Über die moderne Form der Empirie 6
von Kusanowsky
zurück / Fortsetzung: Dass Manipulation (allgemein: Arbitrarität) ein derart wichtiges Problem für die moderne Gesellschaft werden konnte, hängt wesentlich mit den durch die Dokumentform entstandenden Strukturen der Rechtfertigung zusammen. Anders als die Gesellschaft des Mittelalters kann in der modernen Gesellschaft nicht zwischen legitimem und nichtlegitimem Wissen unterschieden werden. Stattdessen beruht Wissen auf Referenzierbarkeit, die ihrerseits an Instanzen der Nichtanstatbarkeit, der Echtheit, der Objektivität, der Reinheit, der Natürlichkeit, der Kontingenzlosigkeit eines Ansichseins angewiesen ist, damit Abweichung als Lösung behandelt werden kann. Denn Abweichung als Lösung zu behandeln bedeutet, ein Recht auf Differenz einzuführen. Entsprechend ergeben sich daraus Rechtfertiungsnotwendigkeiten, die als Motor die Differenzierung vorangetrieben haben und welcher, wenn denn die Metapher des Motors passend erscheint, eine Problemsteigerung bewirkte. Wenn Abweichung kein Problem mehr ist, sondern die Lösung, dann müssen Hindernisse entstehen, durch die dieses Problem überhaupt behandelbar wird.
Für die moderne Gesellschaft konnte daher der Umgang mit Massenmedien ein geeignetes Hindernis werden. Denn Massenmedien, und ansatzweise gilt das auch noch für das Internet, müssen leisten können, dass räumlich verstreut lokalisierte Individuen und Dokumente ins kommunikative Geschehen einbezogen werden. Die Menschen müssen irgendwie zu Anschlussselektionen motiviert und zur Fortführung der Kommunikation verleitet werden, was umso schwieriger wird, da überhaupt erst herausgefunden werden muss, worum es eigentlich geht. Damit entsteht das Problem der Erreichbarkeit, das sich als Anonymität bemerkbar macht und welche insbesondere dann größer wird, wenn der soziale Druck der Kopräsenz wegfällt, wenn also Kommunikationsteilnehmer nicht durch direkte Interaktion zur Annahme von Kommunikationsofferten gedrängt werden, sondern weit entfernt an einem Schreibtisch oder vor einem Bildschirm sitzen und ihre Beteiligungsbereitschaft jederzeit nach eigenem Ermessen abbrechen können. Damit werden Schwierigkeiten der Referenzierbarkeit enorm gesteigert.
Hinsichtlich der strukturellen Kopplung der Kommunikation zwischen Individuen gilt also nicht so sehr, dass Schrift, Buchdruck und elektronische Medien Kommunikationsinhalte transportieren; vielmehr geht es darum, dass eine Ermutigung zur Beteiligungsbereitschaft durch die spezifische Selektivität des Massenmediums erfolgt. Insofern könnte man die Überlegung anstellen, die besagt, dass der Kontingenzraum von Verbreitungsmedien nicht nur einen Unsicherheitsraum für die Annahme von Kommunikationsangeboten darstellt, sondern auch einen Möglichkeitsspielraum für die Wahl von Anschlussselektionen. Es sind die gängigen Verbreitungsmedien selbst, die eine Lösung des Erreichbarkeitsproblems bereitstellen, das durch ihren Einsatz erst hervorgerufen wird. Sie steigern einerseits zwar die innerhalb ihrer Sequenzialität stets vorhandene Ungewissheit, weil der Adressat sich jederzeit enthalten, das heißt das Buch beiseitelegen, den Brief unbeantwortet lassen, den Sender wechseln, den Computer ausschalten oder eine andere Seite anklicken kann. Gleichzeitig eröffnet der Einsatz von Verbreitungsmedien aber auch die Möglichkeit, sich zurückzuziehen, um Kommunikationsofferten eingehender zu prüfen, nachzudenken, sich zu vergewissern, zu beraten, weitere Quellen hinzuzuziehen und das Anschlusshandeln auf anders orientiertes Handeln zwischenzeitlich umzulenken. Alle Referenzierungen werden damit einem Gedächtnisdruck ausgesetzt, der das Vergessen immer wahrscheinlicher macht.
Verbreitungsmedien führen entsprechend nicht nur zu einer räumlichen und zeitlichen Entkopplung von Mitteilung und Verstehen, sondern auch zu einem enormen Anstieg von Anschlussmöglichkeiten, wodurch sie die im Rahmen der Kommunikation vorhandenen Kontrollkapazitäten erweitern, allerdings nicht im Sinne einer determinierenden Steuerung des kommunikativen Geschehens, sondern im Sinne einer Reflexivitätssteigerung. Die Ausweitung der Kontrollkapazität beruht auf der Vermehrung der Adressaten, den erweiterten Vergleichsmöglichkeiten und der Möglichkeit, jederzeit zu anderen Themen, Quellen, Behauptungen, Ansätzen, Theorien, Angeboten, Partnern, Kooperationen usw. wechseln zu können. Es sind diese erweiterten Möglichkeiten, die freilich nicht erst mit dem Internet eingesetzt haben, die eine zunhemende und nicht rückgäng zu machende Wirkung auf die Zerrüttung der modernen Erfahrungsweise haben. Werden durch Verbreitungsmedien massenweise Dokumente erfolgreich verbreitet, führt dies notwendigerweise zu einem weiteren Anstieg von Verbreitungsnotwendigkeiten weiterer Dokumente. Das Steigert die Schwierigkeiten der Referenzierbarkeit, aber erleichter bei großer eben doch das Gelingen von Abweichung. Aber immer gilt, dass Manipulation das Skandalon für die Differenzierung der Rechtfertigungsfähigkeit bleibt und erhalten bleiben muss, solang ein Recht auf Abweichung noch nicht überall selbstverständlich ist.
Zu all diesen exakten und semantisch sehr eleganten Ausführungen habe ich nur eine einzige, aber eine sehr durchschlagende #Leseempfehlung:
„Streß & Freiheit“ von Peter Sloterdijk, Eine Rede, Sonderdruck (60 Seiten) bei edition Suhrkamp, Berlin 2011).
„Die unberührte Wirklichkeit scheint in dem Maße, in dem das Symbol-Denken und -Handeln des Menschen reifer wird, sich ihm zu entziehen. Statt mit den Dingen selbst umzugehen, unterhält sich der Mensch in gewissem Sinne dauernd mit sich selbst. Er lebt so sehr in sprachlichen Formen, in Kunstwerken, in mythischen Symbolen oder religiösen Riten, daß er nichts erfahren oder erblicken kann, außer durch Zwischenschaltung dieser künstlichen Medien.“ Ernst Cassirer, An Essay on Men 1956
http://rechtfertigung.wordpress.com/2014/02/27/zur-debatte-um-den-tugendterror-reflexive-rechte-und-logische-rechtfertigung/
Hier in diesem Blogartikel findet sich eine hübsche und übersichtliche rechtfertiungstheoretische Zusammenfassung für die Kommunikablität von Vermeidungsstrukturen, die entscheidend aus dem sozialen Selbstverwirklichungsprozess transzendentaler Subjektivtät hervorgegangen sind und diesen auf der andere Seite determinierten.
Das besondere daran ist die augenscheinliche Evidenz der Darlegungen. Diese Evidenz spricht nicht für die Richtigkeit, die Wahrheit oder für die Vernunft der Überlegungen, sondern zeigt, wie trivial, wie gewöhnlich diese Überlegungen geworden sind. Denn das Interessante ist ja, dass sie gar nicht zustimmungspflichtig sind. Aber wenn diesen Überlegungen widersprochen wird, indem Abweichung gerechtfertigt wird, dann folgen entsprechende Ausführugen in etwa dem selben Schema wie dem, das sich in diesen Ausführungen zeigt.
So macht sich die moderne Form der Erfahrung evident: Durch Abweichung, durch Widerspruch, durch Kritik (auch durch die Selbskritik ihrer Form). Nimmt man diesen Punkt ernst, dann versteht man auch die Unterscheidung zwischen Rechtfertigungs- und Erklärungstheorien. Rechtfertigungstheorien profitieren vom Erfolg solcher Formen, die ehedem zur Erklärung von etwas anderem entstanden sind, sich im Laufe der Zeit operativ auf sich selbst richten und dann nur Rechtfertigung zulassen, hier in dem Fall: Transzendentaltheorie. Sie war ehedem eine Erklärungstheorie. Und sobald sie sich sozial autoreferenziell auf sich selbst bezieht, weil sie es nur noch mit sich selbst und ihren Derivaten zu tun bekommt, schlägt sie um in die Anforderungen zur Selbstrechtfertigung, weil durch die Evolution die Gegengründe abgeschafft werden, derentwegen transzendentaltheoretische Erklärungen zunächst wenig erfolgreich, aber dann immer plausibler werden konnten, weil die Gegenform (im Luhmannschen Sinne: das Medium) immer schwächer wird.
Interessant ist in diesem Zusammenhang auch der Gedanke, wie durch die Evolution, die ihre erfolgreichen Formenbildung trivialisert, sie also in ein Medium zerfallen lässt, die Erfahrungsbedingungen verändert und abgeschafft werden, durch die die Formenbildung dieser Art von Empirie notwendig wurde. Das Ergebnis ist eine Erbschaft, von der niemand weiß wo wie herkommt, wer sie hinterlassen hat. Die Wege des Herkommens werden durch den Erfolg verschleiert, verblendet, verwischt, wodurch sich im Ergebnis der Eindruck der „Selbstverständlichkeit“ (Natürlichkeit, Normalität, Unhintergehbarkeit) ergibt.
Stellt man dies in Rechnung, wird man viel leichter verstehen wie schwer es ist, dass sich solche Formen ändern, und man begreift eher das Erstaunen darüber, wenn es doch geschieht.
Dazu ein paar Worte: „Transzendentaltheorie. Sie war ehedem eine Erklärungstheorie“ – Das ist philosophiehistorisch nicht ganz korrekt. Die Transzendentalphilosophie – vornehmlich bei Kant – greift zunächst einmal wesentlich das ‚de jure‘-Moment der antiken Reflexionslogik Platons und Aristoteles‘ wieder auf. Die transzendentale Logik Kants ‚erklärt‘ demgemäß nichts, sondern sie rechtfertigt etwas, nämlich die Möglichkeit empirischer Urteile mit Objektivitätsanspruch. Die Dialektik Hölderlins, die Hegel später zur allzu bekannten ‚hegelschen Dialektik‘ umformen wird,expliziert reflexive Strukturen bei Fichte und in kritischer Auseinandersetzung mit Spinoza. Der Kern ist also logisch, nicht etwa ontologisch, was ‚Transzendentaltheorie‘ und ‚erklären‘ implizieren. Sie richten sich nicht unbedingt nur ’nach einiger Zeit‘ auf sich selbst, sondern oft schon in ein und demselben Text.
– Im Sinne meines Textes kann man auch nicht sinnvoll vom „sozialen Selbstverwirklichungsprozess transzendentaler Subjektivtät“ sprechen, weil das ‚transzendentale Subjekt‘ eben nichts anderes ist, als der Umstand, dass man an jeden Inhalt logisch einen Akt anhängen können muss. Es ist ’soziales Subjekt‘ erst dann, wenn es als ein solches – im Rahmen einer Geschichte und einer Gesellschaft als Immanenzen, in denen es sich synchron und diachron bewegt – ausgelegt wird. Dementsprechend unterliegt die transzendentale (oder besser: reflexionslogische, denn ‚transzendental‘ ist Reflexionslogik schon im Hinblick auf empirische Welterschließung, schon thematisch gerichtet) Rechtfertigung auch keiner ‚Evolution‘ oder sonstigen ‚Genese‘. Auch diese wesentlich historische Betrachtung finden schließlich innerhalb eines Logos statt, der verschiedene ‚transzendental‘ erscheinende Logoi hintereinanderstellt und dann eine Entwicklungslinie konstruiert.
– Betrachtet man das aber als einen Evolutionsprozess – platonische Dialektik verfällt zu aristotelischer Ontologie und formaler Logik, stoischer Metaphysik, pyrrhonischer Skepsis und wird schließlich in Form einer reflexiven Theologie von Plotin wieder aufgenommen – bestimmt, gemeinsam mit der theologischen Lektüre Aristoteles‘ weite Teile der mittelalterlichen Diskussion, wird in der Renaissance unter dem Aspekt des ‚Hervorgangs‘, ‚Entstehens‘ und ‚Schöpfenkönnens‘ wiederentdeckt, immer noch ontologisch, aber als eine grundlegende Fähigkeit des Menschen, gerinnt wieder zur bloß formalen Mathesis und zu frühneuzeitlichen Totalisierungsversuchen – kulminiert schließlich in der Aufklärung und in der klassischen deutschen Philosophie, immer in Auseinandersetzung mit mechanistischen, positivistischen, reduktionistischen Weltbildern, explizit Reflexivität – fällt kurz danach aufgrund ontologisierender Lektüren wieder in sich zusammen, welche Deflation erst die Humanwissenschaften hervorbringt, die sich an den reflexiven Strukturen als Gegenständen nähren – bringt dann, mit den philosophischen Publizisten, eine kritische Reaktion auf den Reduktionismus (Marx, Kierkegaard, Nietzsche) usw. In DIESER Evolution kann man so etwas erkennen wie das ‚Atmen‘ der menschlichen Gesamtvernunft. Die Philosophiegeschichte ist kein linearer Prozess der stetigen Selbstverbergung (der entsprechende Diskurs ist gute 2600 Jahre alt). Das ist der Mythos.
– Und schließlich sind ‚Normalität‘, ‚Natürlichkeit‘ und ‚Unhintergehbarkeit‘ nicht dasselbe. – Aber Sie haben recht: Rechtfertigung ist im Prinzip trivial. Sie braucht keine großen Theorielinien. Sie braucht nur eine Aufmerksamkeit auf die eigene Rede 🙂
Vielen Dank für diesen bemerkenswerten Kommentar.
„Rechtfertigung ist im Prinzip trivial. Sie braucht keine großen Theorielinien. Sie braucht nur eine Aufmerksamkeit auf die eigene Rede“
Ein theoretisches Verständnis von Theorien ist nirgendwo eindeutig festgelegt. Theorietheoretisch unterscheide ich zwischen Rechtfertigungs- und Erklärungstheorien. Diese Unterscheidung ist – wie alle anderen auch – kontingent gewählt und berücksichtigt den Umstand, dass ein Theoriebegriff nicht nur einseitig verwendet werden kann oder verwendet werden müsste.
In diesem Zusammehang ist die Unterscheidung von Erklärungstheorien und Rechtfertigungstheorie eingelassen in die Unterscheidung von Medium und Form, wie sie von Niklas Luhmann (nach Fritz Heider) expliziert wurde. Für die moderne Gesellschaft fungieren Rechtfertigungstheorien als spezifische und erfolgreiche Form der Erfahrung, die sich aus der Unterscheidung von Referenzierbarkeit/Nicht-Referenzierbarkeit ergibt und welche sich aus einem Medium heraus differenziert hat, das aus Elementen von Erklärungstheorien besteht. Diese Form definiere ich für den Fall der modernen Gesellschaft als „Dokumentform“. In diesem Fall handelt es sich um Elemente im Medium transzendentaltheoretischer Konzepte, die auch bei Kant – und dort sicher prominent – ihren Niederschlag fanden, aber dort nicht zuerst und nicht von allgemeiner Bedeutung. Zu den Elementen, die im Medium lose verkoppelt sind, zähle ich folgende Konzepte: Kritik, Vernunft, Wahrheit, Subjekt, Subjektivität, Objektivität, Erfahrung, Theorie, Apriori, Vertrauen, Recht, Wahrnehmung, Forderung, Person, Menschenwürde, Macht u.a. Die Verkoppelung folgt einem Beobachtungsschema, das der gewählten Unterscheidung entspricht und auf diese Weise autokatalytisch funktioniert, um ein spezielles Problem zu lösen, nämlich: die Vertrauensgewinnung in die gesellschaftlichen Erfahrungsbedingungen funktionaler Differenzierung (als Alternative zum Konzept des Zivilisationsprozesses von Norbert Elias).
„Ein theoretisches Verständnis von Theorien ist nirgendwo eindeutig festgelegt“ – Wer sagt das? 🙂 Dem widerspreche ich: ‚theorein‘, übersetzt als ‚Schau‘, betrifft seit Heraklit die Achtsamkeit auf den Logos, weniger dramatisch: Die Achtsamkeit auf das, was man anderen gegenüber tut, wenn man ihnen gegenüber etwas behauptet, den Hinweis darauf, dass das Gemeinsame von allen, die überhaupt etwas miteinander verhandeln, eben diese Setzungen und Verhältnisse sind, auf die und mit denen sie sich auf etwas außerhalb oder innerhalb der Rede beziehen. Insofern kann gut und gerne davon gesprochen werden, dass das Tertium sämtlicher Theorie ist: dass eine Theorie ein bestimmter Logos, mit bestimmten Begriffen in bestimmten Begriffsverhältnissen ist. Und genau das kann man beschreiben, ohne von einem ‚Textsinn‘ HINTER dem Text ausgehen zu müssen; in der Tat trifft ein solches Verständnis sogar auf die allermeisten philosophischen Texte zu: es sind Explikationen impliziter, aber für Leser und Autor gleichermaßen sichtbarer Voraussetzungen. Und dann kann dieser Skeptizismus, den Ihr erster Satz zum Ausdruck bringt (wie auch die Behauptung „wie alle anderen auch“ – das gilt nicht schon, weil Sie es sagen) – die dogmatische Behauptung einer prinzipiellen ‚Uneindeutigkeit‘ – aufgegeben werden. Denn welche Theorie auch immer betrachtet wird, sie ist eindeutig darin: (1) dass sie Logos ist, (2) dass sie dieser bestimmte, jeweilige Logos ist. Wäre sie ein anderer, wäre sie nicht diese Theorie.
„Theorietheoretisch unterscheide ich zwischen Rechtfertigungs- und Erklärungstheorien.“ – Das finde ich dann sinnvoll, wenn diese beiden nicht in einen Gegensatz gestellt werden. Wenn man z.B. damit meint: ‚Erklärungstheorien‘ ziehen ontologische oder formallogische Axiome heran, um eine Frage zu beantworten und sind bestenfalls implizit reflexiv; ‚Rechtfertigungstheorien‘ befragen noch diese Axiome. Die Unterscheidung wird dann problematisch, wenn noch die Rechtfertigung einer Theorie wieder nur eine ‚Erklärungstheorie‘ sein will (die also von einer Psyche, einer Geschichte, einer Gesellschaft, einem Gott, einem Geist, als sachliches Explanandum ausgeht). Dann wird das Ganze regressiv oder dogmatisch. Umgekehrt gibt es ‚Erklärungstheorien‘ – und ich würde sagen: Ihre Theorietheorie fällt darunter – die versuchen, etwas zu erklären, INDEM sie ihre Erklärung rechtfertigen. Diese Unterscheidung kann also allenfalls der erste Schritt und nicht schon das letzte Wort sein, will ich meinen.
Ihre Restbetrachtung zur Genese von Rechtfertigungstheorien aus Erklärungstheorien ist interessant, dreht aber den historischen Bestand gewissermaßen auf den Kopf: An ‚Erklärungstheorien‘ (in ihrer Diktion) z.B. der Vorsokratiker wird sehr schnell die reflexive, also: logische Problematik entdeckt (vgl. Sie mal den Zusammenhang von Anaximander und Parmendies; von Heraklit und Empedokles), die dann sogleich wieder ontologisiert und wieder logisch differenziert wird und so fort. Wenn man dann nicht nach der Henne und/oder dem Ei sucht, sondern sich die jeweiligen Auslegungen am Text ansieht, dann kann man feststellen, dass seit der Antike sowohl Erklärungstheorien zu Rechtfertigungstheorien ausgeformt haben, als auch umgekehrt Rechtfertigungstheorien ALS Erklärungstheorien (miss)verstanden worden sind. Und das ist am Einzelfall festzustellen und nicht von einer ahistorischen Warte aus, die die historisch vorliegende Theorietradition vergisst. – Interessant ist Ihr Bezug auf Luhmann, denn man kann seine Systemtheorie natürlich – von George S. Brown und Maturana her – als eine Theorie reflexiver Immanenz begreifen, die dann allerdings Theoriefiguren wiederholt, die seit den Vorsokratikern bekannt sind: Die Explikation der Grenze ohne Außen, das ‚Zugleich‘ der Hinsichten von Element und Operation, all das gehört zum historischen Grundbestand der reflexiven Philosophie (werfen Sie mal einen Blick in Plotins Enneaden). – Dass Ihre These vom ‚evolutionären Erfolg‘ einer Theorie nicht stimmen kann, können Sie daran erkennen, dass die leistungsfähigste Form menschlicher Rechtfertigung – der Bezug auf den gemeinsam a priori geteilten Logos als ‚Dass‘ (und nicht als ‚Was‘) – heute wieder als Ontologie und Metaphysik gehandelt und Luhmann in der Philosophie als Konstruktivist und Formalist missverstanden wird. Ich denke, die ‚Gedankenevolution‘ hat mit allerlei Teleologien und Essentialismen zu kämpfen, die jahrtausendelang den Stoff für philosophische Kritik abgegeben haben.
Wo ich ein recht großes Problem sehe, das ist ihr Begriffsessentialismus: Denn „Kritik, Vernunft, Wahrheit, Subjekt, Subjektivität, Objektivität, Erfahrung, Theorie, Apriori, Vertrauen, Recht, Wahrnehmung, Forderung, Person, Menschenwürde, Macht“ haben zwar, je nach überliefertem Gebrauch, ein gewisses Spektrum an möglicher Bedeutung, aber natürlich bedeuten sie nicht bei jedem Philosophen dasselbe ALS BEGRIFF, nur weil er dasselbe BEGRIFFSWORT gebraucht. Insofern ist dieses ‚Medium‘ also nur eine Fiktion von Ihnen; in philosophischen Texten kann ‚Kritik‘, ‚Sprache‘, ‚Apriori‘ usw. recht Unterschiedliches bedeuten, weil philosophische Texte eben vordergründig über logische und nicht über ontologische Verhältnisse sprechen. D.h.: Es gibt nicht noch eine geheime Asservatenkammer mit allen philosophischen Begriffen, die jenseits Ihres bestimmten Gebrauchs etwas bedeuten. Sondern es gibt nur die Pluralität von Logoi, die diese Begriffe in jeweiligen und bestimmten Kontexten gebrauchen und ggf. – davon ist erst einmal auszugehen – verschieden gebrauchen. Nicht einmal die Berufung auf denselben Philosophen sichert denselben Begriff. Die ‚lose Verkoppelung‘ findet in philosophischen Texten nicht theorieatomistisch statt, sondern in einer – teilweise sehr eigenen und deswegen nur durch intensives Textstudium zu durchschauenden – Explikationslogik. Dass irgendwelche Epigonen dann versuchen, Kantianer zu spielen, indem sie von einem transzendentalen Subjekt daherschwafeln, ohne jemals verstanden zu haben, wie Kant diesen Begriff gebraucht (und das auch mehrfach explizit sagt), dafür kann Kant ja nichts. Umgekehrt sehe ich dann auch erst dort den kritischen Einsatz Ihrer Unterscheidung: In der platten epigonalen oder kritisch-affektiven Auslegung philosophischer Theorien. – Interessant könnte für Sie sein, dass philosophische Probleme oft dann gelöst sind, wenn sie richtig gestellt sind – ein weiterer Hinweis darauf, dass Theorien in sich selbst verwickelt sind und möglicherweise auch dann, wenn sie glauben, über Gegenstände zu sprechen, eigentlich über Ihre eigenen Verhältnisse sprechen. Wir beide sollten in jedem Fall im Gespräch bleiben 🙂
„Interessant könnte für Sie sein, dass philosophische Probleme oft dann gelöst sind, wenn sie richtig gestellt sind“
Das beeindruckt mich sehr. Darüber sollten wir tatsächlich in ein richtiges Gespräch kommen.
Sehr gern. Schreiben Sie mich an, wenn Sie Zeit und Lust haben, das außerhalb zu besprechen, per Skype oder in einem Kurzmail-Chat.