„Dass Lesen Geld kostet, ist ein Übel …“ #urberheber #literatur #massenmedien
Dass Lesen Geld kostet, ist ein Übel, dessen Notwendigkeit es immer neu zu beweisen gilt.
Diesen Satz findet man nicht etwa beim Postillion geschrieben, sondern in der Deklaration einer Gruppe deutschsprachiger Schriftsteller, die darin ihre Übellegungen zur Rettung ihres literarischen Schaffens angesichts der Textflut des Internets zum Ausdruck bringen. Diese Deklaration kann man in einer „einerseits-andererseits“- These zusammen fassen: einerseits haben nun auch die Schriftsteller herausgefunden, dass nicht nur die Menge verfügbarer und lesbarer Texte gestiegen ist, sondern auch die Menge möglicher Leser und dass es daher keinen Grund gäbe sich, sich der Verbreitung digital vefügbarer Texte weiterhin entgegen zu stellen. Andererseits aber wollen diese Schrifsteller nicht ihre Bemühungen aufgeben, von ihren Lesern einen Obolus einzunehmen, weil das Lesen nämlich Geld koste und damit ein unverzichtbares Übel sei, dass immer wieder hergestellt werden müsse, damit die Schriftsteller von irgendwas leben können.
In dieser Widerspenstigkeit zeigt sich genau das Schicksal einer trivial gewordenen faustischen Genialität. Das Zustande kommen des modernen Geniekonzepts zeichnete sich dadurch aus, dass es ein Ersatz für das Fehlen einer Erklärung hinsichtlich einer sozial er- und vermittelten Beobachtbarkeit von Schriftstellern darstellte. Weil der soziale Zusammenhang der Literaturproduktion, der insbesondere im Zugang zu Massenmedien durch Verlage lag, nicht reflektiert wurde, entstand die Annahme einer persönlichen Genialität, die es vermöge, die Werke aus sich selbst heraus heraus zu erschaffen. Denn die Schreiber waren über Verlage organisiert und damit auf einem Markt adressierbar, die Leser jedoch nicht, woraus sich eine Struktur ergab, die auf das Schreiben und das Lesen notwendig angewiesen war, die aber nur das Schreiben – die gebündelte Hinterlassung Schriftzeichen auf Papier – als zurechenbare Operation berücksichtigte, wohingegen das Lesen, das genauso unverzichtbar ist, nirgendwo zugerechnet werden konnte. Das hatte zur Folge, dass der Schreiber als Genie in Erscheinung trat, weil die Struktur es nicht zuließ, den sozialen Produktionsprozess doppelseitig zu reflektieren. Irgendwelche Leser waren zwar irgendwie notwendig und mussten immer schon irgednwo vorhanden sein, damit herausgefunden werden konnte, wer was geschrieben hatte. Aber Leser waren nicht erreichbar und darum auch nicht honorierbar, weshalb nicht erkennbar wurde, dass die Leser einen ganz erheblichen Teil der Prominenzsteigerung von Schreibern erbrachten. Daher das Genie. Es musste offensichtlich ein Zauberkünstler sein, der es Kraft seiner Genialität vermochte, die Menschheit mit großartigen Werken zu beglücken. Die Zauberkunst bestand darin, die sozialen Erfolgsbedingungen des Zustandekommens zu ignorieren und ihre Bedeutsamkeit für die Erklärung des Zustandekommens von Literatur zu vermeiden. Literatur wird sozial produziert. Die Einsamkeit des Schreibers ist keine soziale Situation, auch nicht die Einsamkeit eines Verlagsbüros, die Einsamkeit einer Buchhandlung oder die Einsamkeit eines Lesers. Erst ein soziales Geschehen verbindet diese Einsamkeiten zirkulär und macht sie auf diese Weise relevant.
Der Glaube an ein Genie war nur die Möglichkeit, diesem Zirkelgeschehen in der Reflexion auszuweichen, was übrigens eine Bedingung dafür war, dass der Zirkel überhaupt zustande kommen konnte. Er musste an dieser Stelle wie an jeder anderen angefangen werden, damit er sich schließen konnte. Der Zirkel musste gleichzeitig von vielen Stellen begonnen werden. Das bedeutet, dass er immer schon geschlossen war, wenn damit angefangen wurde. Denn wie sonst hätte jedes notwendige Elemente mit jedem anderen in Verbindung treten können, wäre Unerreichbarkeit die Voraussetzung gewesen? Weil aber Erreichbarkeit immer schon voraus gesetzt war, konnte der Zirkel einerseits geschlossen und andererseits von jeder Stelle aus ignoriert werden.
Wenn überhaupt etwas zaubern kann, dann ist das die soziale Alchemie der Kommunikation. Das Geniekonzept ist aber asozialer Herkunft. Besser gesagt: seine Herkunft war die sozial akzeptierte Rechtfertigung seines asozialen Ursprungs.
Aus der oben genannten Deklaration geht nun hervor was passiert, wenn diese soziale Vermeidungsstrategie nicht mehr durchhaltbar ist. Es wird behaupet: „Dass Lesen Geld kostet, ist ein Übel, dessen Notwendigkeit es immer neu zu beweisen gilt“ – womit noch einmal der Versuch gewagt wird, die Vermeidungsstrategie zu rechtfertigen, und dies, obwohl die Erfolgsbedingungen für eine gelingende Rechtfertigung nach eigener Auskunft gar nicht mehr gegeben sind. Denn was diese Deklaration zwar andeutet, aber nicht gründlich durchdenkt ist, dass die Unterscheidung zwischen Lesern und Schreibern ihre Relevanz verloren hat. Jeder schreibt, der schreiben will und schreiben kann, was für den Leser genauso gilt.
Und das heißt, dass nicht nur Lesen etwas kostet, sondern auch das Schreiben. Aber beides ist gar kein Übel, sondern ist eine Notwendigkeit, die sich immer wieder einstellt, wenn Literatur produziert wird.