Selbstorganisation von Bewertung @latent_de @infinsternis
von Kusanowsky
Dieser Tweet vom 14. Mai 2013 durchläuft heute zufällig bei Twitter eine retweet- und fav-Kaskade. Stand 9. Dezember 2013, 17.55 Uhr: 150 Retweets und 274 Favorites; und es hört nicht auf.
Diesen Tweet hatte ich bei irgendwem abgeschrieben und vergessen. Nun wird er überraschend durch diese Twitter-Maschine gejagt.
Aus einer naiven Perspektive betrachtet könnte man vermuten, dass „mir“ aufgrund eines Plagiats nun mehr Aufmerksamkeit zuteil würde als demjenigen, von dem ich diesen kurzen Text abgeschrieben haben. Naiv ist das deshalb, da es nicht um mich geht, sondern um den Witz. Denn gerade die Vielzahl der Weiterverbreitungsoperationen beweist ja nicht, dass es darum geht, mich mit Aufmerksamkeit zu bedenken, sondern den Witz. Niemand, der diesen Witz weiterverbreitet, will zuvor wisssen wer ich bin oder ob ich diese Aufmerksamkeit, wenn sie mir denn etwas nützen könnte, zu recht verdiene.
Tatsächlich ist es ja so, dass ich gar nichts davon habe. Es geht nur um die Bewertung des Witzes, nicht um die Bewertung meiner Person oder Adresse. Der Witz wird ja nicht dadurch schlechter, dass ein anderer in zuvor schon verbreitet hat.
Nun ist es aber so, dass jemand, der sich für eine Hitparade der am meisten bewerteten Tweets interessiert, feststellen könnte, dass – geht diese Kaskade mit diesem Tempo so weiter – dieser Tweet in der Tabelle relativ weit oben landen könnte und entsprechend glauben wollte, „ich“ sei relativ weit oben gelandet. Tatsächlich bin „ich“ nur ein ziemlich unbekannter und unbekannt bleibender Twitternutzer, was sich allenfalls ändern könnte, wenn viele meiner Tweets in der Hitparade ganz oben stehen.
Übrigens ist eine solche Hitparade auch ein gutes Messinstrument, um festzustellen, ob Plagiate verbreitet wurden oder nicht, da ja jeder Datensatz eines Tweets einen Zeitstempel hat. Denn dass dieser Witz unter meiner Adresse bessere Chancen hätte verbreitet zu werden ergibt sich durch nichts. Es passiert oder passiert nicht. Entsprechend gibt es für den angeblichen Erfinder des Witzes keinen Grund, ein Urheber-Recht zu behaupten. Denn ich habe ja keine besseren magischen Kräfte alle anderen Nutzer zur Weiterverbreitung zu bewegen als der angebliche Urheber selbst. Es ist Zufall und nur Zufall, dass die Bewertung dieses Witzes mit meiner Adresse verknüpft wird. Es ist ein soziales Geschehen, das keinen Urheber hat.
Wenn man nun – von diesem Witz mal abgesehen – darüber nachdenken wollte, wie durch Internetkommunikation die Selbstorganisation von Bewertungen aller Art ablaufen könnte, dann hätte man hiermit einen interessanten Fall, der zum Spekulieren einlädt, wenn man das Problem abstrakter betrachtet. Denn die abstrakte Betrachtung liefert nicht nur ein Verständnis einzelner Vorkommnisse, sondern ermöglicht ein theoretisches Begreifen dieser Abläufe.
Denn kaum jemand würde bestreiten, dass an der Art und Weise wie gegenwärtig immer noch Bewertungsverfahren vorgenommen werden, irgendetwas nicht stimmt. Das gilt für Bankengewinne, für Managergehälter, für Karrierechancen und ganz allgemein für die Bewertung unverzichtbarer Beiträge zum Gelingen eines erträglichen Miteinanders. Man denke etwa daran, von welcher Wichtigkeit die Müllabfuhr ist oder Kanalreinigung.
Die gegenwärtig noch funktionierenden Bewertungsverfahren lassen es einfach nicht zu, solchen unverzichtbaren Dienstleistungen ihren Wert zuzusprechen. Die Bewertungen sind nämlich nicht das Ergebnis des Leistungsvermögens, der Fähigkeiten und Intelligenz einzelner, sondern sind immer nur Bewertungen sozialer Prozesse, die nur mit einer sozialen Wahrscheinlichkeit auf einzelne Menschen verteilt werden.
Interessanterweise sind solche Argumente gar nicht neu, können aber nicht überzeugen, weil mit Argumenten eingespielte Bewertungsverfahren nicht geändert werden können. Also muss eine Gesellschaft, will sie an ihren selbst gemachten Ungereimtheiten nicht zugrunde gehen, eine Technik zulassen und verbreiten, mit der es gelingt, etwas verständlich zu machen, was ohne diese Technik gar nicht geht:
Bewertungergebnisse entsprechen einer sozialen Zufälligkeit, die keine Notwendigkeit und keine Ursache hat.
Erinnert mich an Dieter Bohlen, der auf den Vorwurf, er schreibe primitive Musik, stets entgegnete, daß er damit meist sehr „erfolgreich“ wäre und sie darum ja wohl nicht so primitiv sein könne. Auch ein soziales Bewertungsverfahren, das Bohlen als Bewertung seiner Leistung umdeuten will.
Voraussetzung all dessen ist die Kopierbarkeit des Bewerteten, ohne die die damit erst mögliche Wahrnehmbarkeit des selben für viele zugleich gar nicht stattfinden könnte. Müllmänner- und Kanalarbeiterarbeit ist nicht, bzw. erst in Form ihrer Beobachtung kopierbar. Eine Reportage über den einbeinigen unermütlichen Müllmann, der seine 7-köpfige Familie versorgt, könnte sich vielleicht in das Bewertungsverfahren einschleichen.
Bei Managergehältern wird zwar nix kopiert, aber die ohne Managerleistung stattfindende Vermehrung des von ihm zum Arbeiten losgeschickten/investierten Geldes wäre etwas ähnliches.
Ebenso beim ambitionierte Wissenschaftler, der oft zitiert wird und darum eine unbefristete Anstellung bekommt.
Kurz: Der zugeschriebene Wert unvervielfältigbarer Einzelleistungen wird immer geringer als der des von Vielen zugleich Beobachtbaren sein.
Das ist auf so vielen Ebenen selbstgefälliger Unsinn, um das Plagiat zu rechtfertigen, dass ich gar nicht weiß, wo ich anfangen soll (zumal es ja nicht Dein einziger geklauter Tweet ist).
„Denn gerade die Vielzahl der Weiterverbreitungsoperationen beweist ja nicht, dass es darum geht, mich mit Aufmerksamkeit zu bedenken, sondern den Witz.“
Auf Twitter sind Autoren mit den Texten verknüpft. Natürlich geht es auch um die Autoren, sogar sehr stark. Ich wünschte, es würde um die Texte gehen, das habe ich mehr als einmal deutlich geschrieben. Tut es aber nicht. Tweets bringen sehr starke Aufmerksamkeit für diejenigen, die sie verfassen, ansonsten wäre Twitter ziemlich unpopulär.
„Es ist Zufall und nur Zufall, dass die Bewertung dieses Witzes mit meiner Adresse verknüpft wird. Es ist ein soziales Geschehen, das keinen Urheber hat.“
Es ist kein Zufall, dass Du Tweets abschreibst. Du hast Dich bewusst dazu entschieden, fremde Texte unter Deinem Namen zu publizieren. Diese haben Urheber und ich für meinen Teil sehe Urheberschaft durchaus radikal, denn ich lebe von Ideen, die jeder mit ein paar Klicks kopieren könnte. Verhalten wie das hier entzieht Kreativen, Künstlern, Schreibern etc. die Lebensgrundlage. Nein, nicht der eine Tweet, sondern die hier zu Tage tretende Mentalität („es ist ein Geschehen“), mit der Du, statt die geklauten Tweets zu löschen, Dich der Verantwortung entziehst.
@Sebastian Baumer du verstehst von diesen Dingen mehr als ich.
Interessant, weil schwierig. Ich kann beiden Argumentationen folgen und in gewisser Weise zustimmen, und begreife trotzdem nicht, wie man sich das Leben so schwer machen kann.
Sebastian hat völlig recht damit, dass auf Twitter Text und Autor miteinander verknüpft sind: Um zu entscheiden, ob ich jemandem folgen will, lese ich seine letzten zehn, zwanzig Tweets im Hinblick auf eine mögliche Relevanz für mich. — Klaus hat aber dahin gehend ebenfalls recht, dass ich mich nicht um den Autor schere. Wenn mir die Tweets zusagen, folge ich.
Also was hat es dann mit den »Plagiaten« auf sich? Generell würde ich sagen, solange die Vergütungsfrage für Kulturschaffende nicht hinreichend anders beantwortet werden kann als bisher, wird es auch das Modell des Urhebers geben und daraus zwingend folgend sein Recht, Einkommen aus einer Kopie zu generieren.
Andererseits will mir die Strenge dieses Gedankens angesichts der Textmenge (140 Zeichen) und der Verbreitungsgeschwindigkeit auf Twitter nicht einleuchten, weil mir sofort das Beispiel vom Witz einfällt. (Gut, ich bin nun auch einer von diesen alten Säcken, die noch die Zeiten kennen, in denen sich Witze erzählt wurden. Bei Sebastian bin ich mir da schon nicht mehr sicher …) Aber was ich sagen will, läuft darauf hinaus, dass es kein Schwein interessiert, wer Urheber eines Witzes war. Der Witz wurde einfach immer weiter erzählt, weil er witzig war und dadurch Lachen und mithin Lebensfreude erzeugte.
Auf Twitter sehe ich das nicht groß anders. Ich wusste übrigens gar nicht, dass Du klaust, Klaus. Obwohl ich erst neulich beobachtet hab, wie Du ein abgewandeltes Sprichwort, das ich als Einleitung zu einem Blogpost genutzt hab (und das auch nicht von mir stammt und ohne dass ich Quellen benennen könnte) sofort vertwittert hast. Und ich habe mich darüber gefreut und mir gedacht: »sieh an, das gefällt ihm«. Ich wäre aber nie auf die Idee gekommen, das als Plagiat zu begreifen.
Warum also werden Mit/Teilungen auf Twitter mitunter (und glücklicherweise nicht von jedem) so streng betrachtet, als wären es weiß Gott was für »Werke«? Jeder Nutzer weiß doch, dass Twitter (und ähnliche Plattformen) lediglich der Mitteilung dienen. Die Auffassung, ein Minitext könnte »publiziert« worden sein, ist doch sehr abwegig. Als nächstes werden dann Gesprächsfetzen im Bus urheberrechtlich geschützt und dürfen nicht weitererzählt werden? Ich begreife einfach nicht, wie man sich das Leben so schwer machen kann. Genießt es doch! Begebt euch mal eine Weile aufs Land, nach Russland, das hilft.
Bin ich der einzige, der sich wieder kaputtlachen kann. Grosses Kino.
@Christoph Kappes – du bist nicht der einzige. Dass du das nicht merken kannst liegt daran, dass es für das Gelächter keine Öffentlichkeit gibt wie es auch keine für den Grund des Gelächters gibt.
Darf ich hierzu auch mal etwas sagen?
Für mich ist #TWITTER „soziales Atmen“ – mensch kann OHNE gar nicht (mehr) existieren. Ich twittere – also bin ich, das dürfte mensch getrost & ungestraft sagen.
Hinzu kommt, dass TWITTER für mich (gerade wegen der Beschränkung auf 140 Zeichen) eine mich täglich und stündlich herausfordernde #KUNST ist! Wenn ich twittere, dann vibriert in mir 1) meine Kreativität – als Herausforderung; und 2) ich twittere, um möglichst vielen anderen (mir vollkommen – mehr oder weniger – unbekannten) Menschen möglichst schnell möglich dicht NAHE zu sein. Wenn es sich machen liesse (geht aber nicht, weil die Twittermaschine dies als „aggressiv“ bewertet!), dann würde ich einen jeden einzelnen TWEET auf meiner TL sofort (und wenn es nur minimal ist) #beantworten! Aus reiner #LUST am #ANTWORTEN!
Ah! Was für ein Spaß!
Eine kurze Ergänzung zu dem bereits Geschriebenen: Es ist ein Irrtum anzunehmen, das Individuum sei, quasi aus sich selbst heraus, originärer Schöpfer von auch nur irgend etwas. „Alles ist bereits gesagt worden. Das tolle, neue baut auf dem Alten auf“ bemerkte jemand sehr richtig, dessen Name mir schon vor einer Ewigkeit entfallen ist. Im Internet erleben wir eine herrliche Polyphonie, die, wie @kadekmedien schrieb, doch vor allem zu einem einlädt: Zum Genießen und zum Mitgestalten.
Und haben wir uns einmal gefragt, wie die genialen, originären Werke früher so entstanden sind? Sagen wir der Einfachheit halber: Vor dem ganzen Geniediskurs, der mit seinen etwa 200 Jahren ja noch relativ jung ist? Heiko Idensen:
„Am Anfang war ein Text? Und der Text generierte andere Texte, überlagerte sich mit Bildern, Metaphern, Briefen, Schriftrollen, Traumresten, Einritzungen … Jemand hatte das alles gehört und aufgeschrieben: die Märchen, die Mythen des Alltags, abgeschrieben und heruntergeladen aus dem Internet. Die Wolken, die vorüberziehen. Andere hatten weitergeschrieben, korrigiert, gelöscht, umgeschrieben, übersetzt, Briefe verschickt, Reden gehalten, Lieder gesungen, Theaterstücke aufgeführt … aber Autoren, die hat es niemals gegeben, nur Texte …“ (http://www.netzliteratur.net/idensen/lexikon.html). (Natürlich entbehrt es nicht einer gewissen Komik, dass ich nun explizit Autor mit Quelle zitiere, aber das bin ich.)
Ich will den Kreativen dieser Welt nicht ihre Urheberrechte wegdiskutieren, auch wenn es bereits viele erfolgreiche Beispiele von Menschen gibt, die genau dies gemacht haben und sich (dennoch? gerade weil?) einer gewissen Berühmtheit erfreuen. Aber ein Urheberrecht auf einen Tweet anmelden? Da würde ich dem wütenden Herrn ein anderes Medium für seine sicher genialen Einfälle, die angeblich so eng mit seiner Person verknüpft sind, empfehlen.
Zuletzt noch ein Copyright-Hinweis: Dieser Kommentar steht unter der „Do whatever the fuck you want online“-Lizenz. :))