Differentia

Monat: Dezember, 2013

Allibertische Immersion und venezianische Beobachtung @benbarks @postdramatiker

Jeder kennt diesen Wahrnehmungseindruck, der entsteht, wenn ein Spiegelbild gespiegelt wird. Diesen Effekt nennt man landläufig „unendlicher Spiegel“, was natürlich irreführend ist, denn kein Spiegel ist unendlich; und nur ein Dichter könnte die Welt einen Spiegel ohne Rand nennen. Dann aber könnte sich kein Spiegelbild spiegeln, weil für Wahrnehmung keine Grenze ermittelbar ist, an welcher eine Spiegelungsachse angesetzt werden könnte. (Beispiel)
Es handelt sich also nicht um einen unendlichen Spiegel, sondern um die Wahrnehmung eines unendlichen Spiegelbildes. Diesen Wahrnehmungseindruck könnte man stattdessen allibertische Immersion nennen.
Der Ausdruck „venezianische Beobachtung“ meint eine parasoziale Beobachtungssituation, die durch einen sogenannten Einweg- oder Spionagespiegel entsteht. Von einer Seite sieht eine Person ihr Spiegelbild und von der anderen schaut eine andere Person hindurch. Um eine parasoziale Beobachtungssituation handelt es sich deshalb, weil beide Personen keine Möglichkeit haben darauf aufmerksam zu machen, dass keine Kommunikation stattfindet, wenn beide gleichzeitig auf jeder Seite anwesend sind.

Nachfolgend ist ein Streich mit versteckter Kamera verlinkt. Er zeigt eine parasoziale Beobachtungsituation, die dem Zuschauer (und nicht den erzählten Personen) eine Kombination aus allibertischer Immersion und venezianischer Beobachtung präsentiert.
Interessant wird dieser Streich erst dann, wenn man nicht mehr lacht. Dann stellt man nämlich fest, wie verkompliziert die Beobachtungssituation ist. Denn die venezianische Beobachtung verläuft umgekehrt: eine Person, die ein Spiegelwild erwartet findet keins, während die andere Person ein Spielbild zeigt, obgleich sie hindurchschaut.
Dass hier auch ein allibertischer Immersionseindruck, wenn auch ein schwacher, entsteht, liegt daran, dass auf beiden Seiten des unsichtbaren Spiegels eine Kamera angebracht ist.

Das ist ziemlich verrückt.

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Leben mit der Paranoia: Into the wild – re:publica 2014

INTO THE WILD soll als Motto der re:publica 2014 den Blick öffnen für verschiedene Ansätze, um das Internet und die Gesellschaft der nahen Zukunft zu verstehen und zu verbessern: Wenn Algorithmen uns zu gläsernen, kontrollierbaren weil berechenbaren Menschen machen, müssen wir vielleicht unberechenbarer werden? Die Auflösung von Strukturen, das Verlassen der populären Trampelpfade hinein ins Chaos, in die Irrationalität, in die Wildnis eben, könnten Strategien sein. Aber wie finden wir uns dann noch zurecht, wie finden wir zueinander? Wie flüstert man im Netz und vor allem: mit wem? Wird nicht, wer ein freies, unkontrolliertes Netz fordert, umso mehr kontrollieren müssen, wer dabei sein darf und wer draußen bleiben muss? (Herkunft)

Einmal mehr gibt diese Ankündigung der #rp14 Grund zum Nachdenken darüber, was das Internet für die Gesellschaft leisten könnte, im Unterschied zu dem, was irgendwelche Meinungsmacher meinen, dass es leisten müsste. Denn solange Meinungsmacher sich des Internets bedienen, sich damit hervortun, um massenwirksam Stimmung zu irritieren, können sie nichts anderes tun als das, was mit Massenmedien ohnehin schon immer möglich war. Meinungsmache, Meinungskampf funktioniert berechenbar, vorhersehbar und erzwingt dadurch Strukturen, die Normalität und Naivität erzeugen. Normalität entsteht durch Routinen, durch Regeln, durch Wiederholungen; Naivität entsteht dadurch, dass diese Normalität als normal erwartet wird. Die wichtigste Regel für Massenmedien lautet, ständig Neues und Unerwartetes zu produzieren, auf das man mit bekannten und gewöhnlichen Mittel reagieren kann, nämlich: mit Kritik und Meinung. Das geschah bislang immer mit vorhersehbarer Wirksamkeit wie ein aufgezogenes Uhrwerk, noch bevor von irgendwelchen Algorithmen die Rede war. Seitdem nun die Wirksamkeit von Algorithmen massenmedial thematisiert wird, wird nun plötzlich offenbar, was niemals unbekannt war: Das Erwartbare wird nun berechenbar. Und dies wird dann als Neuigkeit nach bekannten Mustern der weiteren Erregung anempfohlen.

Und die interessante Frage ist dann, wie man auf die Erwartung des Erwartbaren reagiert. Vorerst gilt noch, dass sich zwar etwas ändern wird, aber wenn, dann nur so, dass zunächst alles so bleibt wie ist.
Der Härtefall aller Lernprozesse besteht darin, die Navitiät zu zerbrechen. Voraussetzung dafür dürfte sein, sie überhaupt erst zu bemerken: „Wenn Algorithmen uns zu gläsernen, kontrollierbaren weil berechenbaren Menschen machen, müssen wir vielleicht unberechenbarer werden?“ – [Wir Menschen – wenn berechenbar – dann müssen] – Es handelt sich um eine Empfehlung, die wie ein Algorithmus gelesen werden kann, womit nur gesagt sei, nach Maßgabe eines Algorithmus zu handeln, damit berechnet werden kann, womit man zu rechnen hat.

Man erkennt die Naivität und erkennt zugleich, dass noch sehr viel gerätselt werden muss, um ihr zu entkommen. Man ist nämlicht allzu leicht geneigt, das Fragezeichen zu übersehen.

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