Erklärungen in rekursiven Verhältnissen #soziologie 1
Erklärungen in rekursiven Verhältnissen von Athanasios Karafillidis, erscheint in: Zeitschrift für Theoretische Soziologie, Heft 3/2013 (Herbst)
Wenn es um Erklärungen geht, dann herrscht in der Soziologie durchaus Einigkeit darüber, dass ‚richtige‘ soziologische Erklärungen nur im Rahmen von Kausalannahmen möglich sind. Das unterläuft allerdings gerade die Stärke der Disziplin.
Eine knappe Inspektion von Durkheim, Weber und Simmel verdeutlicht, dass das soziologische Interesse nicht der Kausalität, sondern von Beginn an der Rekursivität und selbst erzeugten Unbestimmtheit des Sozialen gilt. Doch die Durchsetzung von Kausalität zum Zwecke einer Fusion der Soziologie mit einer von der Entwicklung entsprechender Techniken der Datenmanipulation getriebenen Sozialforschung zwischen 1940 und 1960 hat das wissenschaftliche Selbstverständnis der Soziologie einschneidend verändert. Das Problem ist, dass die soziologische Theorie seitdem gleichsam als methodisch immer unzureichend und nicht–empirisch erscheint , weil beides offenbar nur von einem bestimmten, kausalistischen Typ von Sozialforschung geliefert werden kann.
Eine methodologische Verankerung von Kausalität wird dem Problem der Rekursivität – was dem Rätsel der Sozialität selbst entspricht – jedoch nicht gerecht. Die Soziologie pflegt, genauso wie die Sozialforschung, ihre eigenen Methoden und ihre eigene Empirie. Sie formuliert nicht-kausale, kybernetische Erklärungen, durch die soziale Phänomene für interessierte Beobachter nacherlebbar und behandelbar werden.http://www.karafillidis.com/downloads/Karafillidis_Erkl%C3%A4rung_WebAbstracts.pdf
Es geht bei diesem angekündigten Aufsatz um eine spezielle Form wissenschaftlicher Literatur, nämlich um Selbstbesinnung und Selbstvergewisserung. Es ist schwer zu ermitteln, wie viele Aufsätze dieser Art im Laufe der Dienstzeit eines soziologischen Gelehrten geschrieben, publiziert, gelesen und zitiert werden. Und es ist relativ schwer zu ermitteln, seit wie vielen Generationen von Gelehrten solche Besinnungsaufsätze geschrieben werden. Feststellen kann man mindestens, dass die Literaturproduktion zuverlässig funktioniert.
Warum ist diese Art der Literatur eigentlich so wichtig, wenn man berücksichtigt, dass angesichts der gigantischen Menge der soziologischen Literaturproduktion ein einzelner Aufsatz eigentlich fast nicht mehr gelesen werden kann? Jeder Blogartikel eines hinterwäldlerischen Bloggers dürfte im Laufe eines Jahres mehr Leser finden als ein soziologischer Aufsatz dieser Art.
Wer einwenden möchte, das das nicht zu vergleichen sei, es käme doch auf wissenschaftlichen Qualität und Relevanz an, sollte mal alle qualitative und relevante Literatur in einer Bibliographie zusammenfassen. Aber wie soll das gehen? Weil ja auch für diese Bibliographie die Frage nach ihrer Relevanz und Qualität gestellt werden darf.
Für diese Bloggerei gilt eigentlich genau dasselbe wie für diese Literaturproduktion: jeder einzelne Aufsatz ist völlig überflüssig. Keiner würde einen solchen Aufsatz vermissen, weil ohnehin ein enormer Output an Texten abläuft, durch den dafür gesorgt wird, dass jede Aufmerksamkeit für einen kleinen Teil der Lektüre die Beobachtung der Unaufmerksamkeit für den größten Teil der Lektüre herstellt. Man stelle sich einen tüchtigen Studenten vor, der alle relevante Literatur zu einem Thema erfassen wollte. Schon der Versuch, ein bestimmtes überhaupt Thema zu identfizieren – hier z.B. das Thema „soziologische Selbstvergewisserung“ – dauert so lange, dass in der Zwischenzeit die Literaturmenge zum selben Thema schon wieder angestiegen ist. Wenn jetzt auch noch die Frage nach der relevanten Literatur zu diesem Thema gestellt wird, dann kann das nur gelingen, wenn dieser Student nicht allzu tüchtig ist. Das selbe gilt auch für den Professor, der das überprüfen will. Mangelnde Tüchtigkeit ist wichtigste Voraussetzung dafür, dass das alles ganz gut funktioniert. Jede Gründlichkeit würde nämlich Zeitverzug nach sich ziehen, womit zugleich das Problem entsteht, dass in dieser Zeit der Literaturberg schon wieder gewachsen ist.
Es geht also nicht ohne mangelnde Tüchtigkeit und mangelnde Gründlichkeit. Das heißt auch, dass alle Ansprüche an wissenschaftliche Qualität nur durch ihre Wiederholung von Bedeutung sind, nicht aber durch ihre Einlösung. So ist es dann auch kein Wunder, dass plagiiert werden muss. Denn auch der Literaturberg zum Thema „Zitat und Plagiat“ ist nicht mehr zu bewältigen und für jeden Versuch, dieses Wirrwarr zu ordnen, gilt dann wieder das selbe: Tüchtigkeit und Gründlichkeit würde den Betrieb zum Stillstand bringen.
Aufgrund dieser unverzichtbaren Defizite werden die Anlässe für diese Selbstvergewisserungsliteratur geliefert. Diese Defizite erzeugen Gedächtnisverluste, die für die Autopoiesis des Systems dringend gebraucht werden. Darum zurück zur eigentlichen Frage: Wer würde diese Art der Literatur zur Selbstbesinnung und Selbstvergewisserung vermissen? Warum wird sie trotzdem geschrieben?
Fortsetzung folgt