Differentia

Hilfsbereitschaft und Pöbelei

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Wer gestern, Sonntag, den 16. Juni 2013, die Talkshow von Günther Jauch zum Thema „Hochwassserkatastrophe“ verfolgt hat, konnte bemerken, wie viele der wechselnden Talkgäste immer wieder diese bedingungslose Hilfsbereitschaft der Menschen betonten. Zu helfen, wenn man kann und wenn die Hilfe gebraucht und geschätzt wird, scheint offensichtlich sehr normal zu sein.
Lassen wir die Frage beiseite, woher die Hilfsbereitschaft kommt und wodurch sie motiviert wird; man wird sicher glauben können, dass diese Massenhilfsbereitschaft nicht nur in Ostdeutschland zu beobachten ist, sondern überall, ob in Deutschland, in Europa oder sonst irgednwo auf der Welt. Es scheint so zu sein, dass, wenn geholfen werden kann und Hilfe gebraucht wird, Hilfe auch geleistet wird.

Das eine Beobachtung. Ein zeitgleiche Beobachtung von mir bezieht auf die wiederholte Berichterstattung über pöbelhafte Facebookkommentare von vielen Facebooknutzern, die alles andere als freundlich, rücksichtsvoll oder geschmackvoll sind. Man möchte sehr schnell vermuten, man habe es da mit einem moralischen Abschaum zu tun. Ich will gar nicht fragen, ob das stimmt und was von diesen Pöbeleien sonst noch zu halten ist.
Allein, ich würde gern beide Beobachtungen zusammenführen und fragen, mit welcher Wahrscheinlichkeit die Menge derjenigen, die bedingungslose Hilfe leisten sich mit der derjenigen überschneidet, die diese Pöbeleien betreiben.
Nun kann man diese Schnitmenge gewiss nicht empirisch berechnen. Man kann eine Schnittmenge nur spekulativ ermitteln, indem man sie mit einer Wahrscheinlichkeit versieht: wie wahrscheinlich ist es, dass diejenigen, die Hasskommentare bei Facebook hinterlassen auch diejenigen sein könnten, die anderen, ihnen unbekannte Menschen jederzeit helfen würden, wenn sie in Not sind?
Ohne, dass ich das mit Gewissheit begründen könnte, würde ich sagen, dass diese Schnittmenge relativ groß ist.

Nun kann man diese Spekulation ablehnen mit dem Argument, dass man dies nicht messen kann. Aber aus diesem Grunde kann man auch diese Ablehnung ablehnen, denn das Gegenteil ist auch nicht messbar. Belassen wir es also bei einem kleinen, bedeutungslosen Ratespiel:

Womit hat man es eigentlich zu tun, wenn man eine solche Schnittmenge als relativ wahrscheinlich erachten möchte? Man erkennt, dass sich dieser Zusammenhang nicht aus dem Handeln und der Meinung von Menschen ergeben kann, denn das Handeln lässt auf der einen Seite zivilisierte Freundlichkeit erkennen und die Meinung auf der anderen Seite eine Hässlichkeit, die man streng genommen genauso zivilisiert nennen müsste, und zwar weil die Zurechnung von beidem auf individuelle Menschen mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit zulässig ist. Denn es ist ja nicht so, dass man es mit einer Weltenteilung zu tun hätte, die es zustande bringt, dass die Menschen in der einen Welt zivilisiert handeln und in der anderen unziviliserte Meinungen äußern. Und außerdem: streng genommen ist beides Handlung: Handlung zur Hilfe und Handlung zur Meinungsäußerung. Auch kann man nicht vermuten, dass diese Menschen, wenn ihnen diese Ungereimtheit zugerechnet werden kann, irgendwie „geisteskrank“ wären, weil ihnen selbst diese Widersprüchlichkeit entginge. Denn man muss ja auch andersherum fragen, wie sie sie bemerken könnten, wenn doch jeder allenfalls dies nur an sich selbst bemerken kann, nicht aber auch an alle anderen, es sei denn, es werden eben diese beiden Beobachtungen zusammengeführt.
Und wenn diese Zusammenführung geschieht ist die Bedingung für diesen Zusammenhang eben nicht allein auf das Handeln der Menschen zurückführbar.

Die Einsicht lautet dann, dass man es eben nicht mit Meinungen und Handlungen zu tun hat, sondern mit einem medialen Dispositiv, das es zulässig macht, diesen Schnittmengenzusammenhang überhaupt zu bemerken, zu prüfen und ihn zu problematisieren und daraus eine These abzuleiten, welche lauten könnte:

Das Maß einer zivilisierten Gesellschaft lässt sich nicht nur daran erkennen, wie welchem Maße die Menschen Rücksicht aufeinander nehmen, sondern auch daran, dass ihnen die Widersprüchlichkeit zwischen rücksichtsvollen und rücksichtslosen Handlungen genauso gut egal sein kann, weil diese Widerssprüchlichkeit nur durch ein mediales Dispositiv ermittelt werden kann, das in den Handlungen von Menschen keine Ursache findet.

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Die #Meinungsfreiheit ist die message, Nachtrag #journalismus

Journalismus muss sich öffnen. Wir können nicht länger nur senden, sondern müssen auch empfangen. Absolut richtig. Nur, wenn ich mir anschaue, was rüberkommt, dann muss ich mich fragen, wieviel ich davon manchmal ertragen kann.

Mit diesem Kommentar leitet der ZDF-Journalist Martin Giesler eine Übersicht über eine Auswahl von Facebook-Kommentaren ein, die anlässlich seiner Veröffentlichung eines Bildes von Claudia Roth abgegeben wurden. Bei dem Bild handelt es sich, so jedenfalls die Erzählung, um die Abbildung der Verletzungen, die sich die Politikerin bei einer Demonstration in der Türkei zugezogen hat. Über diese Facebook-Kommentare selbst muss nicht viel gesagt werden, und möglicherweise auch nichts über den Eingangskommentar. Möglicherweise aber doch, weil ohnehin schon etwas dazu gesagt wurde:

Man könnte den Eingangskommentar einmal dekonstruierend auf seine verwendeten Unterscheidungen analysieren:

1. „Journalismus muss …“ – Vom Müssen ist hier die Rede, nicht vom Dürfen oder Wollen. Heißt das auch, dass Nichtdürfen oder Nichtwollen die andere Seite der Unterscheidung ist? Eigentlich will oder darf der Journalismus nicht, aber er muss?

2. “ … sich öffnen“ – weil ohnedies der Journalismus sich irgendwie abschließen, verschließen, abscheiden, abtrennen oder versperren würde gegenüber der Welt, über die er berichtet? Seit wann fällt dem Journalismus auf, dass es sich so verhält?

3. „Wir können nicht länger .. “ Sie können also nicht länger, aber wollten oder müssten sie denn, wenn sie könnten?

4. “ … nur senden, sondern müssen auch empfangen“ – schon wieder wird etwas gemusst! Ich habe den Verdacht, dass hier der Aufdringlichkeit eines Lernprozesses nach gegeben wird, der sich nur durch eine Art Zwang oder Gewalt bemerkbar macht; ein Lernprozess, der ohne Zwang oder Gewalt gern vermieden werden wollte. Denn: warum Lernen, wenn man nicht muss, weil man nicht will?

5. „Nur, wenn ich mir anschaue, was rüberkommt …“ tja, wenn. Aber was wäre, wenn nicht?

6. “ … dann muss ich mich fragen“ Er muss schon wieder!

7. “ … wieviel ich davon manchmal ertragen kann“ Wer will das denn wissen?

Siehe dazu bei Interesse den Beitrag: Die Meinungsfreiheit ist die Message, nicht die Meinung.

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