Post-Privacy ist ein unverzichtbares Übertreibungsphänomen @gorgonobserver @kadekmedien
Wer sich für die Funktionsweise von sozialen Systemen interessiert kann es nicht einfach dabei belassen, ihnen und den von ihnen eingefangenen Menschen Verrücktheit zu attestieren. Denn was wäre für den Fall, dass man zwar die Verrücktheit, den Wahn, die Abseitigkeit sachlich und überzeugend dargelegt hat; es schließlich – wie @gorgonobserver in dem angezeigten Arikel dies tut – auch nicht versäumt hat, gut gemeinte und verständige Vermeidungsratschläge zu erteilen und dennoch feststellen muss, dass sich an diesen Verrücktheiten gar nichts ändert? Das lässt den Schluss zu, dass entweder die Verrücktheit gar nicht zutreffend beschrieben wurde oder, dass die Verrücktheit zwar treffend beschrieben wurde, sie aber ihrerseits auf eine andere Verrücktheit trifft, nämlich auf die Verrücktheit derjenigen, die meinen, sie könnten über die Verrücktheiten anderer besser und zuverlässiger informiert sein als diese über sich selbst.
Eben dies ist der Denksport-Fehler von @gorgonobserver. Er weiß es nur besser, aber eine bessere Position der Urteilsbildung hat er nicht, da er nicht bemerkt, dass diese ganze Post-Privacy-Diskussion auch nur eine ganz normale Besserwisserei ist. Es geht dabei nur um die Rechtfertigung für eine Position des besseren Wissens und dies unter der Voraussetzung, dass gerade aufgrund der in dieser Diskusssion zirkulierenden Differenzen eine bessere Position gar nicht mehr reflektierbar ist. Ein bessere Postion, die also Privilegien des Exkludierens unerwünschter, weil nicht passender Beiträge in Anspruch nehmen kann – eine Position, die also in eigener Sache zu ihrem Vorteil richten könnte, ist ja nicht mehr möglich. Alle publizieren alles und keiner kann das verhindern und keiner will das.
Die gegenteilige Möglichkeit bestimmte im Prototyp des faustischen Gelehrten die Differenzierung eines Systems der Wissensproduktion. Der faustische Gelehrte sah sich selbst das exklusionsfähige- und exklusionsberechtigte Genie, das eigenmächtig und autonom darüber befinden könnte, was der Gewinnung einer Disziplin zuträglich ist und was nicht. Der Differenzierungsprozess hat diese Imagination von Genalität nun gar nicht abgeschafft, sondern trivialsiert, sie auf alle Beteiligten mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit sozial gleich verteilt. Moderne Systeme der Wissensproduktion haben diese faustische Genialität kolossal trivialisert und an sich gebunden und sorgen nun dafür, dass Trivialgenies auf Trivialgenies treffen, von denen jeder eine eigene, eine bessere, eine exklusive Urteilsposition behaupten kann. Und da dies jeder kann, geht es nicht mehr.
Also müsste man doch die Beobachtungsperspektive ändern und fragen, warum es trotzdem weiter geht, wenn es nicht mehr weiter geht? Der Grund scheint mir zu sein, dass erstens auf diese Weise überhaupt erst dieser historische Differnzierungsprozess für die ganze Gesellschaft in Erfahrung gebracht wird, dass also erst so gelernt wird, worin eigentlich Problem besteht; und dass zweitens, was speziell für den Fall dieser intellektuell mageren post-privacy-Diskussion gelten mag, das Problem auf dem Umweg der anfänglichen Akzeptanz von Unmöglichkeiten seine möglichen Lösungen sucht.
Denn wenn auch @gorgonobserver Recht haben mag mit dem Argument,
dass niemand anderes in den eigenen Kopf hineinschauen kann, selbst wenn man von anderen beobachtet wird. Es gibt also immer noch einen Bereich uneingeschränkter Privatheit. Den entdeckt man aber erst, wann man auch mal sich selbst beobachtet. Dann entdeckt man auch, dass die Öffentlichkeit nicht ganz so total ist, wie man vielleicht glaubt.
so erklärt das eben nicht den Widerwillen, solche Argumente ernst zu nehmen. Da nun allein die Systeme, sofern sie Kommunikation erzeugen, über sich selbst irrtiert sind und nicht alles andere, muss gefragt werden, warum Unmögliches als Möglichkeit für die Kommunkation irritabel wird.
Die Antwort könnte lauten: diese post-privacy-Diskusison ist die Lösung für das Problem der Rechtfertigung einer Publikationspraxis unter der Voraussetzung der Internetkommunikation, die es möglich macht, dass Öffentlichkeit immer schwerer herzustellen ist, wenn niemand mehr daran gehindert werden kann, sich an ihrer Herstellung zu beteiligen. Denn diese Art der Kommunikation potenziert die Aufmerksamkeitsdefizite massenmedialer Kommunikation ins Unvorstellbare. Und damit dennoch Anschlussfindung geschieht müssen geeignete Übertreibungsphänomene konstruriert werden, die im Selektionsgeschehen von Informationsverarbeitungsprozessen immer noch Focussierung, Themenfindung, Personenbeteiligung, Thesen, Argumente und eventuell Kompetenz hervorbringen, weil in solchen Fällen Öffentlichkeit vielleicht noch gefunden werden könnte. Jedenfalls muss es ausprobiert werden um zu testen, ob es geht. Es geht gleichsam um eine Art „Marktschreier-Effekt“, mit dem die Aufmerksamkeitsdefizite der massenmedialen Sinnproduktion überbrückt werden.Verständige Argumente, die empfehlen, darauf zu verzichten, nutzen, wenn sie sich als anschlussfähig erweisen, entsprechend nur parasitär die Verminderung von Aufmerksamkeitsdefiziten, weil sie selbst dazu nur wenig beitragen können.
Andere solche Übertreibungsphänomene sind: Massenabmahnungen, Totalüberwachung, Internetrollerei u.a.