Einwände gegen die Eisenbahn im 19. Jahrhundert
von Kusanowsky
In einer Aufzeichnung von Joseph Maria von Radowitz, ein preußischer Politiker des 19. Jahrhunderts, findet man eine interessante Stelle, in welcher zu einem frühen Zeitpunkt, als die Eisenbahn auch in Deutschland eingeführt wurde, Einwände gegen ihren Gebrauch formuliert werden. Die Einwände beziehen sich darauf, dass die Eisenbahn die Menschen der Wahlfreiheit beraube. Und zwar:
1. hinsichtlich des Momentes der Abreise; man muß sich an die festgestellten Stunden binden, 2. hinsichtlich des Weges; man konnte sonst langsamer oder schneller reisen, je nach dem man es wünschte oder bedurfte, 3. hinsichtlich der Art der Reise; man konnte sonst gehen, reiten, fahren auf zehn verschiedene Weise, jetzt immer nur in der selben Manier, 4. hinsichtlich der Gesellschaft; man suchte sonst die Reisegesellschaft wie man wollte, jetzt wird man unwandelbar an diejenigen gebunden, die man findet. Die Eisenbahnen vernichten also das eigentliche Reisen, das nicht bloss das Erreichen eines bestimmten Zieles, sondern den Weg selbst zum Zwecke hatte. Und auch die blosse Zurücklegung dieses Weges verwandelt sich aus einem freie Acte in eine sklavische Leistung. Man hört für die Dauer eines solchen Trasports auf Person zu sein und wird Sache, Frachtgut.“
Quelle: Radowitz, J.v.: Gesammelte Schriften, Bd. V, 1853, S.339f.
Es gibt nun wenig überzeugende Gründe, diese Einwände zu belächeln oder mit Geringschätzung zu betrachten, würden wir doch gegen diese Einwände davon ausgehen, dass mit der steigenden Mobilität die Wahlfreiheit gestiegen ist. Wir würden selbstverständlich meinen, die Wahlfreiheit habe zu- und nicht abgenommen.
Tatsächlich geben diese Einwände jedoch Auskunft über einen bestimmten sozialen Erfahrungszusammenhang, der nicht zuerst über die subjektive Geringschätzung der Eisenbahn Auskunft gibt, sondern über eine soziale Struktur, die sich im selben Augenblick zeigt, die erkennbar und offenbar wird, in dem sie sich ändert. Nachdem erkennbar wird, dass das Reisen als Transport aufgefasst werden kann, als ein zweckrationaler Vorgang der Erledigungen einer Aufgabe, wird nun auf ein Verhälntis von Mittel und Zweck rekurriert, das mit dieser Selbstverständlichkeit zuvor gar nicht bemerkt wurde. Denn dass Reisen ein Selbstzweck sei, dem eine größere Wertschätzung zuteil werden sollte, wird erst in dem Augenblick erkennbar, in dem sich zeigt, dass die Verkehrung des Zweck-Mittelverhältnisses genauso gut für die Eisenbahnfahrt gelten könnte.
Erst in dem Augenblick, in dem der Reisende zwischen dem Transport mit der Eisenbahn und der Reise mit der Kutsche unterscheidet, wird ihm deutlich, dass damit seine Wahlfreiheit vermindert würde, da ihm zugleich einleuchtet, dass der Transport gegenüber der Reise einen Kosten- und Geschwindigkeitsvorteil hat, der zuvor, da es keine Eisenbahn gab, nicht auffallen konnte. Und dieser Vorteil wird nun mit einem Nachteil verrechnet, der angeblich durch den Verlust der Wahlfreiheit entstünde, welcher zuvor allerdings nicht beobachtbar war. So ist auch der Transport mit der Eisenbahn genauso zwecklos wie die Reise mit der Kutsche.
Wovon spricht also dieser Einwand? Er zeigt wie ein Beobachter sich seiner Selbstbeobachtung entzieht, indem er auf dem Wege des Einwandes einen unvermeidlichen Lernprozess reflektiert. Auf der Ebene der Analyse und des Argument formuliert der Beobachter Gründe für Wert- oder Geringschätzung, aber auf operativer Ebene erkennt man deutlich den Beobachtungsvorgang durch die Wahl der Unterscheidung von Transport und Reise. Es ist diese Unterscheidung, und nicht die subjekive Wert- oder Geringschätzung, die zeigt, worum es geht. Reise sei Selbstzweck, Transport sei nur Mittel. Und wird diese Unterscheidung auf diese Weise entfaltet, wird zugleich ausgeblendet, dass man für den Transport einen solchen Selbstzweck ebenfalls annehmen könnte. Dass es sich aber so verhält kann erst deutlich werden, wenn die Menge der wählbaren Transportmittel zunimmt, worüber der Schreiber dieser Einwände jedoch keine Kenntnisse haben konnte.
Daraus kann man den Schluss, dass diese Einwände gar nicht so abwegig sind.
Die Unterscheidung Reise/Transport ist nur die eine, die andere und in dem zitierten Text maßgebliche, wie mir scheint, ist „Freiheit/Unfreiheit“. Tatsächlich war ja die Kutsche auch schon Transportmittel, der Begriff schon gesetzt ( http://bit.ly/1rnGKN7 ), bspw. waren auch Schiffreisende nach Amerika „Frachtgut“. Radowitz bedauert hier vor allem die Abschaffung des feudalen Individualverkehrs, bei dem Reisende die Gestaltung ihrer Reise, ob die Ziel und Zweck hat oder nicht, für sich nach Gusto festlegen können. Die Unterscheidungen, die er da trifft – und dies wäre für mich das Spektakuläre dieses frühen Textes – betreffen exakt die Dialektik, entlang derer sich dann der moderne Personenverkehr weiter entwickelt hat, nämlich effizienter „Massentransport“ vs. individuelle Fortbewegung (Fahrrad, Auto, Moped, Privatflugzeug). Das wirft auch ein Schlaglicht auf einen Ursprung des bürgerlichen Freiheitsbegriffs, der nämlich verbunden ist mit Besitz (Freiheit der Lebensgestaltung als Erlaubnis, das auszuleben, was sich einer gerade finanziell leisten kann). Von daher haben alle den Zug als Befreiung erlebt, die sich vorher gar keine Reise leisten konnten. Aber für den wahren Adel war es natürlich anfangs eine Horrorvorstellung, sich dem Pfiff des Schaffners genauso zu beugen wie das menschliche Frachtgut in der Holzklasse – der feine Mann lässt sich doch nicht vom Personal hetzen!
(Nur nebenbei: Die festen Abfahrzeiten der Bahnen haben dann zu der größten Unfreiheit überhaupt geführt, nämlich zu Einheitszeiten/Zeitzonen. Hatte früher jeder Ort mehr oder minder seine eigene KIrchturmsuhrzeit, entstand durch das Verkehrszeitnetz die Notwendigkeit zur landesweiten Synchronisation. Den Roman, der die Erfindung der unfreien Abfahrzeiten thematisierte und als Hatz rund um die Erde darstellte, kennt ja jeder – „In 80 Tagen um die Welt“ …)
Schöner Beitrag, dem ich als Funfact etwas hinzufügen möchte: Die Geschichte der Eisenbahn begann wie das Kino übrigens als eine Jahrmarktattraktion- nur für Adlige. Sie fuhren wie auf einem Karussell nur im Kreis mit der Eisenbahn hinter einem Sichtschutz, einer hohen Holzwand, damit das Volk bei diesem Vergnügen nicht zuschauen konnte.
Das war sehr deutlich. Diese Unterscheidung, im Be- Nutzen von Technologie. Heutige Relikte davon sind die Einteilung in 1.und 2. Klasse….
Fritz (@Fritz) fuhriello das sind sehr schöne Ergänzungen, die ich gerne so „like“ +1 usw.