Findet Kommunikation statt? Über soziale und parasoziale Beobachtung 5
zurück / Fortsetzung: Kommunikation ist normal, passiert ständig und es fällt gelegentlich sogar schwer, ihr aus dem Wege zu gehen. In der Familie, in der Wohngemeinschaft oder bei der Arbeitsstelle ist das fast unmöglich. Aber auch im Straßenverkehr, egal ob man zu Fuß allein unterwegs ist oder allein im Auto fährt, ob in der Straßenbahn, ob man im Zug reist oder ob man gedenkt, den Abend allein zu verbringen: es dauert dann nicht lange und das Telefon klingelt, ein Nachbar klopft an der Tür oder man muss den Müll runter bringen und läuft der geschwätzigen Nachbarin in die Arme. Erst neulich war ich hier in der Gegend, die sehr ländlich ist, in einem abgelegenen Wiesengrund unterwegs, der auch für Fahrradfahrer schwer zu erreichen ist, weil es von dort aus keine weiterführenden Wege gibt. Prompt traf ich Bedienstete der kommunalen Wasserwerke, die dort irgendwas zu besorgen hatten.
Kommunikation ist so normal, dass man sich gar nicht vorstellen kann, wie ein Leben, in dem man für längere Zeit auf Kommunikation verzichten müsste, aushalten könnte. Der ganze Lebenslauf ist eine andauernde, beinahe lückenlose Verkettung von Verwicklung in mitunter hochkomplexen sozialen Zusammenhängen, wobei das Gespräch zwischen Anwesenden schon längst nicht mehr die größte Herausforderung ist. Die größte Herausforderung besteht darin, sich auf Gespräche wo, wann und unter sonst welchen Umständen sie auch immer stattfinden werden, vorzubereiten. Auch die Vorbereitung auf Kommunikation ist soziales Handeln und vollzieht sich in Gesellschaft, weil ohne Gesellschaft niemand den Weg aufs Klo finden könnte. Wo sollte ein Klo herkommen?
In bevölkerungsreichen Entwicklungsländern wie Indien, die große Ballungsräume haben, ist die Ernährung von Menschen, wenn sie auch nicht gerade einfach ist, nicht das größte Problem. Ein viel größeres Problem liegt in der Entsorgung von Verdauungsabfällen. Woher woher sollen Toiletten, Abwasserkanäle, Wasserversorgung und Abwasserreinigung kommen? Netze der Versorgung und Entsorgung kann niemand einfach einrichten.* Nimmt man das ernst, wird man begreifen, wie voraussetzungsreich selbst einfache Handlungen sind, die man meint, in aller Einsamkeit, jenseits von Gesellschaft erbringen zu können. Man ist zwar allein, wenn man auf dem Klo ist, aber in Gesellschaft ist man trotzdem.
Die Beteiligung an Kommunikation ist anstrengend geworden. Das kann man sagen. Das beginnt nicht erst mit dem Schulunterricht, der durch die Abschaffung einer Angst-Pädagogik, die ehedem auf Prügelstrafe setzte, kein bißchen einfacher geworden ist. Man denke etwa an die Überstressung von schwangeren Frauen, die sich ab dem ersten Tag der Kenntnis ihrer Schwangerschaft mit hunderten von Expertenmeinungen befassen müssen. Es gibt bei dem Vorgang der Schwangerschaft nichts mehr, das der Aufmerksamkeit von Mediziern, Psychologen, Therapeuten, Pharmazeuten, Hebammen, Pädagogen, Ökotrophologen, Designern und Produktentwicklern aller Art entzogen wäre, was davon spricht, dass eine Schwangerschaft alles mögliche ist, aber bestimmt nichts Natürliches. Denn das Natürliche ist nicht problematisch. Wo aber viele Probleme erfunden werden können – und im normalen Vollzugs des Lebensalltags sind wir einer Vielzahl von Problembehandlungsroutinen ausgesetzt – ist der Grad der Vergesellschaftung enorm hoch, so hoch, dass die Zumutungen, Risiken und Gefährdungen, die damit verbunden sind, selbst als Kostenfaktor erscheinen, durch den alle Effizienzgewinne, die mit Marktwirtschaft und Konkurrenz verbunden sind, schnell wieder verbraucht werden. So dürfte es nicht weiter verwundern, dass der größte Teil aller ökonomischen Produktion in der gesamtgesellschaftlichen Herstellung von Bedürfnissen besteht, was ansatzweise erklären könnte, warum die Beteiligung an Kommunikation so anstrengend geworden ist.
So sind es gerade diese Anstrengungen, die davon sprechen, dass Kommunikation keineswegs normal ist. In dem Maße wie der Grad der Vergesellschaftung gestiegen ist, haben sich auch die sozialen Aporien verdichtet. Mit dieser Verdichtung von Ausweglosigkeiten wird die Irritabilität von Kommunikation gesteigert; und mit dieser Steigerung steigt zugleich die Irritation über Kommunikationstheorie, nicht nur in engeren akademischen Kreisen.
Wenn nun, wie absehbar ist, der Computer als technische Voraussetzung für alle Lebensbereiche relevant wird, dann möchte ich vermuten, dass wir es nicht mit einer bloß additiven Innovation zu tun haben, die also nur der bestehenden Gesellschaft etwas hinzufügt und alles andere belässt wie es ist. Tatsächlich können wir mit einem schweren Eingriff in die soziale Ökologie der Gesellschaft rechnen, die den Fortbestand der Gesellschaft unter andere Bedingungen stellt. Diese Bedingungen sind aber wiederum nicht selbstverständlich, sondern können nur erprobt, getestet, erforscht und auf diesem Wege erlernt werden.
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* In diesem Zusammenhang ist die Unterscheidung von Netz und Netzwerk bei Bruno Latour sehr wichtig. Netzwerke sind das Einrichtende, Netze das eingerichtete. Latour, Bruno: Existenzweisen. [SB 704]