Beobachtung und Reflexion von Modernisierungsprozessen 4
zurück / Fortsetzung: Die Digitalisierung allgemein, das Internet insbesondere, überzieht die Gesellschaft mit der Dämonie einer medienökologischen Krise. Wie in einem Ökosystem gerät durch die Veränderung eines entscheidenden Faktors das ganze Gefüge dieses Systems in Bewegung: Parlamente können funktionieren, wenn massenmediale Publizität funktioniert; massenmediale Publizität gibt es nur, wenn es Märkte gibt; Märkte kommen zustande, wenn eine öffentliche Infrastruktur erhalten werden kann; eine öffentliche Infrastruktur ist nur möglich, wenn es Schulen und Wissenschaft gibt; Schulen und Wissenschaft brauchen lernfähige und lernwillige Menschen, die ernährt, motiviert und gesund erhalten werden müssen; die Gesellschaft braucht Freiheiten und Rechte, sie braucht Verlässlichkeit, Sicherheit und genügend Spielräume für Innovation und Gedächtnisbildung.
Alles zusammen entwickelt sich nicht additiv in dem Sinne, dass zuerst das eine, dann das nächste und dann wieder das nächste hinzu kommt. All das entwickelt sich gleichzeitig-ungleichzeitig und hat sich gegenseitig zur Voraussetzung des Funktionierens von Gesellschaft. Ein solches Gefüge kann durchaus empfindlich reagieren, wenn sich etwas Entscheidendes ändert.
Schon vor der massenhaften Nutzung des Internets hatte sich eine komplizierte Diversifizierung massenmedialer Produktion etabliert. Allerdings konnte dieser Prozess immer nach Maßgabe der selben Differenzierungsform vonstatten gehen. Immer musste Kapital akquiriert, Reichweite ermittelt, Auflagen oder Einschaltquoten gemessen werden. Es mussten Lücken, Mängel oder Nischen erkennbar sein und genutzt werden; es mussten Kompetenzen referenzierbar sein und Alleinstellungsmerkmale entstehen. All dies ging einher mit der Nutzung neuer Technologien, mit dem Wissen um ein erreichbares und inkludierbares Publikum und der Notwendigkeit, irgendetwas marktfähiges zu verkaufen. Es ging nicht ohne neue Themen, neue Trends und allgemein nicht ohne neue gesellschaftliche Problem- und Konfliktsituationen, welche nicht selten erst durch vorangegangene Innovationen geschaffen wurden.
Die Gesellschaft hat seit längerer Zeit lernen können, geeignete Krisenbewältigungsmechanismen zu entwickeln, die speziell auf ein solches sozio-ökologisches Gefüge angepasst waren. Diese Krisenbewältigungsmechanismen waren:
- Verbreitung von Angst und Hoffnung
- Irritation über schöpferische Zerstörung
- Immunreaktionen, Abwehr und Bekämpfung
- Ausweitung der Anerkennung von weiteren Rechten und Schaffung weiterer Gesetze
- Gründung von Fächern, Ausbildungen, Schulen, Experten; Zuordnung von Fachkompetenzen aller Art
- Gründung von weiteren Organisationen (Konzernen, Verbänden, Bürokratie)
All das kann man gegenwärtig punktgenau bei der Entwicklung des Internets erkennen. Insofern folgt die Entwicklung einem bekannten Schema, das schon immer bei der Bewältigung von Krisen Anwendung fand.
Der entscheidende Unterschied ist aber, dass die gegenwärtige Krisenentwicklung nicht mehr nur einzelne Technologien, Branchen, Organisationen, Fächer oder Kompetenzen betrifft. Vielmehr wird durch das Internet all das, was sich durch zurückliegende Modernisierungsprozesse differenziert und sortiert hatte, in ein unüberschaubares Chaos überführt, das alles und alle in eine Situation der Überforderung bringt, woraus die Frage resultiert, ob diese Überforderung auf bekannte Weise, mit bekannten Mitteln und Strategien geordnet werden könnte.
Solange diese Frage mit „Ja“ beantwortet wird kann nicht erkennbar werden, wie das eine mit dem anderen zusammenhängt. Eine andere Überlegung wäre nun, dass diese bekannten Krisenbewältigungsstrategien selbst in eine Krise kommen, was zur Folge hätte, dass sich die Gesellschaft dadurch verändert, dass sie immer seltsamer wird, sich immer merkwürdiger gestaltet, dass zunächst immer mehr Auffälligkeiten irritieren, die zunächst völlig überflüssig und darum unverbindlich bleiben, weil niemand angeben kann, unter welchen Bedingungen daraus Notwendigkeiten entstehen können.
Ein wichtiger und entscheidender Schritt zur Bewältigung eines anstehenden Lernprozesses scheint mir daher das Zugeständnis der Rat- und Hilflosigkeit zu sein, weil davon ausgehend der Horizont der interessanten Möglichkeiten erst ausgeweitet werden kann.
Fortsetzung folgt