Differentia

Internet ist die Lösung für das Problem der Selbstorganisation

In Siegen haben sich kuriose Dinge ereignet, an denen sich die herkömmliche Soziologie womöglich die Zähne ausbeißen wird. Zur Erheiterung und zum Nachdenken gleichermaßen geeignet ist folgender Bericht über diese Seltsamkeiten, den ich sehr als Lektüre empfehle. Dieser Bericht hat es verdient in einem Museum ausgestellt zu werden:

Wer immer schonmal die Faszination von Social Media nachvollziehen wollte, dem empfehlen wir diese Facebook-Massenkonversation (Link), die vielleicht als das größte digitale Happening in die Geschichte Siegens eingehen wird … (Herkunft)

Solche ähnlichen Ereignisse sind bereits vorgekommen. Man denke dabei an den Fall von Tessas Geburtstag. Vor zwei Jahren hatte eine junge Frau via Faceboook zur einer kleinen Geburtstagsfeier eingeladen und tausend waren gekommen. Ereignisse dieser Art sind auf der ganzen Welt passiert.
Was kann man bei diesen Fällen beobachten? Was ist das aufdringlich Neue daran? Meine Vermutung lautet,  dass hier etwas gelingt, das ohne diese Internetkommunikation und insbesondere ohne diese sogenannte social-media-Technologie nicht oder nur sehr, sehr schwer möglich gewesen ist, nämlich: Selbstorganisation. Hier, im Siegener Fall, organisierte sich die Versammlung von Menschen zum Zweck des Feierns, Jubelns, der spontanen Zuerkennung von Ruhm und Ehre. Auch wenn das alles nur den Charakter eines Spiels, eines Happenings haben mag, allein, es findet statt, durch unvorhersehbare, nicht planbare, nicht steuerbare, nicht dirigierbare Selbstorganisation, ohne Chefetage, ohne verantwortlichen Initiator, ohne Entscheidung und Beschluss, ohne Erlaubnis und ohne Verbot, ohne Ursache, was aber nicht heißt, dass all das auch ohne Folgen bleiben muss. In diesem Fall ist das wohl so, aber ob das so bleiben wird?
Was ist, wenn solche gelingende Selbstorganisation Strukturen entwickelt, deren Folgen keineswegs bedeutungslos bleiben, wenn also nicht mehr nur gespielt, gefeiert oder gejubelt wird?

Warum wird sich die herkömmliche Soziologie daran die Zähne ausbeißen? Ich vermute:

  1. Weil es vielleicht noch zehn Jahre dauern wird, bis Soziologen an den Universitäten überhaupt anfangen werden solche Seltsamkeiten ernst zu nehmen.
  2. Weil die Soziologen selbst ihren Computer einschalten und sich an social-media beteiligen müssten, wozu sie gegenwärtig nicht so leicht zu bringen sind, weil sie daran nichts verdienen können.
  3. Weil sie, bevor sie diese Zusammenhänge erforschen können, erst Drittmittelanträge stellen müssen, die durch ein kompliziertes Machtgefüge der Wissenschaftsorganisation genehmigt werden, oder auch nicht. Und wenn nicht, dann kann das nicht erforscht werden.
  4. Es mag die Vermutung gar nicht so weit hergeholt sein, dass sich in diesem Zeitraum, also innerhalb der nächsten 10 Jahre, längst Ansätze einer anderen Art von Soziologie herausbilden, die selbst wiederum durch die Strukturen solcher Möglichkeiten der Selbstorganisation entstehen. Aber das kann die konventionelle Soziologie dann wieder nicht oder nur schwer begreifen, weil: gehe zu 1.

Selbstorgansation ist Kommunikation zwischen Unbekannten, eine Kommunikation, die durch fehlende Strukturen von Organisationssystemen nicht darauf festgelegt ist, welche Ergebnisse erwartbar werden und welche nicht. Selbstorganisation wäre gelingende Kommunikation von ständiger Überraschung.

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Probleme bei der Beobachtung der #Wahrheit #systemtheorie #philosophie

In einem halbstündigen Vortrag (ab 5: 06 Min.) versucht der Philosoph Markus Gabriel auf schnellst mögliche Weise – was gut gelingt – die Beobachtungsprobleme, die sich aus dem philosophischen Wahrheitsbegriff ergeben, zu erklären.
Was in diesem Vortrag mit keinem Wort oder nur andeutungsweise vorkommt ist:

  • eine Beobachtungstheorie und ein Hinweis auf den erkenntnistheoretischen Konstruktivismus
    1. Unterscheidung von Beobachtung 1. und Beobachtung 2. Ordnung
    2. Unterscheidung zwischen Beobachtung und Operation
    3. Selbstreferenzialität
    4. Blinde Flecke
    5. operativer Konstruktivismus
  • eine Analyse des Verhältnisses von System und Umwelt
  • eine Analyse des Verhältnisses von Medium und Form
  • Probleme der Kontingenz, der doppelten Kontigenz und der Selektion von Information
  • die Unterscheidung von Kommuninkation und Bewusstsein als jeweils selbstreferenzfähige und damit selbstbeobachtungsfähige Beobachtungskonstrukte
  • der Begriff der strukturellen Koppelung

All das spielt für den Philosophen keine Rolle. (Anderes System, andere Systemreferenz.)

Wer aber gemütlich zuhört und sich beeindrucken lassen will, wird feststellen, dass es in dem Vortag um nichts anderes geht als um all das. Wenn auch kurz zusammengefasst, so ist die Vergleichbarkeit der Beobachtungsprobleme gut zu erkennen, ohne, dass deshalb jedes Beurteilungsergebnis schon eine Kongruenz ermitteln müsste.

Ein lehrreicher Vortrag.

Nebenbei:

Nach der Hälfte des Vortrags wirft Gabriel die Frage auf, aus welchem Grunde Bürger Steuern zahlen sollten, um Philosophie zu finanzieren. Denn Steuern zahlen heißt, dass die Einkommen aller Bürger teilweise zwangsweise enteignet werden, um das Einkommen von wenigen Philosophen zu finanzieren.
Bemerkenswert ist das deshalb, da sog. Geisteswissenschaftler auf diesen Punkt gar nicht so gern angesprochen werden wollen, schon gar nicht, dass sie gleichsam „freiwilig“ von diesem Thema anfangen, umso weniger, wenn man vermuten kann, dass dieser Punkt mit dem Problem der Wahrheit, wie es in diesem Vortrag behandelt wird, gar nichts zu tun hat.
Oder vielleicht doch? Denn immerhin erweist das zu behandelnde Wahrheitsproblem, insbesondere seit der Entwicklung der modernen Philosophie als ein Problem, das hauptsächlich dadurch entsteht, dass die Philosophie als operativ geschlossenes System immer auch Richter in eigener Sache ist. Das System selbst entscheidet darüber, ob dem Systemanforderungen Genüge getan wurde und zwar jenseits der Frage, wie in der Umwelt darüber geurteilt wird. Das ist der Schwachpunkt der modernen Philosophie: alle Eröterungen über Wahrheit und alle Wahrscheinlichkeit, dass keine Eröterungen über den Wahrheitsbegriff ausreichen, um die Diskussion zum Stillstand zu bringen, werden nur unter der Voraussetzung vollzogen, dass über die Frage der Autonomie des Philosophie-Systems schon entschieden ist. Das gilt auch für diese Vortragssituation. Gabriel schlägt einen Wahrheitsbegriff vor, den man anschließend so oder so beurteilen kann, aber jede Beurteilung ändert nichts an dem sozialen Verhältnis, hier insbesondere die Tatsache, dass der Professor seinen Geldgebern zwar gegenübertritt, aber unter jedem Umstand ist immer eine Entscheidung darüber schon gefallen, wer Professor ist und bleiben wird. So mag der Redner an der Wahrheit scheitern, aber nicht an seinem Beruf. Mögen die Steuerzahler auch über die Wahrheit und ihren Begriff davon urteilen, ja vielleicht sogar genauso gut oder auch besser als der Professor, in allen Fällen haben die Steuerzahler nichts darüber zu bestimmen, wer Professor für Philosophie wird.

Und auch dieser Punkt wird so nebenbei in dem Vortrag angesprochen. (Das betrifft den Punkt: „noch bin ich kein Multimillionär, aber durch Manipulationen könnte ich es werden …“)
Es zeigt sich also, dass, so jedenfalls ergibt es sich andeutungsweise aus dem Vortrag, bald die Berücksichtigung eines sozialen Verhältnisses für das Zustandekommen einer Kommunikation über Wahrheit nicht mehr so einfach beisiete geschoben werden kann, jedenfalls dann nicht, wenn es sich zeigen sollte, dass Philosophen von sich aus eine Frage aufwerfen, die, sollte sie nicht nur eine rhetorische Frage sein, nicht allein von ihnen „wahrheitsgemäß“ beantwortet werden kann.

Das ist bemerkenswert.

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