Das enigmatische Spiel der Wissenschaft 1
von Kusanowsky
Die Wissenschaftsgeschichte kann sehr viel darüber berichten, zu welchen Zeitpunkten oder in welchem Zeiträumen und an welchen Orten, zu welchen Anlässen bestimmte Probleme aufgetaucht sind, wer diejenigen waren, die sich damit beschäftigt hatten, mit welchen Methoden sie versucht haben, diese Probleme zu erforschen und zu welchen Ergebnisse sie dabei gekommen sind.
Der allergrößte Teil aller Wissenschaftsgeschichtsschreibung begnügt sich damit, historische Differenzierungen hinsichtlich des „Was“ der Probleme und ihre Abfolge, der Methoden und der Ergebnisse zu liefern. Dazu gehören auch differenzierte Ausführungen hinsichtlich der jeweiligen Personen und Zuordnungen von Ideen, Ansätzen, Theorien und manchmal, leider viel zu selten, werden auch Sackgassen der Forschung thematisiert.
Das bekannteste Beispiel ist der Begriff des „Äthers“ in der Pyhsik (1). Dabei handelte es sich um die Annahme einer Substanz, die als Medium dafür sorgte, dass sich Licht ausbreiten konnte. Liest man diesen Wikipedia-Artikel zu diesem Thema so bekommt man eine Vorstellung davon, welche Klimmzüge eine Wissenschaft machen muss und offensichtlich auch machen kann, bevor erkannt wird, dass sie sich auf einen Holzweg eingelassen hat. Leider werden dann aber, sobald entsprechende Irrtümer erkannt werden, diese Dinge in der Rumpelkammer der Wissenschaftsgeschichte verstaut, gleich so, als gehörten die Irrwege, Umwege und hartnäckigen Blockademaßnahmen zur Rettung von Hypothesen gar nicht zum Geschäft. Skeptisch betrachtet könnte man sich aber gar nicht vorstellen, wie Wissenschaft zustande kommen könnte, wenn sie nicht irgendwelche enigmatischen Spiele anfinge. Dass damit anfangen wird, ist bekannt, aber nur selten wird erforscht und berichtet, warum und zu welchem Zeitpunkten bestimmte Probleme auftauchen und relevant werden oder eben auch an Relevanz verlieren.
Eines dieser enigmatischen Spiele, das seine Relevanz, wenigstens in der Wissenschaft eingebüßt hat, aber als ideologisches Residuum bis heute diskutierbar bleibt, ist die Physiognomie. Irgendwann im 18. Jahrhundert tauchte die Frage auf, ob zur Verbesserung der Menschenkenntnis die äußere Erscheinung von Menschen Auskunft darüber geben könnte, mit wem man es zu tun hat und auf welche Fähigkeiten der Anblick von Menschen schließen lasse.
Die Wissenschaftgeschichte kann enorm viele Einzelheiten über das „Was“ dieses Diskurses ermitteln, nur selten aber wird erklärt wie und warum dieses Problem entstand ist und warum nicht schon vorher. Die Geschichtsschreibung erklärt meist immer nur das „Was“ des Problems, aber nicht das „Problem des Problems“, hier in dem Fall: warum wurde der Anblick von Menschen etwa ab dem 18. Jahrhundert problematisiert, wenn doch eigentlich nichts so normal ist wie der Anblick von Menschen? Und warum wurde das Problem des Problems bis in den Rassismus geführt bis man erkennen konnte, dass das alles unhaltbar ist und das, obwohl die Einwände gegen die Physiognomie zu gleicher Zeit entstanden sind wie sie selbst.
Eine Wissenschaftsgeschichtsschreibung hat es immer noch sehr schwer solche Fragen zu beantworten, solange sie sich, wenn auch inzwischen auf hohem Niveau differenziert, auf eine positivistische Quellenkritik festlegt. Denn eine positivistische Quellenkritik verlangt ja, die Selbstauskunft der Quellen zu studieren und nicht die Gründe dafür, diese Quellen überhaupt zu erschließen. Denn die Gründe verweisen ihrerseits auf Probleme von Problemen, über die die Wissenschaft selbst aufgrund ihrer eigenen Normalitätserfahrung nur selten gut informiert ist. Die Wissenschaft beschreibt sich selbst als normal, als selbstverständlich, als irgendwie „natürlich“. Und über die Grenze solcher Unterscheidungen hinweg erkennt sie dann, wie seltsam und kurios, wie abwegig und bizarr ihre Geschichte ist.
Würde man die Betrachtungweise umkehren, würde man also annehmen, dass Wissenschaft selbst das kuriose Phänomen ist, so kann man sich über die Vielzahl der Abwegigkeiten gar nicht mehr wundern. Und vielleicht könnte man ohne Übertreibung sogar behaupten, dass die Wissenschaft selbst ein enigmatisches Spiel ist.
(1) Reiner Ruffing: Kleines Lexikon wissenschaftlicher Irrtümer. Gütersloh 2011, Stichwort Äther S. 29–31
https://twitter.com/ElbeChirurg/status/340419955386376192
Dieser Vortrag liefert eigentlich nichts Neues, tatsächlich wiederholt er nur das bekannte Spiel der Wissenschaft. Wissenschaftliches Forschen ist im Normalfall das Scheitern, die Blockade, der Irrtum, die Verwirrung. Und daran hat sich seit Platons Zeiten nichts geändert und daran wird sich auch niemals etwas ändern.
Was sich ändern kann und – wie ich meine – jetzt ändern wird, sind die Bedingungen unten den Forschung noch scheitern kann. Die uns bekannte Wissenschafts ist kapitalintensiv dadurch, dass sie in der Regel einen zentralen Kapitalgeber hat: entweder Konzerne, Stiftungen oder Staat. Dazu braucht sie Exklusionsrechte, die vor allem durch den Staat sicher gestellt werden, nämlich, was die Naturwissenschaft angeht, Patente. Aber Exkludierungen müssen sich auch auf Personen, bzw. Habitualisierungen, Methoden, Hypothesen und Theorien beziehen. Diese Exkludierung vollzieht sich durch Verschränkung von drei Systemen:
1. Organisationssysteme, nämlich: staatliche Bürokratie, Wissenschaftsvereinigungen, Stiftungen und Konzerne.
2. selbstorganisierte Interkationen, die sich in Karrierenetzwerken niederschlagen, die hauptsächlich Gefälligkeiten durch Erwartung und Vermeidung strukturieren und schließlich
3. durch die Funktion der Wissenschaft selbst, wobei sich die Funktion nicht durch Differenzen von Wahrheit ergibt, wie manchen Systemtheortiker behaupten, sondern durch Methode und damit lieferbare Rechtfertigungen. Wissenschaft ist Methodenkommunikation, nicht Wahrheit.
Diese Verschränkung hat den Charakter von Macht. Alle erfolgreiche Wissenschaft ist dieser Macht ausgesetzt. Alle Wissenschaft wird durch Überwindung von Verboten mächtig und stabilisiert sich durch Produktion neuer Verbote, inkl. aller möglichen Inkommunikabilitäten. Das wird ja in diesem Vortrag angedeutet.
An diesen Bedingungen kann niemand etwas ändern. Aber der Vesuch es zu tun, wird immer wieder unternommen und zwar mit immer größeren Aufwand.
Was sich jetzt ändern wird ist Erprobung struktureller Alternativen durch das Internet, die es auch sehr schwer haben, weil sie sich auf kein Machtkonzept verlassen können. Aus diesem Grunde kann man Strukturalternativen ablehnen, weil man für diese Pionierforschung nicht belohnt wird, aber aus dem selben Grunde kann man sie akzeptieren, gerade weil man nicht belohnt wird.
Interessant finde ich zu beobachten, dass im Blog der Deutschen Gesellschaft für Soziologie ganz unverhohlen Gratifikationsforderungen für die Beteiligung an Internetkommunikation gestellt und erwogen werden, was ja heißt: sie tun nichts Gutes mehr, es sei denn sie werden dafür belohnt. Das führt in die Schwächung dieser Art von Wissenschaft.
„Eventuell ist Wissenschaft nichts anderes als Verirren.
Aleks Scholz“
http://culturmag.de/litmag/aleks-scholz-lichtjahre-spater-16/71360
Dass die Thesen Max Webers über Wertfreiheit in den Rang eines hohen deutschen „Bildungsgutes“ (F. Tenbruck) erhoben wurden, ist leicht nachzuvollziehen. Die Wertfreiheit hat der staatlich organisierten Trennung der Wissenschaft von Politik bzw. Ökonomie, die als institutioneller Inbegriff der Freiheit von Forschung und Lehre unverdienterweise zu hohen Ehren gekommen ist, eine soziologische Weihe gegeben. Als Wertfreiheit wird denn auch heute innerwissenschaftlich eingefordert, was die politischen Mächte ihren Anliegen und den Anliegen des von ihnen eingerichteten und betreuten kapitalistischen Produktionsverhältnisses schuldig sind: Als Großverbraucher von Wissenschaft, besonders von Naturwissenschaft soll die moderne Wissenschaft ganz zweckfrei nur dem eigenen wissenschaftlichen Anliegen folgen, ohne sich die Frage vorzulegen, welche „Mächte“ sich ihrer Erkenntnisse zu welchen „Zwecken“ bedienen und welchen Menschengruppen und Völkern sie damit welche „Lebensprobleme“ bereitet. Gerade so hat sich die Wissenschaft im Kapitalismus zur Produktivkraft von Staats- und Geldmacht entwickelt: Wissenschaftler, die von materiellen Sorgen befreit sind, sich deswegen ganz frei ihrer Wissenschaft widmen können und sollen, dürfen es sich obendrein als positives Markenzeichen ihres Berufs anheften, dass sie dadurch gerade frei von jedem Einfluss auf die praktische Verwendung ihrer wissenschaftlichen Einsichten, dieses Einflusses also los und ledig sind.
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Gibt es da ein schönes Beispiel, wo sich die Wissenschaft als „normal“ und „natürlich“ beschreibt?
@ Robinato
„Der Allgemeine Fakultätentag (AFT), die Fakultätentage und der Deutsche Hochschulverband (DHV) haben unter Einbeziehung der fachspezifischen Besonderheiten und Belange gemeinsame, für alle Wissenschaftsdisziplinen geltende Grundsätze guter wissenschaftlicher Praxis für das Verfassen wissenschaftlicher Qualifikationsarbeiten (Bachelorarbeit, Masterarbeit, Dissertation und Habilitationsschrift) formuliert. Diese Grundsätze seien als Handreichungen für Prüfer und Prüflinge, Wissenschaftler und Studierende konzipiert, da die Wissenschaft angesichts von Plagiats- und Fälschungsaffären der Selbstvergewisserung bedürfe.“
http://www.hochschulverband.de/cms1/pressemitteilung+M57957527988.html
“ … für alle Wissenschaftsdisziplinen geltende Grundsätze guter wissenschaftlicher Praxis …“ – Sinn dieser Vergewisserung soll sein, das, was eigentlich bekannt sein sollte, bekannt zu machen. Die Tatsache, dass angesichts des Problemfalls, hier: Plagiatsaffären, eigentlich die Frage aufkommen müsste, wenn doch offensichtlich nicht bekannt ist, was bekannt sein sollte, wie es nur kommen konnte, dass unklar ist, was unklar ist. Denn dass klar wäre, was klar sein sollte, kann man nicht feststellen.
Da aber diese Frage nicht gestellt wird, so kann man daraus schließen, dass unklar bleiben soll, was eigentlich der Selbstauskunft nach klar ist, nämlich: „gute wissenschaftliche Praxis“. Es soll unklar bleiben was das heißt: „gute wissenschaftliche Praxis“, damit die Selbstverständlichkeiten, die offensichtlich keine sind, denn sonst gäbe es keinen Anlass sich über diese zu vergewissern, selbstverständlich bleiben, ohne klären zu müssen, was alles noch soll.
Das ist gemeint mit meiner Formulierung: „Denn die Gründe verweisen ihrerseits auf Probleme von Problemen, über die die Wissenschaft selbst aufgrund ihrer eigenen Normalitätserfahrung nur selten gut informiert ist“
Es soll eben egal sein, was doch noch soll, weil dadurch ganz ideal gerechtfertigt wird, was unerklärbar ist und als solches auch unerklärbar bleiben soll. Denn alle Rechtfertigung unter der Voraussetzung gesicherter Anschlussbedingungen, die wesentlich die Vermeidung des Beobachtwerdens selbstwidersprücherlicher Beobachter garantieren, gelingt spielend umso besser, wenn eben diese Anschlussbedingungen durch Empfehlung ihrer Wiederholung akzeptiert werden: Du hast nicht verstanden was ich meine? Kein Problem, lass uns darüber reden – beim nächsten Mal! Die Rechtfertigung gelingt umso besser, wenn der Beobachter, der sich zu rechfertigen hat, jederzeit die Möglichkeit nutzen kann und darf, das Gespräch auf eine nächste Gelegenheit zu verschieben. Macht besteht darin, dass diese Möglichkeit nur einer von zwei Beobachtern nutzen darf, nämlich derjenige, der das Scheitern der Rechtfertigung erwarten und durch Verschiebung erneuern darf, ohne selbst dadurch benachteiligt zu werden. Rechtfertigung ist das konsequenzenlose Recht zu scheitern und das Recht, sich jederzeit auf diese Konsequenzenlosigkeit wieder einzulassen.
Die Durchsetzung einer anschlussfähigen Kontingenzformel darf bei funktionierenden Machtverhältnissen nicht jeder in Anspruch nehmen. Macht unter der Bedingung von Garantie- und Vermeidungssstrukturen der modernen Gesellschaft besagt, dass zwar jeder hat die Möglichkeit hat, Blödsinn zu reden (oder zu schreiben), aber nur einer die Möglichkeit nutzen kann, sich für denjenigen unerreichbar zu machen, der Rechtfertigung fordern darf. So gelingt Rechtfertigung ganz leicht: Fortsetzung der Kommunikation, die nicht nur die Bedingung anderer Strukturen gestellt werden kann.
Und wenn sich diese Strukturexklusion ereignet, ereignet sich eine Normalitätserfahrung, die sich auch irritationslos als ihre „Natur“ in Erfahrung bringen lässt – Es geht dann nicht anders, also mus es so weiter gehen.
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