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Konsequenzloses Interaktionsabbrechen. Im virtuellen Raum des Internets ist die Verbindungs- und Kommunikationsmöglichkeit unglaublich, aber auch die Entzugsmöglichkeit. Man kann zwar trollen, aber man kann sich auch jeglicher Diskussion jederzeit entziehen, wenn man will. Noch extremer als bei der Interaktion mit Menschen mit geringer Aufmerksamkeitsspanne oder sehr sprunghaften, die nicht lange bei einem Thema bleiben können, kann man hier einfach jederzeit nicht mehr da bzw. virtuell anwesend sein, nicht mehr Teil der Kommunikation, der Diskussion etc. sein und tut es auch.
Ein solches Interaktionsabbrechen zieht dann keine negativen Konsequenzen nach sich, wie in der face-to-face-Kommunikation: Kein betretenes Schweigen, keine als unhöflich empfundene Themaverschiebung, Aufmerksamkeitsverschiebung auf neue Kommunikatiospartner etc.; es wird oft noch nicht einmal sichtbar und für die Beteiligten wahrnehmbar, daß hier ein Interaktionsstrang abgebrochen wurde.
Was die Konsequenzen der wiederholten Praxis und damit Einübung derartigen Interaktionsverhaltens sind, und ob es auch das Verhalten im nicht-virtuellen Raum verändert, bleibt abzuwarten. (Herkunft)

Man kann abwarten, gewiss. Man kann aber auch weiter machen. Denn nur wer weiter macht kann angeben, was dabei heraus kommt, nachdem abgewartet wurde. Ergebnisse stellen sich nicht durch Abwarten ein, sondern durch Weitermachen, weil das Abwarten, das Schweigen, die Entziehung, die Verweigerung einer Antwort nicht anschlussfähig ist.
Was oben in dem Zitat irritabel wird scheint mir auf die apokalyptische Funktion der Internetkommunikation hinzudeuten. Die apokalyptische Funktion besteht darin, auf eine ungewöhnliche Strukturalternative aufmerksam zu machen, damit eine gewöhnliche und bekannte Struktur kommunikabel werden kann ohne, dass dabei die unumgängliche Selbstreferenz der Kommunikation irgendwie aufdringlich wird. Diese Strukturalternative drückt sich aus in der Unterscheidung von realer und digitaler Kommunikation. Theoretisch ist diese Unterscheidung wenig weiterführend. Aber lassen wir diesen Punkt bei Seite.

Jeder kennt vielleicht diese Gesprächssituation: man sitzt zu zweit oder mit wenigen mehr zusammen und führt ein Gespräch zum Thema „Kommunikation, Sprache und Menschen“. Sobald in diesem Gespräch die Selbstreferenz nicht nur thematisiert, sondern auch deiktisch-performativ eingeführt wird, stellt sich eine Art Peinlichkeitsgefühl ein. Plötzlich entsteht eine Situation, in der ein „Wir-über-uns“ thematisiert wird, wobei sowohl die eigene wie die jeweilig aktuelle Handlung anderer im Gespräch sofort wieder reflektiert wird. Ein solches Gespräch berührt irgendwie ein Intimitätsgefühl, eine Distanzlosigkeit unter Beteiligten, die sich ansonsten einer solche Nähe aus Gründen der Sachlichkeit gern enthalten würden. Und außerdem stellt sich die Frage, was man denn damit sagen wolle, worauf man hinaus wolle, wenn ein „Wir-über-uns“-Thema von uns jederzeit von uns für uns fortgesetzt werden kann. Es stellt sich gleichsam bei allen Beteiligten affektiv ein Alarmsignal ein. Alarmiert wird dabei sowohl die Intimität, die Ausweglosigkeit als auch die Fraglichkeit der Konsequenzen dieses Tuns, weshalb eine solche Kommunikation nur selten zustande kommt und, wenn doch,  so wird relativ schnell eine Differenz eingebracht um dieser Aufdringlichkeit zu entkommen.
Ergo ist es nicht so einfach für uns miteinander über uns zu reden. Das Gespräch wirkt aufdringlich, unsachlich und unergiebig. Der Grund dafür liegt in der performativ behandelten Selbstreferenz, weil nicht oder nur sehr schwer ein Unterschied erkennbar wird, für den diese Art des Gesprächs einen Unterschied macht.

Die apokalyptische Funktion der Interkommunikation liefert nun einen solchen Unterschied und ermöglicht ein vereinfachtes und sachliches Sprechen über unser Sprechen, weil nämlich durch parasoziale Interaktion genau das möglich wird, was latent.de in dem Zitat beschreibt. Es zeigt sich eine Strukturalternative, die eine Möglichkeit der kontingenten Erwartbarkeit von Kommunikation liefert ohne, dass die Selbstreferenz der Kommunikation aufdringlich, peinlich oder tautologisch-sinnarm wirkt. Durch Verweis auf eine Strukturalternative, die ihrerseits nicht den Erwartungen gehorcht, die in Interaktion unter Anwesenden von Bedeutung ist, kann die Kommunikation unter Anwesenden über Kommkation unter Anwesenden viel leichter reflektierbar werden. Der Weg der Einführung und Differenzierung einer apokalyptischen Funktion geschieht folglich über den umgekehrten Weg, indem durch parasoziale Interaktionen imaginierte Anwesenheiten unterstellt werden. Das drückt sich aus in Sätzen wie „ich bin im Internet“, „ich lebe im Internet“, „du bist in meiner Timeline“ und dergleichen. Aus diesem Grunde wird auch die Unterscheidung von realer oder echter und digitaler Kommunikation einführt und aus dem selben Grunde wird von vielen, die sich per Twitter kennen lernen, irgendwann der Wunsch geäußert, sich im „realen Leben“ zu treffen. Und nimmt man an einem solchen Treffen teil, stellt man fest, dass man dann mit den Leuten über das redet, worüber man auch durch Internetkommunikation redet.

Das nenne ich die apokylptische Funktion: Zeigen, offenbaren, enthüllen, entdecken, veröffentlichen was zuvor niemals unbekannt oder verdeckt oder verborgen war. Es fehlte immer der praktikable Verweis auf einen Unterschied, der einen Unterschied macht.
Ein Anwendungsbeispiel waren die Irritationen um Google-Street-View. Es wurde damit der öffentliche Raum durch ein Fotopanorama veröffentlicht. Jetzt entsteht ein Unterschied, der einen Unterschied macht allein schon durch die Frage, was sich denn dadurch ändert, wenn der öffentliche Raum veröffentlicht wird. Die Antwort: die Strukturen der Kommunikation ändern sich und werden im Augenblick ihrer Veränderung erkennbar. Erkennbar wird die apokalyptische Funktion.

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