Differentia

Zeit und Handlung – Eine vergessene Theorie #systemtheorie

Zeit und Handlung – Eine vergessene Theorie von Niklas Luhmann

Im Werk von VAUVENARGUES (1715-1747) findet sich der Vorschlag, Handlung zu definieren als Gegenbewegung gegen den Zeitstrom, die dadurch notwendig wird, daß die Gegenwart in jedem Moment entschwindet.
Zu seiner Zeit war dies eine wenig erfolgreiche Theorie, da damals moralistische und später utilitaristische Begriffe des Handelns bevorzugt wurden. Die dann anschließende soziologische Theorie der Handlungssysteme hat sich mit einer Kritik des Utilitarismus begnügt und hat nicht auf Vorgängertheorien zurückgegriffen. Sie ist niemals zu einem ausreichenden Verständnis der Beziehung zwischen Zeit und Handlung gelangt. Anhand dieser historischen Fallstudie werden einige Probleme der Wissenssoziologie und der Handlungstheorie zur Diskussion gestellt. Vor allem wird gezeigt, daß Theorien mit inkommensurablen begrifflichen Grundlagen (Handlung als Bewegung, Handlung als Ereignis) gleichwohl verglichen werden können, und es wird vorgeschlagen, für Zwecke der Handlungssystemtheorie das Subjekt/Handlungs-Schema durch das Zeit/Handlungs-Schema zu ersetzen.

Zeitschrift für Soziologie, Jg. 8, Heft 1, Januar 1979, S. 63 -81.

hier gefunden: http://www.bookmarss.de/karte.php?q=1000

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Über die moderne Form der Empirie 4

zurück / Fortsetzung: Wenn man dem Gedanken folgen will, dass die Empirieform der modernen Gesellschaft nicht mehr verlässlich ist, weil sie aufgrund ihrer trivialen Verwendung wiederum in ein Medium zerfällt, das auf Provokationen zur Findung neuer Formen angewiesen ist, dann liegt zunächst die Überlegung nahe, dass eine andere Form der Empirie auch begleitet ist von der Herausbildung einer anderen, einer nächsten Gesellschaft. Wenn ich zwar auch nicht glaube, dass eine „nächste Gesellschaft“ wie dies neben Dirk Baecker auch andere versuchen, nach den Möglichkeiten der Dokumentform beschrieben werden kann, so möchte ich dennoch vermuten, dass die Herausbildung einer noch unbekannten, nicht sehr deutlich, aber in Konturen doch erkennbaren Form sozialer Empirie stattfindet, die mindestens die Katastrophe der bekannten Form bereits eingeleitet hat und wenigstens die Erkenntis aufdringlich macht, dass die Form der Empirie, durch die sich die moderne Gesellschaft selbst beschreiben und beobachten konnte, nicht mehr sehr verlässlich ist.

Entprechend möchte ich in etwas anderer Wendung als Baecker annehmen, dass es einen Zusammenhang zwischen der Durchsetzung eines jeweils neuartigen Verbreitungsmediums und einer diesem Verbreitungsmedium zugeordneten primären sozialen Empirieform gibt, die einerseits die Autopoiesis einklammert, andererseits gerade dadurch als Treibstoff der autopoietischen Prozesse fungiert. Die Einführung der Schrift, des Buchdrucks und schließlich die Einführung der vernetzten Computer könnte man sich demzufolge als Katastrophen, als dämonische Erscheinungen vorstellen, die es einem System ermöglichen zu überleben, obwohl es die Grundlage seiner Funktionsprinzipien bereits zerrüttet hat. Insofern reagiert das System auf das Auftreten einer Störung, die alle seine Parameter überfordert, indem es sein bislang als erfolgreich erprobtes Beobachtungsschema als vollständig kontingent durchschaut und auf eine andere Ordnungsebene durch Auswechselung seines Selbstbeobachtungsschemas übergeht. Das ist möglich, weil dieses neue Beobachtungsschema selbst latent den Zerrüttungsprozesses betrieben hatte, aber dadurch einen Strukturschutz gewährleisten konnte, der die immer wieder kehrenden Fehlerbehandlungsroutinen weiterhin defizitär konditionierte und alles weitere auf die Zukunft verlegte. Für das dokumentarische Beobachtungsschema war diese Fehlerbehandlungsroutine die ständige Skandalisierbarkeit von Manipulation, bzw. fortlaufende Irritionen über nicht zu vermeidende Arbitrarität, was gerade durch Vermeidung immer nur zur Steigerung der Manipulationsmöglichkeiten und der Möglichkeiten ihrer Aufdeckung führte, ohne, dass im dokumentarischen Beobachtungsschema dafür ein Ende gefunden werden konnte.

Manipulation, Fälschung, Unterdrückung, Verheimlichung, Verzerrung von Dokumenten musste immer wieder zum Anlass von Skandalen genommen werden, weil das Dokumentschema selbst als Lösung eines abgelegten Beobachtungsschemas erfolgreich entwickelt werden konnte. Denn der Buchdruck setzte das monumentarische Beobachtungsschema der alten Gesellschaft als vollständig kontingent voraus. Durch das monumentarische Beobachtungsschema, das mit der Unterscheidung von Wahrheit und Nichtwahrheit operierte, war Abweichung von diesem Schema ausgeschlossen, weil der mittelalterliche Wahrheitsbegriff nur die Einseitigkeit eines Wahrheitswertes zuließ, womit Abweichung, wo sie auftrat, immer als Skandalon behandelt werden musste. Mit der Durchsetzung des Buchdrucks konnte dieses Beobachtungsschema in seiner Kontingenz durchschaut werden, ohne allerdings die entsprechende Differenz vergessen zu müssen. Stattdessen wurde diese Differenz selbst nur aufgehoben und durch ein latent schon entwickeltes Beobachtungsschema ersetzt. Wahrheit war darin nunmehr weder eingeschlossen, weil keine Wahrheit als apriori angenommen wurde; Wahrheit war aber auch nicht ausgeschlosssen, weil alle Erfahrungsbildung durch Überprüfung von Dokumenten „Wahrheit“ – wie auch immer funktional ausdifferenziert und anschlussfähig – als Ergebnis der Dokumentform entstehen konnte. Kein Wunder also, dass die Manipulation von Dokumenten dann als Problem, für das nirgends eine Lösung gefunden wurde, entstand, solange die Katastrophe durch die Entfaltung einer anderen Form der Empirie verhindert oder zurück gestaut wurde; ein Prozess, der dieses Beobachtungsschema stabilisierte, ohne aber zugleich dem sich fortlaufend latent mitentwickelnden Zerrüttungsprozess gewachsen zu sein, weil der Zerrüttungsprozess selbst durch die ausweglose Weiterverwendung des zunehmend als kontigent beobachtbaren Beobachtungsschemas immer weiter angetrieben wurde.

Und was wäre nun, und das ist eher eine Frage und weniger als eine These, wenn nun erst durch das Internet dieser Zusammenhang aufgedeckt werden könnte, wenn nun herausgefunden könnte, was streng genommmen niemals unbekannt war, was aber durch den bekannten Differenzierungsprozess der Gesellschaft immer nur verschoben wurde. Die Einsicht könnte man banal formulieren, dass da doch irgendwas nicht stimmt. Solange diese Vermutung immer nur mit der Unterscheidug refererenzierbar/nicht-referenzierbar beantwortet wird, kann sie sich nur ständig wiederholen, weil sie durch diese Unterscheidung entsteht und, wenn keine Alternative vorhanden ist, diese Unterscheidung zur Weiterverwendung empfiehlt.

Es zeigt sich aber, dass die Unterscheidung nicht mehr nur für ein einzelnes esoterisch-exkludierendes System fraglich ist, sondern für die ganze Gesellschaft.

Fortsetzung

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