Freiheit, Überwachung, Sicherheit und Paranoia
Das bekannte Verfahren, mit dem die moderne Gesellschaft die Freiheit des Indviddums durchgesetzt hat, bestand darin, dass der Staat diese Freiheit begrenzte oder einschränkte, sie gegebenenfalls verbot, alle Verbotsübertretungen verfolgte, Freiheitsbegehren schikanierte oder bestrafte. Und wenn der Staat nicht direkte Gegenmaßnahmen ergriffen hatte, so waren es immerhin – das galt auch für die sogenannten westeuropäischen Demokratien – Vorbehalte gegen diese Freiheit, die staatlicherseits geäußert und mit mehr oder weniger willkürlichen Maßnahmen geregelt wurden.
Auf dem Weg der Vermeidung der Freiheit des Indviduums ist nach mühevollen und nicht selten sehr blutigen Auseinandersetzungen diese Freiheit dennoch durchgesetzt worden, weil die Verhinderungsmaßnahmen jedes erträgliche Maß überstiegen hatten.
Das Internet mit seinen Möglichkeiten stellt nun im globalen Massstab den Schlussstein dieser Entwicklung dar. Mit der Verbreitung des Internets wird nun zweierlei deutlich: erstens, dass die Staaten ihren Vermeidungskampf gegen die Freiheit des Individuums verloren haben und darum zweitens zu einem konsequenten Paradigmenwechsel übergehen. Wurde zurück liegend die Freiheit des Indvidiuums mehr oder weniger behindert, wurde sie sie ihm entzogen oder streitig gemacht, so wird diese Freiheit, nachdem sie nun beinahe überall ungehindert genutzt werden kann, gegen das Individuum gerichtet. Die Freiheit wird nicht mehr verhindert, sondern sie kann jederzeit denjenigen zum Nachteil ausgelegt werden, die sich ihrer bedienen. Die Nutzung und Achtung von Freiheit kann nun verdächtig machen und nicht mehr die Missachtung von Sicherheitsregeln.
Das unterscheidet diese Art der Überwachungs- und Kontrollpolitik von der zurück liegenden Sicherheitspolitik. Die zurück liegende Politik versuchte stets, Freiheit gegen Sicherheit auszuspielen um Sicherheit mit mehr oder weniger Radikalität als vorrangig zu behaupten. Unter diesen Umständen war es deshalb fast unmöglich zu argumentieren, dass gerade Freiheit die besten Sicherheitsgarantieen herstellt. Dass die Erweitung von Freiheit Sicherheit ermöglicht, konnte nicht erklärt werden, um so weniger, da leicht eine Sicherheitspolitik zu erklären war als eine Freiheitspolitik. Freiheit kann man nicht politisch regeln, man kann sie nur begrenzen.
Nun, nachdem absehbar wird, dass die staatlichen Einschränkungs- und Verhinderungsmaßnahmen immer weniger Aussicht auf Erfolg haben – man denke dabei auch an die immer noch gelingende Politik der europäischen „Festungsverteidigung“, die ob ihrer Obszönität bald keine Durchhaltechancen mehr hat – zeigt sich, dass auch der Staat ganze neue Freiheiten in Anspruch nimmt, die Freiheit nämlich, sich an Recht und Gesetz, an Sitte und Gewohnheit, sich an Voraussetzungen für eine freiheitliche Gesellschaft nicht mehr zu halten. Die Staaten erweitern ihre eigenen Handlungsspielräume, indem sie zulassen, was sie ehedem mit heiligen Schwüren zu vermeiden gedachten: die Pauschalverdächtigung aller Menschen, was erst geht, nachdem in Aussicht kommt, dass alle Menschen auf der Welt durch das Netz verfolgbar sind.
Wer nun dies zum Anlaß nehmen möchte, alte Alpträume zu ventilieren und schon den nächten Protestbrief in der Mache hat, sollte sich vielleicht noch einmal besinnen. Denn die Methoden, mit denen die staatlichen Geheimdienste arbeiten, sind selbst nicht geheim und können nicht geheim bleiben. Die Methoden bestehen in der Massenauswertung von Daten. Der Vorsprung der Geheimdienste besteht allenfalls darin, das technische Privileg der Erstabschöpfung zu nutzen, aber ihr Nachteil ist ihre Paranoia, die schwächt, wenn Verdacht ohne Grund mit Wahrheit versehen wird. Das ist das Schicksal der pathologischen Paranoia. Die pathologische Paranoia behauptet gerade da Gewissheit wo jeder andere nur Rätsel, nur Fragen nur Unklarheiten, Ungereimtheiten findet, weshalb der pathologische Paranoiker eigentlich nur Gewalt anwenden kann. Aber diese Gewalt und ihre Legitimierbarkeit unterliegt der selben Schwächung wie seine Urteilsbildung. Gewalt ist zwar wirksam, aber nicht dauerhaft überzeugend, wenn sie zuviel Willkür zulässt. Gewalt ohne erkennbare Regeln schwächt den, der sie ausübt.
In dem Maße wie sich die Staaten immer mehr Freiheiten heraus nehmen, die sie nur schlecht begründen können – sie also vermehrt Willkür zeigen, indem sie durch ihre Sicherheitspolitik weitere Sicherheitsrisiken erzeugen – steigern sie den Mut zur Eigenwillkür anderer Funktionssysteme der Gesellschaft. Banken und Konzerne kennen viele Vorwände, sich nicht mehr an Gesetze zu halten, von Schwarzmärkten ganz zu schweigen.
Gegenwärtig sieht es danach aus, dass die Geheimdienste das Geschäft der Kriminellen übernehmen, indem sie immer mehr die Bereitschaft zeigen, sich nicht mehr an Gesetze zu halten. Sie nutzen vermehrte Freiheitsmöglichkeiten wie alle anderen auch.
Wer hat unter dieser Voraussetzung den Mut, die Möglichkeit ins Auge zu fassen, dass die Erweiterung von Freiheit Sicherheit sehr viel besser garantieren kann? Das Angst-Argument, dass die staatliche Gewalt immer im Vorteil ist, wird dann als überzeugender Gegeneinwand fraglich, weil der Staat selbst nur von Angst getrieben ist.