Findet Kommunikation statt? Exkurs 1: industria und patientia @jenscmoeller @renaschwarting @friiyo
zurück / Fortsetzung: Dieser Sketch von Gerhard Polt ist komplizierter als es scheint, besonders wenn man ihn mit der Unterscheidung von industria und patientia beobachten möchte. Was ist mit dieser Unterscheidung gemeint? Ich würde diese Unterscheidung anstelle der bekannten und wenig hilfreichen Unterscheidung von online und offline verwenden. (Wirklich beknackt ist die immer noch zu findende Unterscheidung von Holzmedien und digitalen Medien oder, genauso beknackt: Kohlenstoffwelt und digitale Welt.)
Industria ist diejenige Seite einer Unterscheidungsmöglichkeit, an der, um Handeln zu können, angeschlossen werden muss, wenn es möglich ist, das Ende des Gespräch zu gebieten und trotzdem eine Gesellschaft fortzusetzen, die einen Produktivitätszuwachs erfordert. Das erfordert Kritik, Entscheidung, Moral und entsprechende Strukturen der Rationalisierung derselben, inklusive aller bekannten Idiotien und Pathologien, die sich daran knüpfen. Gemeint ist also Vergesellschaftung in Organsation (Industriegesellschaft). Industria schließt aus, dass die Kommunikation jederzeit weiter gehen kann, weil alle Beteiligten einem Zeitdruck ausgesetzt werden, der alle Entfaltungsmöglichkeiten von Geduld enorm limitiert. Die Maximen dieser sozialen Praxis lauten: Es muss etwas geschehen, oder: so kann es nicht weiter gehen, oder: dagegen müssen wir etwas machen, oder auch: so nicht! Industria behindert patientia und bringt auf diese Weise eine enorme Vielfalt von sozialen Formen hervor, die alle die selben Probleme mit Geduld haben.
Natürlich sorgt auch industria dafür, dass die Kommunikation weiter gehen kann, aber nur unter der Bedingung, dass die Faszination für Kommunikation unterbrechungsfähig ist und sich so ausgestalten muss, dass sie auch unterbrechungsfähig bleibt. Der wichtigste und am besten funktionierende Unterbrechungsmechanismus ergibt sich durch Energieaufwand und entsprechende Kapitalansammlungen, die dafür sorgen, dass erstens Kommunikation gelingt und dass zweitens genügend Entmutigungen verteilt werden, um sie zu beenden, so dass sich eine Ordnung einrichten kann, die der Verfügung über diese Kapitalien Priorität einräumt, weil nur mit Hilfe dieser Kapitalien die Kommunikation wieder ermöglicht wird. Anders ausgedrückt: Vergesellschaft durch Organisation verspricht – und sie muss die Einhaltung dieses Versprechens aufwändig kontrollieren – dass sie die Probleme lösen kann, die sie schon wieder hergestellt hat; und – und das ist wichtig – dass es keine Alternative gibt und keine geben darf, weil andernfalls niemand mehr darüber reden kann, wie Kommunikation und damit Vergesellschaftung und damit Sicherheit für Menschen, gelingen könnte.
Industria erzeugt Handlungszwänge durch Unterbrechung der Faszination für Kommunikation.
Entsprechende Unterbrechungsleistungen sind Enttäuschung, Wut, Ohnmacht, Ratlosigkeit, Verdruss, Demütigung und Angst. Dadurch gestaltet sie auf sprachlich-symbolischer Ebene semantische Prominenzen, weil damit Defizite erscheinen, die die Wiederaufnahme von Kommunikation erforderlich machen. Dafür muss sie einen sehr hohen Preis bezahlen, nämlich: sie muss den Fall ihrer eigenen Möglichkeit, der immer auch als etwas anderes beobachtbar ist, an etwas knüpfen, das sich als selbstverständlich und als nicht weiter kritisierbar ausweisen muss, nämlich: Menschenwohl. Menschenwohl ist ein attraktiver Provokationsfaktor der industria deshalb, weil die Erwartung plausibel ist, dass kaum ein lebender Mensch die Bereitschaft zeigen wird, in eigener Sache zuwiderzuhandeln.
(Nebenbemerkung: das gilt auch für die Wirtschaft, die gerade aufgrund ihrer Morallosigkeit sehr leicht die Moral eines Menschenwohls anempfehlbar macht. Und das gilt auch für den Fall, dass Menschenwohl direkt ignoriert wird, weil diese Ignoranz nur die andere Seite der selben Wahl darstellt. Damit das gelingt müssen sich Semantiken einschleifen, die parasitär auf Affekte einwirken: Beispiel: Kinderpornografie. Hier wird auf der semantischen Ebene beides kommunikativ geliefert: das Ignorieren von Menschenwohl und eine entsprechende Obzönität, die diese Ignoranz als unhaltbar erscheinen lässt.)
Industria erzwingt diejenigen Kommunikationen der Inklusion durch eine Menschenwohl-Semantik, die sie aufgrund ihrer nur möglichen Handlungen sabotiert. Sie sorgt für das Weitergehen, in dem sie das Ende befiehlt und den resultierenden Produktivitätszuwachs, die Bereitschaft zur Anstrengung, zum Fleiß, als Rechtfertigungsstratgie empirisiert. Das gilt auch für diejenigen, die der Indsutriegesellschaft mit Ablehnung begegnen, kann man doch auch an ihnen den selben Fleiß ablesen, den man braucht, um diese Ablehung dauerhaft auch bei ausbleibendem Erfolg durchzuhalten. Der Grund dafür ist: der Widerstand gegen die Gesellschaft gehorcht den gleichen Bedingungen zur Ermöglichung der Gesellschaft.
Die Gesellschaftskritiker sind ihre fleißigen Beschützer.
Fortsetzung folgt.