These: Das ist „nicht automatisch“ bei der Etablierung jedes neuen Leitmediums der Fall, auch wenn D. Baecker eher das Gegenteil anzunehmen scheint.
(1g) Die Besonderheit des Digitalitätsmediums gegenüber allen bisherigen Leitmedien ist wohl die Einführung „neuer Kommunikationsadressen“ (KIs, Roboter) – mit derzeit unkalkulierbaren Folgen (technologische Singularität, etc.).
(2) Kritikpunkt 2: „Der zweite Grund ist, dass alle Produkte der Hard- und Software wissenschaftliche Produkte der Forschung sind“
Ja, letztlich ist das alles auf Forschung (universitär, industriell, etc.) zurückzuführen. Aber das Funktionieren von Technik ist „keine“ soziale Angelegenheit, sondern eine „technische“ (da gehe ich mit Rolf Todesco konform).
Oder anders ausgedrückt: Technikkommunikation ist sozial. Aber das technische Funktionieren ist es nicht (technisches Anwenden ist freilich sozial / kommunikativ eingebettet).
(3) Kritikpunkt 3: „Dass dies, also die Katastrophe der Entropie, nicht eigentlich durch die Wissenschaft selbst zustande gekommen ist, kann nur argumentieren, wer Wissenschaft für eine abgeschlossene und fertige Schöpfung hält und alles andere für etwas Dazwischenkommendes, also eine objektive Realität, die einer fertigen und fähigen Wissenschaft nur im Wege steht.“
Das macht mit Blick auf meine Argumentation in (1) keinen Sinn, denn es traten Informationsexplosionen medieninduziert (aber nicht -determiniert) auf, bevor es zur Ausdifferenzierung eines Wahrheitsmediums kam, an dem sich wissenschaftliche Kommunikationen (primär seit der Neuzeit) dann orientieren konnten.
Und die printinduzierten Informationsexplosionen betrafen nicht einfach nur das emergierende Wissenschaftssystem. Sie betrafen „alle“ entstehenden Funktionssysteme.
Nimm die frühmodernen Wirtschaftsorganisationen, die staatlichen Verwaltungen, die Kirchen, die Presse… hier kam es überall zu ensprechenden Info-Explosionen. Die Wissenschaft ist dabei nur ein Funktionsbereich entre autres, dem es um das dynamische Generieren neuen und riskanten Wissens geht.
(4) Kritikpunkt 4: „Das System, nicht die Umwelt, erzeugt sich selbst und erhält sich selbst und kann sich nur durch sich selbst als inkompetent, als ungeeignet erweisen.Gerade dies meint Dirk Baecker, wenn er von „Katastrophe“ spricht. Er meint damit die Katastrophe der (Wissens-)Form, die die Frage aufwirft, ob Kontinuität oder Diskontinität, ob Eignung oder Nichteignung, ob Veränderung oder Selbstanpassung geschehen wird.“
Die These bzgl. der Etablierung eines neuen Leitmediums lautet (siehe: Baecker 2006, „Niklas Luhmann in the Society of the Computer“, URL: http://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=1867410, S. 10):
„All three new developments, that of writing, that of printing, that of computers, we can best imagine as ‚catastrophes‘ in the mathematical sense, that is, as „brutal leaps“, which enable a system to survive, when it actually should have ceased existing (Thom 1980, p. 86). The system reacts to a disturbance occurring, which outstrips all its parameters by leaping up to a new level of existence.“
Die dabei von Baecker ins Spiel gebrachten „Kulturformen“ können medial und gesellschaftlich juxtapositioniert werden:
* Aristoteles – Teleologie / Schrift / stratifizierte Ges. der griechischen Antike)
* Descartes – selbstreferentielles Operieren / Printmedium / Frühmoderne / Moderne und ihre fkt. Ausdifferenzierung)
* Spencer Brown – SBFormen (PB: als Eigenwertproduktion von re-entry-Formen) / Digitalitätsmedium / next society)
Mit „wissenschaftlichem“ Wissen hat das zunächst nichts zu tun, sondern es geht hier um eine generalisierte Formenproduktion, die auf die Irritationen der jeweiligen Leitmedien (als Medienformen-Explosionen) und die damit einhergehenden sozialen Informationsexplosionen (als Quasi-Entropien) reagiert.
Das ist freilich nur „ein“ Effekt entre autres, die die allgemein die Systemreferenzen Körper, Psyche / Bewußtsein und Soziales sowie die Mediengefüge und technischen Infrastrukturen betreffen. Wie diese Effekte genau ausschauen, müßte erst noch en détail studiert werden. Die Baecker-/Luhmann-Thesen stellen demgegenüber „nur“ eine Grobheuristik dar.
Aber: Was heißt hier „nur“? Die Idee ist klasse – „grob“ hin oder her! 🙂
Grüße
Peter
PS –
Apropos „objektive Realität“:
Ist das noch „diskussionswürdig“ seit 1945? Selbst die Realisten sind ja framework-, theorie-, etc. „relativ“ unterwegs 🙂
„Sobald sich ein neues „Leitmedium“ etabliert hat (die Betonung liegt dabei auf „etabliert“, d.h. auf einer relativ „allgemeinen“ Mediennutzung), zeitigt das nicht nur Folgen für das bisherigen Mediengefüge, sondern auch für die Gesellschaft und ihre Systeme.“
Ja, und weil das so ist, kann man, wenn man ein System wie das der Wissenschaft beobachtet, nur von einem System sprechen, dass sich durch die Beobachtung der Formen dieses Mediums verändert, es also nicht unverändert bleiben kann, was auch heißt, dass es sich niemals als ein unveränderbares System reprodziert hat, sondern immer als ein solches, das durch Veänderung Anpassung und durch Anpassung Veränderung garantiert, was schließlich in die Katastrophe der Entropie mündet. Jetzt stellt sich für das Wissenschaftssystem – wie gewiss für alle anderen auch – eine schwierige Situation ein, die darüber entscheidet, wie es weiter gehen kann oder auch nicht.
Und in diesem Zusammenhang ist dann meine Frage von Bedeutung: Soll es, kann es so weiter gehen, dass an den Universitäten ganz unverdrossen Jodeldiplome verteilt und in Anspruch genommen werden? Dass ein Staat Einkommen aller Bürger zwangsenteignet um einem sehr geringen Teil der Bevölkerung ein Freifahrtticket für den Rest des Lebens zu gewähren? Die ganze Gesellschaft ist daran beteiligt, die Voraussetzungen dafür zu erarbeiten, dass wissenschaftliche Wissensproduktion stattfinden kann. Und ein kleiner Teil der Bevölkerung darf, ohne sich dafür bedanken zu müssen, ganz selbstverständlich den Staat als Gerichtsvollzieher in Anspruch nehmen, um ein lebenslanges Gehalt garantiert zu bekommen? Wenn immer mehr Menschen für die Produktion von Gütern und Dienstleistungen nicht mehr gebraucht werden, dann liegt es nahe, dass sie für die Wissensproduktion gebraucht werden, und nicht bloß eine handvoll Wissenschaftsbeamter, die ein Buch geschrieben und innerhalb eines intransparenten und intriganten bürokratischen Apparats zufällig einen Hürdenlauf zu ihren Gunsten entschieden haben.
Soll es so weiter gehen?
„[…], das durch Veänderung Anpassung und durch Anpassung Veränderung garantiert, was schließlich in die Katastrophe der Entropie mündet.“
Ich würde es bevorzugen, hier nicht von einer Art „Terminalzustand“ zu sprechen [warum erinnert mich das nur an „The Walking Dead“? Bäh, AMC! Iich will nicht, daß Daryl stirbt! :-)]. Immerhin: Es wird ja aktuell erfolgreich weiter wissenschaftlich kommuniziert.
Zudem denke ich, daß dabei immer mehr technische „Coping-Mechanismen“ von allen Funktionssystemen eingesetzt werden.
„Soll es, kann es so weiter gehen, dass an den Universitäten ganz unverdrossen Jodeldiplome verteilt und in Anspruch genommen werden?“
Ja, diese „Inflationierungstendenzen“ sind zu beobachten (die Umstellung auf zeitkomprimierende Bachelor-Studiengänge, die Vielzahl von Doktorgraden in den Geisteswissenschaften, in der Medizin, etc.).
Zugleich besagt das aber, daß gewisse „Jodeldiplome“ nur zum Jodeln am Katzentisch reichen – weil sie von externen Beobachtern (Firmen, etc.) abgewertet werden.
Im Übrigen würde ich unterscheiden, zwischen Wissenschaftskommunikation und (Aus-)Bildungskommunikation. Die Unis als Organisationen sind ja idR keine reinen Forschungseinrichtungen, sondern kümmern sich um (Selbst-)Verwaltungsaufgaben, wissenschaftliche Forschung und Bildung / Ausbildung. Die Jodeldiplom-Inflationierung betrifft dann gerade die Bildungs- und Ausbildungsseite (was ein größeres Reservoir an zu rekrutierendem Wissenschaftsnachwuchs gleichfalls beinhaltet).
„Dass ein Staat Einkommen aller Bürger zwangsenteignet um einem sehr geringen Teil der Bevölkerung ein Freifahrtticket für den Rest des Lebens zu gewähren?“
Nein, das „muß“ nicht so sein, sondern ist eher ein kontinentaleuropäisches Erbe von sog. „staatsorientierten“ Gesellschaften à la Deutschland, Frankreich, etc. Bspw. „Harvard“ scheint ja ganz anders aufgestellt zu sein – und zwar: von Beginn an.
Der „Wissenschaftsbeamte“ als Auslaufmodell? Nun ja, attrakiv halte ich solche Jobs für nicht mehr. Schon der ganze „Verwaltungskram“ ist extrem aufwendig, dann noch ständige Prüfungen… für die eigentliche Forschung bleibt mitunter kaum Zeit.
Es ist halt die Frage, warum sich viele Studies an mögliche Wissenschaftskarrieren „klammern“ – bis sie als PostDocs (überaltert, ausgebrannt, etc.) ausgesondert werden. Man sollte sich „viel früher“ Alternativen überlegen.
Zudem wären häufigere Wechsel zwischen Berufsleben und Wissenschaftsleben sinnvoll… eine Verbeamtung auf Jahrzehnte erscheint heute eher wie ein „Anachronismus“ aus feudaler Zeit.
Man könnte sich zudem noch fragen, ob ausdifferenzierte Geistes- und Sozialwissenschaften noch eine Zukunftsberechtigung haben – und nicht in eine Art allgemeines „Studium generale“ komprimiert werden sollten. Denn schon ihre (wissenschaftliche, etc.) Relevanz (siehe meinen heutigen Schlußkommentar an Dirk Baecker, https://catjects.wordpress.com/2016/05/13/organisationsberatung-4-0/#comments) wird bspw. hins. der Digitalitätsproblematik immer unwichtiger.
*** Einschub: Bitte diesbzgl. „keinen“ Aufschrei. Ich habe die Diskussion über den Status der Soft Sciences selbst über viele Jahre geführt und kenne das Pro et Con daher gut. Zudem bin ich kein Soft-Science-Hasse, denn dann müßte ich mich ja, partiell, selbst hassen 🙂 ***
Aber die entscheidende Marginalisierung der Soft Sciences erfolgt letztlich nicht einfach nur von außen, sondern auch und gerade in hochschulspezifischer Mikropolitik, in der „stärkere“ Disziplinen „schwächere“ Disziplinen an die Wand drücken – zumindest tendenziell. Und da wirkt dann mittel- und langfristig der Matthäus-Effekt…