Organisation und Selbstorganisation
von Kusanowsky
Durch Organisationen geraten moderne Menschen in Gesellschaft. Organisationen leisten Vergesellschaftung. Personen wie etwa Obdachlose, entlassene Häftlinge, alleinlebende Kranke oder Flüchtlinge, die durch keine Organisation inkludiert werden, verlieren leicht jeden Anschluss an Gesellschaft, weil Inklusion immer auch Referenzen voraussetzt, die sich kein Mensch selbst beschaffen kann. Inklusion erfordert Fremdreferenz.
Das beginnt mit der Geburt und dem Eintrag beim Standesamt. Dort erhält ein neugeborener Menschen den Personenstatus durch Aushändigung einer Geburtsurkunde, welche die Voraussetzung für den Eintritt in eine Schule ist. In der Schule erhält die Person dann Zeugnisse, also weitere Referenzen, die für den Eintritt in Ausbildungsberufe wichtig sind. Auf diese Weise geht das ein ganzes Leben lang weiter. Bei diesen Referenzen handelt es sich um „Ausweise“ aller Art: Personalausweis, Führerschein, Krankenkassekarte, Gewerbeschein, aber auch andere Referenzen, die durch den Lebenslauf selbst entstehen wie ehemalige Arbeitsstellen, Publikationen, Kontakte in Karrierenetzwerken, Nachbarschaften usw. Wird dieser Referenzzirkel an entscheidender Stelle unterbrochen, kann Vergesellschaftung nicht mehr so leicht geschehen.
Wo sich nun zeigt, dass Vergesellschaftung, also Inklusion, aus diesem Grunde hoch geschätzt wird, zeigt sich auch, dass alle Organisationen einen enormen Regelungsbedarf haben. Regelungen ziehen Entscheidungen nach sich; und Entscheidungen bedürfen der Begründung. So vollzieht sich die Ausdifferenzierung eines globalen Netzwerks von Organisationen durch die Unterscheidung von Entscheidung und Begründung.
Organisationen zeichnen sich vor allem dadurch aus, dass sie als Machtapparate etwas leisten, das Menschen unmöglich selbst herstellen können, indem sie nämlich Menschen, die für einander unbekannt sind, zusammenführen, ohne, dass sie deshalb ihre Distanz zueinander verlieren. Organisationen leisten Vergesellschaftung durch die Paradoxie der distanzlosen Distanz. Distanzlose Distanz bedeutet, dass Menschen als Personen für einander selektiv erreichbar sind; das heißt, dass Personen für einander jeweils immer nur einen Ausschnitt aus ihrem Lebensalltag anderen als Information überlassen, was der Voraussetzung unterliegt, dass jede Person in der Organisation mit Rechten aller Art ausgestattet wird.
Diese distanzlose Distanz funktioniert deshalb, weil Personen übereinander nur sehr selektiv informiert sind, was sich z.B. in dem Zustandekommen von Rollen, Regeln, Erwartungen, Kompetenzen und Mustern niederschlägt. Diese ausschnitthafte Wissen um die Anwesenheit und Handlungen anderer erfordert vor allen Dingen Kommunikation über Gründe für Handlungen, weil nur auf der Basis von Gründen Entscheidungen getroffen oder bezweifelt werden können.
So erzeugen Organisationen auf der Basis ihres eigenen operativen Vollzugs von Kommunikationen eine spezifische Empirie, nämlich eine Empirie, die für alles, was geschieht, Gründe ermittelt. Und je erfolgreicher, je komplexer und je verlässlicher Organisationen trotz ihrer Intransparenz wirken, um so plausibler wird, dass alles, was in der Welt geschieht, Gründe haben müsse, die auf handelnde Subjekt als Ursache zurück geführt werden. Das Subjekt, so das Schema dieser Art der Empirie, verursacht Kommunikation durch begründetes Handeln. Und wird dieses Schema der Empirie rekursiv wirksam, das heißt, dass der Vollzug von Inklusion über Begründung und Entscheidung durch Begründung und Entscheidung selbst wiederum beobachbar wird, kann man fast nicht mehr erklären, dass es für Gründe keine Gründe gibt.
Eben dieses Schema der Empirie gilt auch in der Wissenschaft. Will empirische Forschung Gesellschaft beschreiben, dann kann sie die Beobachtung Grundlosigkeit von Gesellschaft nicht teilen. Wenigstens wird es sehr, sehr schwer verständlich zu machen, dass Vergesellschaft sich zwar durch die soziale Erzeugung und Zurechnung von Gründen vollzieht, dafür müssen aber keine Gründe voraussgesetzt sein. Die Grundlosigkeit der erlebbaren Welt wird für diese Art der Empirie beinahe inkommunikabel.
Aus diesem Grunde kann die Wissenschaft nur sehr schwer Selbstorganisationsprozesse beobachten. Denn Selbstorganisation entsteht nicht durch handelnde Subjekte, die Gründe mit Überzeugtheit vortragen. Vielmehr entsteht Selbstorganisation als emergentes Phänomen, dessen Herkunft und Zustandekommen keine Notwendigkeit hat.
An diesem Beispiel zeigt sich wie schlecht die empirische Sozialforschung ihr Schema der Empirie verlassen kann. In dem verlinkten Artikel geht es um ein Forschungsprojekt, mit dem Forscher versuchten die Gründe heraus zu finden, die Twitternutzer dazu veranlassen, den Favorisierungs-Klick zu hinterlassen. Für die Forscher sind die Beobachtung handelnder Subjekt und ihre Gründe die einzige Möglichkeit, wie sie die Kommunikation via Twitter erklären können, weil diese Forschung die Normalität ihres Beobachtungsschemas als blinden Fleck benutzt.
Daraus leite ich die Überlegung ab, dass auf der Basis dieser Social-Media-Netzwerke die Normalität von Selbstorganisationsprozessen sehr viel einfacher erklärbar ist, weil für diese Art der Kommunikation nicht die gleichen Bedingungen der Vergesellschaftung gegeben sind, auf die Organisationen angepasst sind.
Die Twitternutzung hatt keine Notwendigkeit, ihre Vergesellschaftungswirkung ist sehr gering, sie ist völlig überflüssig und ersetzt die Paradoxie der distanzlosen Distanz durch die Paradoxie der erreichbaren Unerreichbarkeit. Selbstverständlich dürfte damit auch eine andere Art der Empirie einhergehen, die allerdings nicht so einfach beschreibbar ist.
Die unintendierte Entstehung von etwas solltest Du schärfer von grundloser und die von nicht notwendiger abgrenzen. Denn für Selbstorganisationsprozesse von etwas, das niemand plante, kann es Gründe geben. Davon ganz unabhängig ist die Frage der Kontingenz (etwas ist SO nicht notwendig).
In Köln sagt man: „Komm, wat hängste da so heröm? Trinkste eenen mit!“ Der berühmte „Geselligkeitstrieb“ … man muss sich um die Gesellschaftsbildung nie Sorgen machen, so dass ich mich frage, ob nicht die Organisationen die Gesellschaft organisieren, sondern umgekehrt die Menschen die Organisationen gestalten mit dem Ziel, ihre Geselligkeit besser ausleben zu können.
Mir fällt auf, dass du erst beim Standesamt anfängst. Was dort passiert, ist aber ausgesprochen sekundär und nur eine Formalie (andere Völker nehmen das längst nicht so genau, in USA bekanntlich gibt es nicht mal „Einwohnermeldeamt“). Der neue Mensch ist tatsächlich schlicht kraft seiner Geburt Teil der Gesellschaft, die Verbindung zwischen Mutter und Kind die einzige nie wieder Auflösbare (selbst wo sie negiert oder ausgetauscht wird). Wie auch immer, interessant finde ich, wie und wodurch Gesellschaft nicht entsteht, also der Einschluss nicht klappt bzw. von den „Zusammengehörigen“ abgelehnt wird, also warum bestimmte Personen kein Bier bekommen und nicht zur Party zugelassen sind. Das reicht bekanntlich von der Mode bis zur Hautfarbe, von den Schuhen bis zu Geld, Sprache, Eintrittsticket usw. bis eben hin zum Mangel an unorganisierten „menschlichen Beziehungen“ – die nicht regulierten, „spontanen“ Beziehungen scheinen Basis und Ziel des ganzen gesellschaftlichen Treibens zu sein. Keinem Menschen ist irgendetwas in Punkto „Inklusion“ geholfen, wenn er Job, Wohnung, Konto, Ausweis und die richtigen Klamotten hat, aber ansonsten keine „Kontakte“ hat. Es ist nicht zu übersehen, meine ich, dass auf genau diesen primären Vergesellschaftungsbedarf die Social Media Communities eine Antwort anbieten, auch wenn die Antwort oft/meistens in den genannten Paradoxien steckenbleibt (aber bekanntlich nicht nur).
Wenn Twitter keine Notwendigkeit hat, heißt das daher nicht, dass ihre Vergesellschaftungswirkung gering wäre. Gesellschaft findet ja nicht nur in formellen, standesamtlich oder vertraglich geregelten Bezügen statt, sondern auch dadurch, dass man am „gesellschaftlichen Leben“ Teil hat. Das ist ja die Inklusion, um die es geht – bin ich einsam oder habe ich Gesellschaft? Die Vergesellschaftungswirkung von Twitter etc. kann durchaus eine ähnliche sein wie ein Gespräch am Telefon, in der Kneipe oder im Zug, abgesehen von den direkten Maklerfunktionen solcher Plattformen (Zimmer gesucht, Info gesucht, Job gesucht, Anworten gesucht etc.) Gesellschaftsbildung funktioniert ja auch sonst größtenteils „ortsunabhängig“, zum Beispiel spreche ich wundersamerweise genauso Deutsch wie die Leute, die in Hannover wohnen. Genauso könnte man den ganzen Rechtsraum als größtenteils virtuelles Gespinst beschreiben.
Ich unterscheide zwischen Geselligkeit und Vergesellschaftung. Vergesellschaftung entsteht, wenn Notwendigkeiten bewältigt werden müssen, die niemand einfach herstellen oder abschaffen kann. Geselligkeit zeichnet sich vor allem durch Unverbindlichkeit aus.
Führt dein Beispiel („entlassene Häftlinge, die durch keine Organisation inkludiert werden, verlieren leicht jeden Anschluss an Gesellschaft“) nicht dazu, dass man hinter der Unterscheidung verbindliche/unverbindliche Vergesellschaftung ein Fragezeichen anbringen muss? Nach langer Zeit entlassene Häftlinge haben Übergangsgeld, Papiere, das „Notwendige“, Wiedereingliederungsbetreuung. Was zuweilen oder meist am Dringendsten fehlt ist das, was sich nicht so ohne weiteres organisieren lässt – Freund, Freundin, Familie, Gesprächspartner, Anerkennung. Nur das sogenannte Notwendige zu haben, ist schon fast der Inbegriff des Nicht-Inkludiertseins (siehe auch Harz IV, Altersheime, Irrenhäuser). Ohne den ungeregelten Verknüpfungsreichtum hat man keine Gesellschaft, sondern einen Betrieb, einen Zweckverband, der die Gesellschaft eher auftrennt als zusammenbringt (schönes Beispiel ist Nordkorea). Man könnte sagen: Die vielen Formen der unverbindlichen Vergesellschaftung gehören zu den notwendigsten Faktoren, damit Vergesellschaftung überhaupt gelingt. Die Auffassung der Gesellschaft als höhere Form von GmbH ist verbreitet und führt zu Debatten, was überhaupt geregelt werden muss und wo sich die Organisationen ja nicht einmischen sollen. Nimm das amerikanische Waffengesetz, das verbindlich geregelt ist, aber augenscheinlich nicht zum Nutzen der „ganzen“ Gesellschaft. Und wieso ist es überhaupt eine notwendige Aufgabe, sich um Flüchtlinge, arme Alte oder entlassene Häftlinge zu kümmern? Man könnte ja auch sagen: Alles wirklich Notwendige regelt sich von ganz allein, sonst wäre es nicht notwendig. Wie man hier sieht: http://bit.ly/QPxTTo
„Ohne den ungeregelten Verknüpfungsreichtum hat man keine Gesellschaft“
Ich fühle mich zwar sehr zur Geduld verpflichtet, aber manchmal kapituliere ich. Ich hatte geschrieben: „Wird dieser Referenzzirkel an entscheidender Stelle unterbrochen, kann Vergesellschaftung nicht mehr so leicht geschehen.“ Ich hätte schreiben können: Wird dieser Referenzzirkel an entscheidender Stelle unterbrochen oder kommt er gar nicht erst zustande, kann Vergesellschaftung nicht mehr so leicht geschehen.“ – Wie dies etwa in Ländern der Dritten Welt beobachtbar ist.
»[…], dass es für Gründe keine Gründe gibt.«
Das erinnert mich an die Notwendigkeit Wissenslücken in einem angrenzenden Bereich zu schließen, um nicht irgendwann vom ernstnehmbaren zum lächerlichen Verschwörungstheoretiker zu mutieren oder zwischen den allgegenwärten Sätzen
»Das kann doch kein Zufall sein!« und
»[Extrem] dumm gelaufen.« wahnsinnig zu werden.
Ich nehme mir für Zustände und Einzelschicksale heute mal wieder vor zu Ergründen, wie sich wie von Geisterhand Gründe [selbstorganisierend] grund- und entscheidungslos so miteinander verketten, dass nur noch zu sagen bleibt:
»Es bedarf gar keiner Verschwörung mehr zur Verschwörung. Sie findet automatisch statt.«
Hat dazu jemand Suchworte für Einsteiger [auf Erstsemester-Niveau]?
Selbstverstärkende Kreisläufe; Uwe Lehnert, Kybernetik und Rückkopplungen?