Über die moderne Form der Empirie 1
von Kusanowsky
Was sich gegenwärtig abzeichnet ist, dass die Benutzung des Internets für die entwickelten Stabilitätsgarantieren einer funktional-differenzierten Gesellschaft eine regelrechte Katastrophe darstellt. Es geht dabei nicht um Vernichtung oder Zerstörung, sondern um einen deutlich sprunghaften und dynamischen Vorgang, der den Unterschied von Kontinuität und Diskontinuität beobachtbar macht.
Da das Internet auch ein Verbreitungsmedium ist, schlägt sich diese Katastrophe nieder in der Sprengung der modernen Empirieform, an welcher die Funkionssysteme nach Maßgabe ihrer jeweils eigentümlichen Funktionslogik partizipieren und sie nach Anforderungen ihrer eigentümlichen Codes differenzieren. Diese Form der Empirie, die ich „Dokumentform“ nenne, richtete sich an der Unterscheidung von referenzierbar und nicht-referenzierbar aus. Zwar konnte innerhalb verschiedener Funktionssysteme die Referenzierbarkeit höchst unterschiedlich behandelt werden, aber nirgendwo war es einem System möglich, die Strukturerwartungen der Umwelt gänzlich zu enttäuschen, zu unterlaufen, zu sabotieren oder außer Kraft zu setzen: ein Richter kann zwar nicht über das Gutachten eines Medziners urteilen, aber durch schamanistische Tänze und Gesänge hätte ein Mediziner einen Richter gewiss nicht überzeugen können. Ja nicht einmal wäre es möglich gewesen, so etwas zu versuchen.
Nebenbei: zu welchen höchst komplexen Verwirrungen diese Form der Empire führt, kann man an dem Evergreen-Streit zwischen Schulmedizin und Homöopathie ablesen. Auf beiden Seiten des Konflikts wird die Unterscheidung referenzierbar/nicht-referenzierbar verwendet, aber ein nüchterner Beobachter wird feststellen, dass eine Partei diese Unterscheidung nicht verlässlicher und überzeugender behandeln kann als die andere. An dem Phänomen des Placebo-Effektes kann man aber feststellen, dass es Zusammenhänge gibt, die sich mit dieser Unterscheidung nicht erfassen lassen. Ergebnis ist Ratlosigkeit, weil gemäß der Empirieform diese Effekte höchst seltsam und absonderlich sind. Sie sind heteroclitisch.
Es wird sogar berichtet, dass Patienten, die wissen, dass sie ein Placebo verordnet bekommen, trotzdem noch zur Auskunft geben, dass es geholfen habe. Gemäß der verwendeten Unterscheidung kann das eigentlich gar nicht sein, weil kein Wirkstoff referenzierbar ist, die Auskunft der Patienten ist aber sehr wohl referenzierbar, weil man inzwischen auch gelernt hat, anders als noch vor 100 Jahren, die Verstandesfähigkeit und die Mündigkeit der Patienten zu berücksichtigen, was übrigens für die Medizin ein schwerer Lernprozess gewesen ist.
Alles, was der modernen Form der Empirie nicht entspricht, wird entweder unterdrückt, beiseite geschoben, bagatellisiert, marginalisiert und, wenn sich dennoch Empiriekontingenzen zeigen, die so nicht behandelt werden können, so werden sie nach Maßgabe der selben Empirieform funktional abgesondert, z.B. als Kunst. Solange einer weiteren Differenzierung aber enge Kapazitätsgrenzen gesetzt sind, wird abweichende Empirie durch Vermeidungsstrategien aller Art in die Inkommunikabilität überführt. Die Indikatoren für entsprechend verlässlich funktionierenden Vermeidungsstrukturen sind Konflikte, Tricksereien und Schummelleien, Umwegmaßnahmen oder einfach auch nur die Nichtbehandlung von Problemen, weil niemand weiß, wie damit umzugehen ist.
Ein Beispiel dafür ist die turnusmäßige Beobachtung, dass Politiker ständig Wahlversprechen brechen. Jeder weiß das, auch Politiker wissen das. Alle empören sich darüber. Und wer die Gelegenheit hat, ohne Kamera und Microphon mit einem Politiker zu sprechen, wird heraus finden, dass auch Politiker nicht damit einverstanden sind, dass sie dies tun müssen. Nicht weil es der Politik gefällt, geschieht dies, sondern weil nicht erkennbar ist, wie es sonst gehen sollte. So werden Wahlversprechen regelmäßig gegeben, eventuell wieder gebrochen und das nächste Wahlergebnis abgewartet. Und solange die Wahlbeteiligung gerade noch zufriedend stellend ist, gibt es keinen Grund dafür, mit dieser Routine aufzuhören. Keiner ist so recht damit einverstanden, aber alle machen mit. Aus diesem Grund muss die Empörung über dieses Geschehen zulässig gemacht werden, weil diese Empörung selbst eine Funktion hat, nämlich: die Strategie der Nichtbehandlung des Problems zu legitimieren. Und sobald Empörung verlässlich erwartbar ist, kann darauf wieder gemäß der bekannten Empirieform reagiert werden, indem durch massenmediale Berichterstattung mitgeteilt wird, wer was gesagt, nicht gesagt und wie gemeint und nicht gemeint hat. Es wird dann wieder nur die Unterscheidung von referenzierbar und nicht-referenzierbar verwendet, wodurch die Form der Empirie um ein weiteres Mal ihre Weltnormalität erhält.
Dieses nachfolgende Zitat ist sehr gut geeignet um zu zeigen, wie das re-entry des Beobachters funktioniert. Es handelt sich hierbei um ein Zitat aus dem zweiten Band des kunsthistorischen Monumentalwerks: Geschichte der Kunst von Richard Hamann
„Die Geschichte der Kunst zerfällt in zwei große Abschnitte, die Geschichte der Kunst des Altertums, womit man die Kunst der Ägypter und Vorderasiaten, der Griechen und Römer meint, und die Geschichte der neueren Kunst, wie man die Kunst seit der christlichen Ara zu nennen pflegt. Jede von beiden hat man als ein Sondergebiet auch einer besonderen Wissenschaft überlassen, der Archäologie und der Kunstgeschichte. Die Geschichte der neueren Kunst soll in diesem Bande behandelt werden. Eine Kunstgeschichte aber, die nicht die ganze Entwicklung von den frühesten Anfängen her behandelt, sondern von der Gegenwart aus gerechnet nur einen Abschnitt, wird von selbst auf die Frage geführt: Wo soll sie beginnen? Ist der Schnitt, den wir machen, auch innerlich begründet? Wäre die ganze Kunstentwicklung ein einheitlicher Verlauf, so würde ein solcher Einschnitt willkürlich und eine Sonderbetrachtung der neueren Kunstgeschichte kaum gerechtfertigt sein. Nur wenn sie als eine eigene und abgesonderte auch einen innerlich begründeten Anfang hat, ist es möglich, die Geschichte der neueren Kunst als eine Einheit und ein Ganzes mit eigener und geschlossener Entwicklung zu schildern, wie es uns vorschwebt.“
Hamann, Richard: Einleitung und Überschau. In, ders.: Geschichte der Kunst. Band 2. Von der altchristlichen Zeit bis zur Gegenwart. Berlin 1955, S. 11.
Gehen wir dieses Zitat Schritt für Schritt durch:
1. „Die Geschichte der Kunst zerfällt in zwei große Abschnitte, die Geschichte der Kunst des Altertums… und die Geschichte der neueren Kunst, wie man die Kunst seit der christlichen Ara zu nennen pflegt.“
Hier geht es um die Unterscheidung von alter Kunst und neuer Kunst.
2. Sowohl die alte als auch die neue Kunst „hat man als ein Sondergebiet auch einer besonderen Wissenschaft überlassen, der Archäologie und der Kunstgeschichte.“
Nun wird eine zweite Unterscheidung eingeführt, nämlich die Unterscheidung in den Gegenstandsbereich „Kunst“ und den Wissensbereich „Wissenschaft“ und es wird zugeordnet: Alte Kunst – > Archäologie // Neue Kunst -> Kunstgeschichte.
3. Weiter: „Die Geschichte der neueren Kunst soll in diesem Bande behandelt werden“ – Es handelt sich bei diesem zweiten Band um eine monumentale Darstellung der neuen Kunst als Gegenstand der Kunstgeschichte (und nicht der Archäologie)
4. Nun zeigt sich die ganz Kontingenz, sowohl die der Unterscheidung als auch die der Zurodnung: „Wo soll sie (die Geschiche der neuen Kunst) beginnen? Ist der Schnitt, den wir machen, auch innerlich begründet? Wäre die ganze Kunstentwicklung ein einheitlicher Verlauf, so würde ein solcher Einschnitt willkürlich und eine Sonderbetrachtung der neueren Kunstgeschichte kaum gerechtfertigt sein.
Die Frage leuchtet ein. Warum soll Kunst einmal ein Gegenstand von Archäologie sein und einmal ein Gegenstand von Kunstgeschichte? Man könnte doch sagen: Kunst ist Kunst, auch wenn sie sich ändert. Warum also wird der Gegenstand solchermaßen durch Unterscheidung aufgeteilt und zugeordnet? Wo ist die Logik, wo die Plausibilität? Und die Antwort lautet: Kunst ist nicht gleich Kunst. Damit wird die Kontingenz der Unterscheidung sichtbar. Aber wer bestimmt, dass so unterschieden und bezeichnet (hier: zugeordnet) wird? Wäre das nicht auf die Willkür eines Beobachters zurechenbar? Ja, das wäre es! Aber dann würde der Beobachter sichtbar und damit weder die Kunst noch die Kunstgeschichte. Aus diesem Grunde muss der Einwand der Willkür abgewendet werden, in dem es heißt: die Unterscheidung ergibt sich aus dem Gegenstand der Kunst selbst, nicht aus der Willkür des Beobachters. Die Unterscheidung sei „innerlich“ begründet. Und in der Folge wird diese Begründung als Kunstgeschichte, also im Wissensbereich, nicht im Gegenstandbereich, monumental ausbuchstabiert, wodurch sich ergibt, dass die Begründung kontingent ist, denn andernfalls wäre die Begründung nicht refklektierbar. Will man also wissen, was es mit der „innerlichen“, also mit der in den Bereich des Gegenstandes verwiesen Unterscheidung auf sich hat, muss man sich mit dem Wissensbereich, also mit der Kunstgeschichte befassen. Sie begründet selbst was sie im Gegenstand begründet findet. Aber davon wird abgelenkt und somit zugleich vom Beobachter, der diese Ablenkung empfiehlt und durchführt. Und infolge der Monumentalität der Begrüdnung wird für einen Beobachter, der diesen Beobachter beobachtet, verdeckt, dass alles nur ein Zaubertrick ist, eine Schummmelei. Aber das ist Beobachtung. Anders geht es nicht, weil diese Schummelei für jede andere Beobachtung auch gilt, auch für denjenigen, der den Beobachter als einen Beobachter beobachtet, der Beobachtung beobachtet.
Wenn auch Schummelei, so ist sie der Normalfall aller Beobachtung, auch aller wissenschaftlichen Beobachtung, was auch heißt, dass diese Schummelei eine Wahrheitsfindung manchmal, aber nicht immer behindert. Auch die Wahrheit kann auf Schummelei beruhen. Das stört sie nicht weiter.
„Wenn auch Schummelei, so ist sie der Normalfall aller Beobachtung, auch aller wissenschaftlichen Beobachtung, was auch heißt, dass diese Schummelei eine Wahrheitsfindung manchmal, aber nicht immer behindert.“
Was wird gefunden, wenn die ‚Wahrheit‘ gefunden wird? Was soll das sein, die ‚Wahrheit‘? Und wie soll man ‚Wahrheit‘ von ‚Unwahrheit‘ unterscheiden?
„Auch die Wahrheit kann auf Schummelei beruhen. Das stört sie nicht weiter.“
Ich finde den Begriff ‚Wahrheit‘ problematisch, ist er doch auch nur eine willkürliche Unterscheidung genauso wie Alte und Neue Kunst. Meiner Meinung nach kann man Wahrheit nicht finden, immer nur erfinden.
Du hast es immer noch nicht verstanden.